I ch begreife es nur langsam. Angefangen damit, dass der fremde Polizist meinen Vater fragt, ob er Gregor Eisner sei: «Gregor Eisner?», sagt er und hebt den Blick von seinem Block, auf dem offensichtlich noch ein paar weitere Notizen und Fragen stehen, ich habe keine Ahnung, welche. Ich erwarte, dass mein Vater das Missverständnis aufklärt. Aber er nickt. Er nickt, und dabei heißt er doch gar nicht Gregor Eisner, sondern Gabriel Glanzer. Gregor, den Namen gibt es in der Siedlung überhaupt nicht. Hier gibt es nur Namen aus der Bibel.
Ich sehe mich nach Kommissar Hofer um, der vor dem Eingang von Abels Hütte steht und ihm vermutlich die gleichen Fragen stellt wie der fremde Polizist nun meinem Vater: «Wo waren Sie in der Nacht, als Frau Bender verschwand?»
«Na hier», sagt mein Vater.
Wo soll er auch gewesen sein? Es hat gewittert, wir waren alle die ganze Nacht hier oben. In unseren Hütten. Oder? Mein Blick wandert von Kommissar Hofer zu der Hütte, in der Edith und ihr Vater wohnen.
Ediths Vater ist einer der wenigen, die nicht vor der Tür stehen. Er ist überhaupt nirgendwo zu sehen. Auch Edith, die vorhin noch mit mir bei den Ziegen stand, ist verschwunden. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl, als ich daran denke, wie Ediths Vater Frau Bender am Arm gepackt hat.
«Und Ihre Frau?», fragt der Polizist.
«Die ist krank», sagt mein Vater, «schon seit Langem.» Der Polizist schielt skeptisch an ihm vorbei in die Hütte, sicherlich ohne etwas sehen zu können. Innen ist es immer dunkel, die Fensterschlitze lassen zu wenig Licht herein. Wenn man am helllichten Tag von draußen hineingeht, ist es, als betrete man eine Bärenhöhle. Das Gesicht des Polizisten lässt keinen Zweifel daran, was er von unserer Behausung hält.
«Und das?», sagt er jetzt und dreht sich zu mir um. «Ist das Ihr Sohn?» Er winkt mich näher heran, und ich folge dem Befehl irritiert.
«Wie heißt du?»
«Jesse Glanzer», sage ich, und der Polizist sucht meinen Namen auf seiner Liste. Er sucht und sucht, und schließlich räuspert sich mein Vater und korrigiert: «Eisner. Jesse Eisner.»
Jetzt erst wird der Polizist fündig. «Du bist einer von Frau Benders Schülern», stellt er fest. Doch ich sehe meinen Vater an, der den Blick abwendet und auf den Boden schaut, als wäre er ein kleines Kind.
«Du weißt, in welcher Nacht deine Lehrerin verschwunden ist?»
«Ja», sage ich.
«Und wo warst du?»
«Zu Hause.»
«Kannst du bestätigen, dass dein Vater ebenfalls zu Hause war? Die ganze Nacht?»
Ich bin verunsichert. Mein Vater hat einen anderen Namen. Ich habe einen anderen Namen. Was kann ich da schon mit Sicherheit bestätigen? Ich habe nicht nachgesehen, ob mein Vater in der Gewitternacht wirklich im Bett gelegen hat. Und was weiß ich, wo alle anderen waren? Wir sind eine Siedlung von Einzelgängern. Erst als Vater von den Füßen aufsieht, als er mir ins Gesicht sieht, mache ich den Mund auf.
«Die ganze Nacht», bestätige ich.
Der Polizist brummt etwas, dann steckt er den Block weg. «War Ihr Sohn eigentlich im Bilde?», fragt er Vater. Ich blinzle irritiert, und als Vater nicht antwortet, wendet der Polizist sich wieder an mich: «Wusstest du es, oder haben sie selbst euch Kindern das Märchen von der religiösen Bruderschaft verkauft?» Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Das Märchen von der religiösen Bruderschaft? Aber wir sind eine religiöse Bruderschaft! Eine der alten Sorte. Die letzte, die es in Europa noch gibt!
«Wovon reden Sie?», flüstere ich, und der Polizist schüttelt bedauernd den Kopf.
«Nicht mal Ihre eigenen Kinder haben Sie eingeweiht, Herr Eisner?», fragt er, und dann, weil mein Vater noch immer nicht die Zähne auseinanderbekommt, sagt er zu mir: «Dein Papa ist ein Gesetzesbrecher. Ein Knast-Exi. Wie alle hier.» Er streckt das Kinn vor und sieht meinen Vater provozierend an, wartet auf eine Reaktion, die nicht kommt. Mein Vater steht einfach mit hängenden Schultern da, und ich bin wie vom Donner gerührt. Ich glaube noch immer fest daran, dass das Ganze ein Missverständnis sein muss.
