E s läuft auf allen Fernsehkanälen: das «Verbrechernest am Berg», aufgedeckt durch die investigative Recherche einer jungen, aufstrebenden Volontärin.
Das bin ich jetzt für sie, Juli. Eine aufstrebende Volontärin. Als hätte mir je etwas daran gelegen, mehr in dieser Redaktion zu erreichen als das bloße Ende meines Volontariats.
Das «Verbrechernest» ist jetzt zum geflügelten Wort geworden, es ist die Schlagzeile in der Lokalpresse, den Boulevardblättern und sogar der überregionalen Presse. Für den Tourismus machen sich diese Schlagzeilen natürlich gar nicht gut, zumindest nicht, bis das Nest ausgeräuchert sein wird und man es dann vermarkten kann, wie die ehemalige Kulisse eines Spielfilms. Warum die Veröffentlichung des Videos damals vereitelt wurde, ist Mario übrigens ziemlich egal. Er ist der Meinung, dass die Kassette, so kurz nach dem Verschwinden von Laura Bender, genau zum richtigen Zeitpunkt ans Licht gekommen ist. Wie du dir vorstellen kannst, bin ich da anderer Ansicht, Juli.
Selbst jene, die im Fall Laura Bender zuvor noch an einen Suizid geglaubt haben, spekulieren jetzt darüber, was das mysteriöse Verschwinden des Amokopfers Nr. 19 mit der Siedlung am Berg zu tun haben könnte. Ich versuche ja, nicht in das gleiche Muster zu verfallen, Juli. Aber wenn ich die Bilder der Frauen und Mädchen in meinem Zimmer betrachte, die über Jahre alle im weiteren Umkreis dieses Berges verschwunden sind, dann fällt es mir schwer, der Theorie, dass der Täter unter den ehemaligen Häftlingen auf diesem Berg sein könnte, nicht zumindest eine Möglichkeit einzuräumen. Und damit frage ich mich natürlich: Was hätte alles verhindert werden können, wenn dieses Video früher ans Licht gekommen wäre?
Ich schiebe zwei Fotos auf der Wäscheleine zusammen, mache Platz für das Bild von Laura Bender und rolle dann die Landkarte aus, die ich im Internet bestellt habe. Ich hefte die Karte über das Bett und markiere mit Stecknadeln die Orte, an denen die Vermissten verschwunden sind. Deine Stecknadel ist hellblau, Juli. Deine Lieblingsfarbe. Die Nadel steckt genau eine Kinderzeigefingerlänge entfernt von dem Berg. Ich betrachte sie und nehme dann die nächste Nadel aus dem Kästchen, streiche die Karte glatt, als es an meiner Zimmertür klopft.
«Herein», sage ich, den Stecknadelkopf im Mund. Ich weiß bereits, dass es mein Vater ist. Meine Mutter klopft nie an. Ich drehe mich zu ihm um, als er den Kopf ins Zimmer steckt. Der Rest von ihm bleibt im Flur. Er zieht die Augenbrauen hoch.
«Hier sieht es ja aus wie in einem Kriminalbüro.»
«Gut.» Ich nehme die Nadel aus dem Mund, platziere sie und drücke sie tiefer in die Wand.
Mein Vater sagt: «Ich hab schon zwei verrückte Weibsbilder zu Hause. Deine Mutter sitzt in ihrem Büro und ist nicht ansprechbar, weil sie Kriminalfälle erfindet, und du …», er deutet hilflos auf die Karte. «Was ist das?»
«Das ist unsere Bergregion.»
«Das sehe ich. Und die Markierungen …?»
«… sind alle Stellen, an denen in den letzten zehn Jahren junge Mädchen und Frauen verschwunden sind.» Mein Vater nickt hilflos. So etwas hatte er offensichtlich befürchtet.
«Na, was soll man auch erwarten. Du bist ja jetzt unter die aufstrebenden Journalistinnen gegangen, nicht? Da muss man eben dranbleiben und die nächste große Sache aufdecken.»
«Papa», ich verdrehe die Augen, und er hebt beschwichtigend die Hände.
«Schon gut! Ich wollte auch eigentlich nur fragen, ob du Abendessen willst. Ich hab Bratkartoffeln mit Speck angebraten. Zur Feier des Tages.»
«Welche Feier?»
«Na, dass meine Tochter ihren ersten großen Durchbruch beim Fernsehen geschafft hat! Mama und ich haben dich in den Nachrichten gesehen.»
«Wo ich vielleicht zehn Sekunden auf Sendung war, Papa. Und das auch nur, weil keiner aktuelle Aufnahmen vom Berg bekommen hat.»
Verschiedene Teams haben versucht, zur Siedlung hochzusteigen und Aufnahmen zu machen. Sie sind aber gescheitert, weil der Berg einfach zu steil und unwegsam war, um das ganze Kameraequipment mitzuschleppen.
Mein Vater zuckt die Schultern. «Na, immerhin. Zehn Sekunden in den nationalen Nachrichten. Das hat aus unserer Familie noch niemand geschafft. Also was ist jetzt mit dem Essen?»
«Später.»
«Später sind die Kartoffeln entweder kalt oder schwarz.»
«Ich tippe auf schwarz.»
Mein Vater streckt alarmiert die Nase in die Luft, als hätte er vor seiner Rente nicht als Kommissar, sondern als Polizeihund gearbeitet. Dann flucht er laut und rennt nach unten.
«Tür zu!», rufe ich, aber da ist er schon weg. Meine Zimmertür lässt er offen.
Du siehst, hier zu Hause ist alles wie immer, Juli. Würdest du zurückkommen – würde es nur eine Möglichkeit geben, dich zurückzuholen –, du würdest mir recht geben.
Meine Eltern haben eine Zeit lang zusammen mit mir um dich getrauert, denn sie mochten dich wirklich, ich glaube, das weißt du. Aber dann haben sie einfach begonnen, ihr altes Leben weiterzuleben, so wie alle um mich herum es getan haben. Als sei die Lücke, die du hinterlassen hast, für sie einfach zugewachsen, und nach einem Moment der Schreckstarre hat sich die Welt weitergedreht. Nur ich sehe die Lücke immer noch, Juli. Sie wächst nicht zu, und ich vergesse auch nicht irgendwann, dass sie da ist, so wie man es mir damals in der Therapie versprochen hat. Ich falle, im Gegenteil, manchmal in die Schwärze hinein, wenn ich nicht aufpasse. Das nennt man Schuldgefühl, hat man mir in der Therapie gesagt. Das gehe vorbei. Ich nenne es Liebe. Und die geht niemals vorbei.