E s ist Bürgermeister Hofer selbst, der mir die Tür öffnet. Ich weiß nicht, warum ich etwas anderes erwartet habe. Vielleicht, weil Bürgermeister in meiner Vorstellung eine Haushälterin haben und Schärpen mit Orden dran tragen. Bürgermeister Hofer aber trägt lediglich eine weite Stoffhose, eine Strickweste und einfache Hausschuhe. Er ist ein älterer Herr und erstaunt, mich zu sehen, bittet mich aber gleich herein.
Ich musste mich bei meiner Ankunft in Almenen erst daran gewöhnen, dass jederzeit jemand vor der Haustür stehen kann, und bin eigentlich immer noch verblüfft, wie einfach das System funktioniert: Um jemanden zu treffen, muss man nicht vorher anrufen oder wochenlang auf einen Termin warten. Man kommt vorbei und klingelt. Ist die Person nicht zu Hause, versucht man es eben später noch mal. So einfach ist das. Mit der Abstimmung über Doodle-, Google- und diverse andere Onlineplaner, die einem angeblich die Terminfindung erleichtern sollen, habe ich es in der Stadt gerade mal alle paar Wochen geschafft, meine Freunde zu sehen. Und das liegt nicht daran, dass wir mehr gearbeitet hätten. Sie arbeiten genug, die Leute auf dem Land. Das kann ich jeden Tag sehen.
Das Haus der Hofers sieht von innen aus wie ein landeskundliches Museum. Der Boden, die Wände und die Decken im Wohnzimmer sind holzvertäfelt. Alle Möbel wirken antik, ich zweifle nicht daran, dass sie schon seit Generationen in diesem Haus stehen. Über dem Tisch hängt ein Kronleuchter – kein prunkvolles, protziges Ding, eher in der Art, wie man ihn in einem alten Jagdschloss erwarten würde. Die Wände sind mit gerahmten Fotos behangen. Auf den meisten ist Hofer mit seinem Sohn zu sehen – Martin, wenn ich mich richtig erinnere – und mit einer Frau, der ich in Almenen noch nie begegnet bin. Vielleicht haben sie sich getrennt, oder sie ist gestorben. Ich hätte mich vorher darüber informieren sollen, um in kein Fettnäpfchen zu treten.
«Ich habe gerade Kaffee gekocht. Und Kuchen ist auch da. Möchten Sie ein Stück?»
Ich lächle. Wo immer man in Almenen zu Besuch ist, kann man sich sicher sein, dass der Gastgeber gerade frischen Kaffee und mindestens einen Kuchen zur Auswahl bereitstehen hat.
«Gern», sage ich, und während Hofer in die Küche geht, betrachte ich die Bilder an den Wänden genauer. Es sind auch Urkunden darunter und alte Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Männer mit Zylinder, Stock und Uhrenketten unter schwarzen Fracks auf einer Treppe drapiert stehen. Auf einem anderen, sehr verwaschenen Bild ist ein Mann in Bergausrüstung bei einer Gipfelbesteigung zu sehen.
«Das ist mein Vater», sagt Hofer, der plötzlich wieder hinter mir steht. «Ebenfalls ein Bürgermeister von Almenen. Der Gletscher, den er da besteigt, heißt ‹Obere Schwärze›. Ein unbändiges Biest.» Er lächelt. «Es ist die verschneite, dunkle Spitze, die Sie vom Dorfplatz aus rechts neben dem Kirchturm sehen.»
Ich nicke, als würde ich mich erinnern. Um ehrlich zu sein, erscheinen mir die Berge hier noch alle gleich. An einem Nachmittag habe ich versucht, eine kleine Runde spazieren zu gehen, aber in allen Richtungen steigt der Weg so steil, dass aus dem Spaziergang eine Bergwanderung wird. Wir sind geradezu eingekesselt von Zweitausendern.