Also erkläre ich: «Jakobsleiter wurde 1889 als Täufergemeinde gegründet, damit die vertriebenen Täufer in ihre Heimat zurückkönnen.»
«Genau», schnaubt der Polizist. «Und mein Vater war Jesus von Nazareth.»
Warum sagt er das? Und warum sagt mein Vater noch immer nichts? Warum verteidigt er sich nicht gegen diese Anschuldigung, die nicht wahr sein kann, nicht wahr sein darf – denn das würde bedeuten, dass er ein Verbrecher ist. Mehr noch, dass alles, was er mir je erzählt hat, eine Lüge ist!
«Der einzige Grund, warum ihr hier lebt, ist, weil ihr nirgendwo mehr aufgenommen werdet. Wer will schon den Gartenzaun mit Knastbrüdern und Zuchthäuslern teilen?», fragt der Polizist, der nun ein gewisses Vergnügen an der Sache zu haben scheint.
«Ich war nie im Zuchthaus», knurrt mein Vater. Mehr nicht. Von allen Behauptungen, die der Polizist mitgebracht hat, ist das die einzige, auf die mein Vater etwas zu erwidern hat.
Der Berg, meine Welt, bekommt plötzlich einen Riss, der sich unkontrolliert schnell verbreitert. Wie bei einer instabilen Schneedecke, die abreißt und eine Lawine am Hang auslöst.
«Na, ich glaube, da gibt es noch einiges, was ausgesprochen werden muss», sagt der Polizist zufrieden. Er dreht sich um, als sei seine Pflicht damit erfüllt, und geht zum nächsten Haus. Er weiß ja nicht, dass Jakobsleiter kein Ort ist, an dem man Dinge ausspricht.
Vater vermeidet es, mich anzusehen, als er sich abwendet und ins Haus humpelt. Ich gehe ihm nicht nach, frage ihn nicht nach Einzelheiten. Ich frage auch Kommissar Hofer nicht, als dieser nach der Befragung der anderen Einwohner zu mir kommt und mir tröstend auf die Schulter klopft. Ich bekomme das Klopfen nur am Rande mit, denn ich stehe noch immer stocksteif da und starre die Hütte des Fremden an, der einmal mein Vater war. Der Fremde, der ohne ein Wort zurück ins Haus gegangen ist und die Tür geschlossen hat. Gregor Eisner.
«Tut mir leid», sagt Kommissar Hofer, der gerade selber nicht gut aussieht. «Ich hätte euch das gerne erspart.» Er klopft noch einmal und senkt dann die Stimme. «An der Sache mit Rebekka bin ich übrigens dran», raunt er, und das ist immerhin ein Satz, der es durch die Watte in meinem Kopf schafft. Ich löse mich aus meiner Starre und wende ihm das Gesicht zu. Er sagt: «Ich habe den Namen und die Adresse des Installateurs herausgefunden, der die Antenne aufgebaut hat, und den Kerl direkt angerufen. Rebekka ist bei ihm, es geht ihr gut.»
Meine Augen weiten sich.
«Am Telefon klang der Kerl erst mal ganz anständig», fährt Kommissar Hofer fort, «und ich habe ihn überprüft. Vorbestraft ist er auch nicht. Das ist doch schon mal was, oder?»
Ich nicke zögerlich. Nicht vorbestraft. Das ist doch schon mal was. Das ist doch schon mal mehr, als man von meinem Vater und eigentlich allen hier oben behaupten kann.
«Wenn du möchtest, sehe ich in den nächsten Tagen aber auch noch mal persönlich bei der Adresse vorbei», sagt Kommissar Hofer. «Es ist nur im Moment viel zu tun, wegen der Ermittlungen.» Er sieht zerknirscht aus. Mir fällt auf, dass er eine dicke Sorgenfalte auf der Stirn hat, vermutlich wegen Frau Bender. «Wir müssen sie einfach finden!» Ich wundere mich darüber, wie verzweifelt er klingt. Vielleicht kannte er Frau Bender. Vielleicht mochte er sie.
Ich nicke. «Danke», sage ich.
Der Kommissar klopft mir ein drittes Mal auf die Schulter, und als er und sein Kollege gehen, nehmen sie unsere Religion mit. Diese angebliche Religion, die uns zusammenhält. Die Geschichte unserer großartigen Vorfahren. Sie nehmen alles mit, was es an Geschichten und Märchen bei uns einmal gegeben hat, und lassen eine kahle, feindselige Siedlung zurück. Mein Blick wandert zur Kapelle, die jetzt nur noch eine Attrappe ist, genau wie unsere Religion und unser Priester, den ich nirgends entdecken kann. Er ist, wie Edith und ihr Vater, von der Bildfläche verschwunden, als der Polizeihubschrauber angekommen ist. Was hat er zu verbergen? Und was hat mein Vater zu verbergen? Hat meine Mutter es gewusst, als sie aus Almenen für ihn hierhergezogen ist? Hat er es ihr später erzählt? Und hat sie vielleicht deshalb versucht, aus diesem Ort zu fliehen?
