EDITH

U nsere Welt besteht aus Zonen, die übereinanderliegen, wie Geschosse in einem Haus. Wo eine Zone endet und die andere anfängt, kann man an den Bäumen, Blumen und Sträuchern sehen, die in ihnen wachsen. Ganz unten zum Beispiel, wo Jesse und Rebekka zur Schule gehen, gibt es Felder und Obstbäume. Darüber liegt die Zone mit dem Wald, wo einige Bäume bis zu dreißig Meter in den Himmel wachsen. Je höher man kommt, desto kälter wird es und desto kleiner werden die Bäume, bis es ganz oben, am Waldrand, nur noch Bäume und Sträucher gibt, die so klein sind wie ich.

Man muss durch alle diese Zonen durch, um vom Dorf in unsere Siedlung zu kommen, 1800 Meter über dem Meer. Das mit dem Meer habe ich auswendig gelernt, ich finde es eigentlich komisch, dass man die Höhe unserer Welt an etwas abmisst, das so weit von uns entfernt ist. Ich habe das Meer nie gesehen und kann mir auch nicht vorstellen, dass es besonders schön ist. Mein Papa hat es mir mal vorgemacht, wie das Meer ist, als sich Regenwasser in unserem Trog gesammelt hat. Er hat den Trog hin und her geschwenkt, und das Wasser hat geschwappt, nach rechts und nach links, schwapp, schwapp. Und mein Papa hat hinter dem Trog gehockt und ihn immer stärker geschwenkt. Er hat erklärt, dass das Meer nicht nur schwappt, sondern auch rauscht. Wie ein aufziehender Sturm in den Bäumen. Dann hat er es vorgemacht, mit dem Mund. Und dass es viele Menschen und Kinder gibt, da am Meer, hat er gesagt, die alle schreien und Lärm machen. Und weil das Meer das nicht mag, packt es die Kinder und zieht sie in die Tiefe, sodass sie ertrinken. Auch das hat er mir vorgemacht, mein Papa. Obwohl ich gar nicht laut war, hat er mich gepackt und in den eiskalten Trog geworfen und dann unter Wasser gedrückt, bis ich keine Luft mehr bekommen habe. Ich habe gestrampelt und geprustet und gehustet. «So ist es am Meer», hat mein Papa gesagt, als ich wieder oben war. Und dass ich froh sein soll, auf dem Berg zu wohnen.

Die Menschen sind ein bisschen schwieriger einzuschätzen als die Pflanzen, aber man kommt mit ihnen klar, wenn man versteht, dass man sie letztendlich auch in die Zonen einteilen kann, in denen sie am besten gedeihen. Jesse zum Beispiel ist am liebsten im Wald. Und mein Papa fühlt sich in der Zone mit der Bergsiedlung am wohlsten. So wohl fühlt er sich, dass er sie fast nie verlässt – um keinen Höhenmeter nach oben oder nach unten. Meistens ist es Jesse, der uns etwas aus Almenen mitbringt, wenn wir etwas brauchen, und selbst als mein Papa den faulen Zahn hatte, hat er sich nicht dazu bewegen lassen, zum Doktor in die Stadt zu gehen. Mein Papa ist wie ein Korken auf dem Wasser, er ploppt immer wieder hoch, wenn man versucht, ihn runterzudrücken. Er hat sich einfach mit einem Arm an der Bank vor unserer Hütte festgebunden und mir gesagt, ich soll eine Zange aus dem Schuppen holen. Dann hat er auf seinen faulen Zahn gezeigt und mir erklärt: «So etwas wie ein Arzt ist totaler Quatsch, Edith, wir können das alleine, du und ich.» Und dann hat er gesagt, dass ich ihm vorsichtshalber auch noch den zweiten Arm an der Bank festbinden soll, damit er nicht aus Versehen um sich haut und mich trifft, wenn ich für ihn der Zahnarzt bin. Es braucht ganz schön viel Kraft, um so einen Zahn aus dem Mund zu reißen. Ich musste mich mit einem Fuß richtig gegen die Bank stemmen, an der mein Papa festgebunden war wie der gekreuzigte Herr Jesus. Aber ich bin stark. Als der Zahn dann endlich ganz in der Zange und nicht mehr in Papas Mund gesteckt hat, bin ich nach hinten gestolpert und auf meinen Hintern gefallen, so fest hat der faule Zahn gesessen. Mein Papa hat recht gehabt. So ein Arzt ist totaler Quatsch, genau wie die Schule. Wir können das alleine, er und ich.

Meine Zone jedenfalls ist ganz oben, in der Zone mit dem Fels und dem Eis, wo Pilze und Flechten und Moose und ganz seltene Blumenarten wachsen und wo es still ist. Man muss immer schön still sein, wenn man überleben will. Ich taste nach dem Zettel, den ich unter mein T-Shirt und in meinen Hosenbund geschoben habe. Die Kinder haben ihn nicht bemerkt, als sie mich geschubst haben, und das ist gut, denn der Zettel ist nicht für sie. Aber ich hätte trotzdem vorsichtiger sein sollen, als ich zur Schule geschlichen bin und durch das Fenster gespäht habe. Ich mache eine Faust und haue mir damit gegen den Kopf, dreimal und sehr fest, wie man es machen muss, wenn man etwas falsch gemacht hat. Eins! Zwei! Drei! Wenn es nicht wehtut, dann war es für die Katz, dann hat man nix gelernt. Man muss immer feste zuhauen, wenn jemand etwas lernen soll.