«Wollen wir?» Auf dem Wohnzimmertisch stehen eine Kanne Kaffee und zwei Stück Kuchen auf geblümten Tellern. Nusskuchen, nehme ich an. Und garantiert Vollkorn, so wie alles in diesem Ort. Die Brote und Kuchen hier sind nicht mit denen vergleichbar, die ich aus meiner Heimat gewohnt bin. Sie sind immer schwer und dunkel, wie die Atmosphäre in den Häusern, wie das alte Ledersofa, auf das Hofer jetzt einladend deutet. Ich setze mich, und er lässt sich im Sessel mir gegenüber nieder. Das Leder ist kalt.
«Haben Sie sich bei uns in Almenen schon gut eingelebt? Das muss ja wirklich eine Umstellung für einen Großstadtmenschen sein.»
«Eine Umstellung, ja», gebe ich zu. «Aber es sind ja alle sehr nett, da fällt das Einleben leicht.»
Ich vermeide zu erwähnen, dass «alle» nicht die älteren Damen im Dorf mit einschließt, deren vielsagende Blicke mich gleich in den ersten Tagen eine neue Kleiderordnung gelehrt haben. Oder die Eltern meiner Schüler, die meinen Unterrichtsmethoden und Neuerungen allesamt skeptisch gegenüberstehen. Wahrscheinlich weiß Hofer sogar davon, denn in einem Ort, der so klein wie dieser ist, existiert jedes Wissen nur kollektiv.
«Und das Haus der Karlsens?», fragt er. «Brauchen Sie da noch Hilfe bei irgendwelchen Reparaturen?»
Unwillkürlich denke ich an die kaputten Jalousien, das defekte Licht im Bad, den tropfenden Duschkopf und den Herd, der nicht funktioniert, weswegen ich seit zwei Wochen nur kalte Küche esse, und sage: «Danke, ich komme schon zurecht.»
Er zieht die Augenbrauen hoch. «Wirklich, wenn Sie Hilfe brauchen, wir haben da einige Männer im Dorf, die mit anpacken können. Das Haus stand immerhin schon eine ganze Weile leer.»
Ich stelle mir vor, wie mich meine Nachbarn in dem Hochhaus, in dem ich vorher gewohnt habe, angesehen hätten, wenn ich bei ihnen geklingelt und sie gefragt hätte, ob sie mir mal den Herd in der Küche reparieren könnten. Tatsächlich habe ich mit den meisten von ihnen nicht ein einziges Mal gesprochen.
«Also, um ehrlich zu sein, gibt es ein paar Dinge. Aber ich habe eine Firma beauftragt, die jemanden schicken will.»
«Von außerhalb?», fragt Hofer in einem Ton, als stehe das völlig außer Frage. Ich lächle.
«Ja. Es ist bisher aber noch niemand aufgetaucht.»
«Das wundert mich nicht.» Er sticht in seinen Kuchen. «Was ist denn defekt?»
Ich muss lachen. «Also – so ziemlich alles?»
«Sie hätten früher kommen sollen. Ich schicke jemanden zu Ihnen.»
«Danke, das ist wirklich nett.» Ich schiebe mir ebenfalls ein Stück Kuchen in den Mund. Er schmeckt nach dunklem, nussigem Mehl.
«Wir möchten doch, dass Sie sich bei uns wohlfühlen und lange bleiben. Für die Kinder an der Schule ist ein ständiger Wechsel nichts.»
Vor Schreck atme ich einen Krümel ein und muss husten. Entgegen der Vorstellung des Bürgermeisters habe ich absolut nicht vor, lange in Almenen zu bleiben. Tatsächlich bin ich überhaupt nur hier, weil ich gegen meinen Willen versetzt wurde, an einen «ruhigeren» Ort. Wegen der «posttraumatischen Störung».
Es hatte einen Amoklauf an meiner Schule gegeben, bei dem ich die Geisel meines eigenen Schülers war. Neun Stunden in Gewalt eines psychisch labilen und frustrierten Fünfzehnjährigen, der illegal an eine Schusswaffe gelangt war und bei jedem Pausenklingeln eine weitere Person im Lehrerzimmer abknallte. Der tragischste Amoklauf in der Geschichte des Landes.