Die Hüttentür geht auf, und Vater tritt heraus. Er sieht mich dastehen beziehungsweise den Scherbenhaufen, der von mir übrig geblieben ist. Aber auch Vater wirkt gebrochen. Er lässt die Schultern hängen. Ich erwarte, dass er den ersten Schritt tut. Dass er zu mir kommt und etwas sagt, dass er zumindest «Jesse!» sagt. Aber mein Name hat gerade, wie alles andere auch, die Bedeutung verloren.
Jesse, das ist ein biblischer Name und bedeutet «Geschenk Gottes». Aber hier gibt es gar keinen Gott. Hier gibt es nur eine Siedlung mit Menschen, die nirgends sonst einen Platz finden, weil sie in ihrer Vergangenheit Schlimmes angestellt haben. Weil niemand mit einem Verbrecher Garten an Garten leben will, so wie der Polizist es gesagt hat. Es ist ganz egal, wie lange jemand für seine Straftat im Gefängnis gesessen hat. Ein Gefängnis löscht ja nicht die Taten aus, die man begangen hat. Es löscht nicht aus, wer jemand ist. Das zeigt sich schon daran, dass die beiden Polizisten hier waren und nach Alibis für jene Nacht gefragt haben. Eine Gefängnisstrafe mag befristet sein, aber die Brandmarkung des Verbrechers ist es nicht.
Wie lange hat Vater gesessen? Was muss man eigentlich tun, um ins Gefängnis zu kommen? Das passiert doch nicht, weil jemand mal eine CD in einem Geschäft einsteckt, oder? Mord, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Entführung, Raubüberfälle, solche Dinge fallen mir da ein. Würde ich es aushalten, zu wissen, dass mein Vater ein Mörder ist?
Er wendet sich ab, humpelt hinter die Hütte, und obwohl ich noch vor wenigen Sekunden die feste Absicht hatte, ihn nicht so einfach davonkommen zu lassen, nicht diesmal, lasse ich ihn gehen. Zu seinem Schutz, zu meinem, ich weiß es nicht. Ich kann ihn nicht danach fragen, zumindest nicht heute. Es sind genug Scherben für einen Tag.
Plötzlich fällt mir wieder ein, mit welcher Feindseligkeit die Leute hier oben Frau Bender begegnet sind. Dass mein Vater sie eine Schlampe genannt hat. Ich zweifle nicht daran, dass alle der Meinung waren, dieser Städterin müsse man die Leviten lesen, bevor sie wirklich mit dem Jugendamt oder sonst wem bei uns auftaucht.
Die Städterin. Eine dieser Bösen, die nur lügen und prügeln und schikanieren, so wie man das in der Stadt eben tut. Die den Kopf meiner Mutter zu Brei geschlagen haben. Ist das nicht Beweis genug, dass immerhin diese Geschichte stimmt? Mein Blick wandert zu unserer Hütte, die in Wahrheit nur ein weiteres Gefängnis ist, mitten in den Bergen. Die Wahrheit. Was ist das eigentlich? Welche Wahrheiten kenne ich schon, wenn nicht mal meine Identität stimmt, nicht die Identität des Ortes, an dem ich lebe, und nicht die meines Vaters?
Eine Hitze kriecht mir in den Nacken. Ein Gedanke, der sich nicht bis ganz in meinen Kopf vortraut, weil dort jetzt nur noch Chaos herrscht. Ein Gedanke, der mit dem Tag zu tun hat, an dem mein Vater meine Mutter nach Hause gebracht hat, mit ihrem zerschlagenen Gesicht und einem angetrockneten Rinnsal Blut, das sich aus ihrem linken Ohr bis über die Wange zog. Er habe sie gerade noch gerettet, hat mein Vater gesagt. Vor den bösen Städtern, die Mama krank gemacht haben.
Die bösen Städter. Wenn alles an Jakobsleiter eine Lüge ist, was stimmt dann von dem, was ich über die Stadt gelernt habe?
Wo wohnt das Böse wirklich?
Der Polizist, der meinen Vater und mich befragt hat, hat gemeint, es handele sich um eine reine Standardüberprüfung. Eine reine Standardüberprüfung. Aber eine, die man in anderen Dörfern und Siedlungen sicherlich nicht durchgeführt hat. Weil man weiß, wo man nach dem Bösen suchen muss.
Ich bin Jesse Eisner, Sohn eines Verbrechers, und das Böse wohnt in mir. Das ist die Wahrheit.