Mein Gesicht war letztes Jahr, als sich das Drama ereignete, in allen Zeitungen, betitelt als «Opfer Nummer neunzehn», die Nächste, die an der Reihe gewesen wäre. Der Lauf seiner Pistole saß schon an meiner Schläfe, als die Polizei den Jungen kurz vor dem neunzehnten Klingeln endlich überwältigen konnte. Ich wurde zur tragischen Heldin der Boulevardpresse und jede meiner Bewegungen in der Schule neu interpretiert.
Sicher kennt Hofer meine Vorgeschichte und denkt, ich hätte nach einer solchen Erfahrung keinen Bedarf, überhaupt je wieder an eine große Schule zurückzukehren. Aber da irrt er sich. Ich bin ein Stadtmensch, durch und durch. Hier auf dem Land, zwischen Kühen und Bergen und Vollkornprodukten, fühle ich mich wie ein Fremdkörper.
«Wo wir schon von den Schülern sprechen», sage ich und nutze die Gelegenheit, um auf den eigentlichen Grund meines Besuchs zu kommen. «Es gibt da einen Schüler, von dem ich glaube, dass er auf eine weiterführende Schule gehen sollte. In der Stadt.»
Ich ziehe die Kopien aus meiner Tasche, die ich von Jesses Aufsätzen gemacht habe, und lege sie zwischen die Kuchenteller auf den Tisch. Hofer beugt sich interessiert vor.
«Seine Leistungen in der Schule sind in allen Fächern überdurchschnittlich», sage ich. «Aber besonders seine Aufsätze sind einfach … beeindruckend. Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Siebzehnjähriger sich so ausdrücken kann.»
«Und um wen handelt es sich, wenn ich fragen darf?»
«Sein Name ist Jesse Glanzer.»
Der Blick des Bürgermeisters schießt nach oben, er sieht mich einen Moment sprachlos an. Dann nimmt er die Aufsätze vom Tisch und lehnt sich zurück, um sie eingehender zu lesen. Sein Gesicht verschwindet vollständig hinter dem Papier.
«Sie wissen, dass Jesse von dieser Siedlung …»
«Jakobsleiter», unterbricht Hofer mich, ohne die Blätter zu senken. «Natürlich weiß ich das. Ich bin als Bürgermeister für beide Orte zuständig.»
«Dann wissen Sie vielleicht auch, dass die Kinder dieser Siedlung, Jesse und Rebekka – nun, dass da jegliche Unterlagen fehlen, die man eigentlich bräuchte, um an dieser Schule angemeldet zu sein, und …»
Er hebt die Hand, und ich schweige irritiert, während er die Aufsätze weiterstudiert. Er blättert und liest. Liest jeden Satz, wie mir scheint.
«Wirklich außergewöhnlich», sagt er schließlich. Er klingt fast stolz. Ich nicke.
«Darum würde ich Jesse auch wirklich gerne an einer Schule anmelden, an der sein Talent gefördert wird. Aber ohne gültige Dokumente kann ich ihm nicht einmal mit den Bewerbungsunterlagen helfen. So wie die Dinge jetzt stehen, hat er ja offiziell kein einziges Schuljahr absolviert!»
«Tja …» Endlich lässt Bürgermeister Hofer die Aufsätze sinken. Er kratzt sich am Hinterkopf. «Das wird in der Tat ein wenig schwierig. Wir haben eine besondere Abmachung getroffen, damit die Eltern in Jakobsleiter überhaupt zustimmen, ihre Kinder in eine staatliche Schule zu geben.»
«Eine besondere Abmachung?»
«Sehen Sie, in Täufergemeinden werden die Kinder normalerweise auf spezielle Täuferschulen geschickt. Da es so etwas in Jakobsleiter nicht gibt, haben wir die Eltern überreden müssen, die Kinder für die Dauer ihrer Schulpflicht zu uns zu schicken. Es hat einiges gebraucht, um sie zu überzeugen. Und da wollte sie wohl niemand obendrein noch mit unnötigem Papierkram ärgern.»
«Mit unnötigem Papierkram? Herr Hofer, ich rede ja hier nicht von so kleinlichen Dingen wie dem Nachweis einer Schuleignungsprüfung – obwohl der ehrlich gesagt auch notwendig wäre. Aber ich habe ja nicht mal die Kopie der Schulanmeldung, geschweige denn eines Ausweises! Weder von den Kindern noch von den Erziehungsberechtigten!»
«… die wir hier Eltern nennen», sagt Hofer ruhig. Ich starre ihn an. Will er mich jetzt wirklich als Paragrafenreiter hinstellen?
Geradezu liebevoll legt Hofer die Aufsätze zusammen und platziert sie auf der Armlehne seines Sessels. «Schauen Sie, Frau Bender. Ich weiß Ihre Bemühungen um unsere Kinder wirklich zu schätzen. Aber auf dem Dorf läuft es eben ein bisschen anders als in der Stadt. Hier brauchen wir nicht hundert Dokumente, wenn man doch sowieso weiß, dass ein Kind zur Schule geht und wo es herkommt. So etwas macht in der Anonymität einer Stadt Sinn. Aber doch nicht bei uns.»
«Nun, wenn ich Jesse an dieser externen Schule anmelden soll …»
«Sollen Sie das denn?», fragt Hofer. «Haben Sie mit Jesse gesprochen? Will er das überhaupt?»
«Na ja …»
«Und selbst wenn er es wollte», Hofer seufzt und widmet sich wieder seinem Kuchen. «Ich fürchte, dass wir Probleme bekommen werden, sobald es an die Überzeugung der Eltern geht. Und wie sollte der Junge denn überhaupt von Jakobsleiter jeden Tag zur Schule in die Stadt kommen?»
«Nun, ich hatte gedacht, dass ein Internat vielleicht die beste Idee wäre. Es gibt da eine sehr gute Internatsschule in …»
«Ein Internat?» Hofer sieht mich mit großen Augen an, dann legt er die Kuchengabel zurück auf den Teller und tupft sich mit einer Serviette den Mund ab. «Das halte ich leider wirklich für ausgeschlossen.»
Ich versuche gar nicht erst, meine Enttäuschung zu verbergen. Vorhin, als Hofer so interessiert Jesses Aufsätze studiert hat, habe ich wirklich gehofft, ich hätte in dieser Sache einen Verbündeten gewonnen.
«Kennen Sie sich mit der Geschichte der Täuferbewegungen aus, Frau Bender?»
«Nicht sehr.»
«Nun, es ist eine traurige Geschichte voll Unterdrückung und Mord, die in so ziemlich allen Teilen Europas gleich grausam abgelaufen ist. Zum Ursprung des Ganzen gibt es viele Theorien, aber wenn Sie meine Meinung hören wollen, lag es einfach daran, dass eine kleine Gruppe ihr Leben anders leben und an etwas anderes glauben wollte als die breite Bevölkerung. Das übliche Motiv also. An den Verfolgungen war neben den staatlichen Behörden auch die römisch-katholische Kirche beteiligt. Man jagte die Täufer von ihren Grundstücken, steckte diese in Brand. Andere wurden einfach wie ungewollte Katzenjunge im Fluss ersäuft. Später kamen Hinrichtungen und Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen dazu. Einige Täufer schafften es, in die Berge zu fliehen, wo sie sich eine Zeit lang in Höhlen versteckten. Aber dann wurden sogenannte ‹Täuferjäger› eingesetzt, um sie aufzuspüren. Ein damals ehrwürdiger Beruf.» Hofer steht auf und tritt an sein Regal, aus dem er einen dicken Wälzer herauszieht. Das Buch ist alt und wiegt gefühlt eine Tonne, als er es mir mit beiden Händen über den Tisch reicht. «Wenn Sie die Einzelheiten dieser Taten interessieren, empfehle ich Ihnen, dieses Kompendium zu lesen», sagt er. «Man hat die Täufer damals so weit getrieben, dass der letzte klägliche Rest von ihnen mit Schiffen nach Übersee geflohen ist. Sie leben jetzt in Kommunen in Amerika oder Kanada. Offiziell gibt es also gar keine Täufer mehr in Europa, zumindest keine, die im konfessionellen Sinne den Alttäufern zuzurechnen wären. Aber inoffiziell», er macht eine bedeutungsvolle Pause, in der er zur Zimmerdecke deutet, «inoffiziell wohnt nun wieder eine letzte Glaubensgemeinschaft dort oben. Es war mein Großvater, der die Siedlung aufgebaut hat, um den Täufern eine Möglichkeit zu geben, in die Wiege ihrer Heimat zurückzukehren. Der Gründungsvater der Brüdergemeinschaft stammt nämlich aus der Region, müssen Sie wissen. Und mein Großvater hat es als seine Aufgabe angesehen, diesen armen Menschen nach allem, was ihre Vorfahren durchmachen mussten, ein Schutzpatron zu sein. Diese Aufgabe ist an meinen Vater übergegangen. Und von meinem Vater an mich. Und eines Tages wird sie an meinen Sohn Martin übergehen.» Wieder sehe ich diesen Stolz in seinen Augen, wie vorhin, als er Jesses Aufsätze zur Hand nahm und lobte. Ihm scheint wirklich etwas an dem Jungen zu liegen, denke ich, und darin sehe ich eine Chance.
Ich sage: «Gehört es denn nicht auch zu so einem sozialen Wiedereingliederungsprojekt, dass man den Menschen die Möglichkeit auf angemessene Bildung gibt? Und dazu, ihr Leben zu leben, wie sie es wollen? Jesse könnte nach der Schule studieren und einen Beruf ergreifen, der ihn erfüllt!»
«Sie haben das nicht richtig verstanden, Frau Bender. Hier geht es nicht um Wiedereingliederung. Es geht darum, endlich Schutz und Frieden zu finden. Und Schutz und Frieden gibt es nur hier bei uns.»
Der letzte Satz hängt bedeutungsschwer im Raum, wie das Ende einer Predigt. Einen Moment lang fehlen mir die Worte. Ich glaube ihm, dass er es nur gut meint. Bürgermeister Hofer will seinen Schutz wie eine Decke um die Siedlung legen. Aber was ist dieser Schutz wert, wenn er die Stimmen der Menschen, ihre Identität und Wünsche und Zukunftsperspektiven unter der Decke erstickt?
«Mal angenommen, ich könnte Jesses Eltern überzeugen, ihren Sohn trotz ihrer Glaubensgrundsätze auf eine weiterführende Schule zu schicken», sage ich schließlich vorsichtig, «dann wäre das von Amts wegen her aber schon möglich, oder?»
Hofer legt den Kopf schief und betrachtet mich. «Was meinen Sie damit?»
«Ich meine, ob Jesse überhaupt einen Ausweis hat. Ob seine Eltern Ausweise haben. Ob sie irgendwo gemeldet sind!»
Hofer wischt mit der Hand durch die Luft. «Natürlich sind sie gemeldet!», sagt er. «Ich habe eine Aufstellung jedes einzelnen Bewohners der Siedlung in einem Dokument in meinem Schreibtisch, wenn Sie sie sehen wollen.»
Darauf erwidere ich nichts. Die Einfachheit – oder soll ich sagen Naivität? –, mit der das Leben hier gelebt wird, macht mich sprachlos. Plötzlich glaube ich zu verstehen, warum die Menschen im Dorf allen Fremden mit Argwohn begegnen. Die Ordnung in dieser kleinen, eigensinnigen Welt funktioniert nur, solange keiner kommt und sich einmischt. Solange ein Hofer das Amt des Bürgermeisters an den nächsten Hofer abtritt und dieser wieder an den nächsten und so weiter, wie in einer Erbmonarchie.
Und dann kommt jemand wie ich. Ich bin erst ein paar Wochen hier und verhalte mich genauso, wie alle es von einer Städterin befürchten.
«Herr Hofer?» Eine leise Stimme von der Wohnzimmertür. Wir wenden uns um. Sie gehört einer zierlichen Frau um die vierzig, mit einer altmodischen Schürze um die Hüfte. Der harte Zug um ihren Mund lässt mich erahnen, dass sie resoluter ist, als sie auf den ersten Blick aussieht.
Hofer steht auf. «Ich komme sofort, danke.»
Er sieht mich schuldbewusst an, doch ich winke ab und schiebe das letzte Stück Kuchen in den Mund, bevor ich ebenfalls aufstehe.
«Ich wollte sowieso gerade gehen», sage ich und greife nach den Aufsätzen, um sie wieder in meiner Tasche zu verstauen. Doch Hofer hebt zögernd die Hand.
«Würde es Ihnen etwas ausmachen … die dazulassen?»
Ich bin erstaunt, nicke aber. «Wenn Sie wollen, ja. Gut.»
«Danke. Und Sie – nehmen Sie doch im Gegenzug gerne das Buch mit.»
Ich nicke erneut und klemme mir das dicke Geschichtsbuch unter den Arm, bevor ich meine Tasche schultere.
«Tut mir leid, dass ich Sie so hinauswerfe», sagt er. Es klingt ehrlich zerknirscht und überhaupt nicht wie eine Floskel. Bürgermeister Hofer mag ein kleiner Monarch in seiner eigens geschaffenen Dorfwelt sein. Aber er ist alles andere als unsympathisch.
«Ach was, ich bitte Sie! Ich bin ja völlig unangemeldet gekommen», sage ich. Doch als er die Tür für mich öffnet und ich schon auf der Schwelle stehe, fällt mir doch noch etwas ein, das mir unter den Nägeln brennt. Ich wende mich um. «Nur eine Sache noch. Dieses Mädchen, das mit Jesse durch das Dorf läuft … wie alt ist sie?»
Ein verwirrter Ausdruck schleicht sich in Hofers Augen. «Tut mir leid, ich weiß gerade nicht, wen Sie meinen.»
«Schwarze, etwas verfilzte Haare. Barfuß. Sie sieht ein bisschen … verlottert aus, wenn ich das so sagen darf.»
Der verwirrte Ausdruck in seinem Gesicht verstärkt sich. Er schüttelt den Kopf, zum Zeichen dafür, dass er noch immer nicht weiß, von wem ich rede.
«Sie muss auch aus der Siedlung sein», setze ich nach. «Ich frage nur, weil ich – nun ja, weil ich den Eindruck hatte, dass sie längst im schulfähigen Alter ist?» Ich stelle die Frage behutsam. Nach allem, was ich gerade erfahren habe, scheint es mir ratsam, meine kleinen Revolten in diesem Dorf etwas vorsichtiger zu dosieren. Dabei bin ich mir eigentlich sehr sicher, dass das Mädchen älter als sechs ist und nur deshalb nicht zur Schule geschickt wird, weil die Eltern sie nicht lassen. Ein Umstand, den ich ebenfalls ändern will.
«Ich weiß wirklich nicht …», stammelt Hofer. «Jesse und Rebekka sind die einzigen schulpflichtigen Kinder in Jakobsleiter. Vielleicht war es ein Mädchen aus Almenen?»
Ich runzle die Stirn. Ich habe das Mädchen nie zuvor in Almenen gesehen. Es war mit Jesse unterwegs. Und so wie es aussah, passt es für mich gar nicht ins Bild dieser gepflegten Dorfwelt.
«Vielleicht», sage ich trotzdem. Dann drehe ich mich um und gehe zurück nach Hause. Vielleicht hat Direktor Sommer recht, und ich sehe wirklich Gespenster. Aber mich beschleicht der Verdacht, dass dieses Dorf und die Siedlung am Berg noch mehr zu verheimlichen haben als nur ein paar vertuschte Identitäten.