W er in der Stadt lebt, vergisst leicht, wie dunkel eine Nacht sein kann. Dass es Nächte gibt, die Straßen fressen, indem sie den Asphalt auflösen. Die alles in eine zähe, teerartige Masse verwandeln, gegen die nicht einmal ein Autoscheinwerfer ankommt. Ich stelle den Scheibenwischer auf eine höhere Stufe. Der Regen macht die Fahrt nicht leichter. Auf der Suche nach der Fahrbahnmarkierung beuge ich mich über das Lenkrad. Neben mir, auf dem Beifahrersitz, liegt mein Handy und versucht mich zu navigieren. Aber dort, wo ich herumfahre, gibt es auf der Karte nicht einmal eine Straße. Ich bin ein Punkt, der über eine graue Fläche irrt. Wobei grau tatsächlich eine willkommene Abwechslung zu der Schwärze um mich herum wäre.
Frustriert nehme ich das Handy vom Sitz und halte es höher, strecke es in Richtung Windschutzscheibe, als könne das Navigationssystem so besser die Straße sehen. Völlig sinnlos natürlich. Bescheuert! Genauso bescheuert wie die Idee, nach Redaktionsschluss überhaupt noch einen Abstecher in diese Gegend zu machen. Was habe ich erwartet? Selbst wenn ich mich nicht verfahren hätte, wäre ich wahrscheinlich erst im Dunkeln angekommen. Dabei sollte ich doch wissen, dass Entfernungen wegen der Serpentinenstraßen immer weiter sind, als es auf der Karte aussieht.
Ich habe mich von dem Berg in die Irre locken lassen, Juli. Wie in der griechischen Sage, in der die Seefahrer vom Gesang der Sirenen angelockt werden und dann am Felsen zerschellen. Die Sirene sitzt auf der Spitze dieses Berges und hat dein Gesicht, Juli. Es war eine Schnapsidee. Ich habe keine Ahnung, was mich geritten hat.
Ich werfe das nutzlose Handy auf den Beifahrersitz zurück. Es ist nur eine Sekunde, in der ich nicht auf die Straße schaue. Eine Sekunde nur, in der ich abgelenkt bin, weil das Telefon beim Aufprall auf dem Sitz aufleuchtet. Nur ganz kurz schaue ich auf dieses Leuchten, und als ich wieder aufblicke, ist es zu spät. Die Gestalt steht ganz plötzlich da, mitten auf der Straße. Erschrocken trete ich auf die Bremse, trete sie bis zum Anschlag durch. Mein Kopf fliegt nach vorn, der Anschnallgurt schneidet in meine Schulter. Ich höre etwas rumpeln, am Frontteil oder unter den Rädern, dann kommt das Auto ruckartig zum Stehen. Ich schnappe nach Luft. Regen prasselt auf die Scheibe. Die Scheibenwischer fliegen hin und her.
«Scheiße!», sage ich und schnalle mich ab. Ich will die Tür öffnen, rausspringen, um zu überprüfen, wen oder was ich da erwischt habe, um gegebenenfalls Erste Hilfe zu leisten, da sehe ich etwas direkt vor mir im Regen stehen, im Licht der Scheinwerfer. Aber erst als ich mich vorbeuge und die Augen zusammenkneife, erkenne ich, dass es ein Mädchen ist. Sie ist vielleicht acht oder neun Jahre alt und steht keinen Meter vor meinem Auto in einem durchnässten, für dieses Wetter völlig unpassenden Kleid da. Stocksteif blickt sie ins Licht. Wie ein verschrecktes Reh. In dieser Gegend kennen wir uns mit Wildtierunfällen aus. Statt vor dem Auto zu fliehen, bleiben Rehe einfach stehen, wenn das Fahrzeug kommt, weil alles außer dem blendenden Licht aus ihrer Wahrnehmung verschwindet. Genauso verhält sich dieses Mädchen. Wie ein Wildtier, denke ich, und es ist wahrscheinlich albern, dass ich deshalb eine Gänsehaut bekomme. Es muss an dieser Gegend liegen, an dem Wetter und daran, dass irgendwo hier in den Bergen eine Siedlung voller Verbrecher versteckt ist. Ein Verbrechernest.
Ich atme durch. Das hier ist kein Schwerverbrecher, sondern ein Kind. Die Kleine steht wahrscheinlich einfach unter Schock. Ich selbst stehe ja auch unter Schock, so sehr wie ich zittere! Als ich die Tür öffne, merke ich, dass meine Schulter dort, wo der Gurt bei der Bremsung eingeschnitten hat, wehtut. Einen Meter weiter, und ich hätte sie umgefahren! Noch immer zitternd, setze ich einen Fuß auf die Straße, stehe nun halb in der geöffneten Fahrertür und halb im Regen, der immer stärker wird.
«Hey!», rufe ich. «Hey, alles in Ordnung mit dir? Hast du dich verlaufen?»
Sie antwortet nicht. Ich trete nun auch mit dem zweiten Fuß auf die Straße, steige ganz aus dem Auto aus und in den Regen, mache zwei Schritte auf sie zu.
«Wo sind deine Eltern?» Ich gehe vor ihr in die Hocke. Dieses Kleid! So etwas trägt man doch heute nicht mehr. Das Mädchen wirkt völlig aus der Zeit gefallen. Da sie noch immer nicht reagiert, folge ich ihrem Blick. Sie schaut gar nicht wirklich in die Scheinwerfer, sondern auf das, was darunterliegt. Erschrocken springe ich auf und reiße die Hand vor den Mund. Ich habe mich doch nicht geirrt, als ich das Rumpeln gespürt habe! Ich habe etwas angefahren, einen grauen Hund, einen Husky, der wahrscheinlich dem Mädchen gehört!
«Oh Gott, das tut mir leid», keuche ich, springe vor und knie mich neben den Husky auf die regennasse Fahrbahn. Nur dass es kein Husky ist, wie ich jetzt sehe. Es ist ein Wolf.
Ein Wolf, Juli? Ich fahre herum, blicke das durchnässte Mädchen an. Was hat das alles zu bedeuten? Was macht sie hier zusammen mit dem Wolf? Wieso tauchen sie in dieser gottverlassenen Gegend aus dem Nichts auf, ausgerechnet hier, wo kein Mensch wohnt? Ein Mädchen und ein Wolf. Wie aus einem Märchenbuch.
Ich reiße meinen Blick los, zwinge mich, mich auf das zu konzentrieren, was jetzt zu tun ist. Ich hatte einen Wildunfall. Ich muss einen Wildhüter anrufen oder zumindest die Polizei. Wölfe stehen bei uns unter Naturschutz. Lebt das Tier noch? Ich habe den Wolf frontal erwischt, aber er liegt vor dem Auto, nicht darunter. Ich kann ihn also erst angefahren haben, als das Auto bereits beinahe stand. Vorsichtig krieche ich ein Stückchen näher an das Tier heran. Es liegt genau unterhalb der Scheinwerfer und – atmet. Deutlich sehe ich, wie die Flanke sich hebt und senkt. Ich springe zurück auf die Beine, laufe zur Beifahrertür, reiße sie auf und suche mein Handy. Beim Bremsen ist es gegen das Handschuhfach geflogen und in den Fußraum gerutscht. Ich wähle hektisch die Nummer der Polizei, aber erst als ich die Frau von der Notrufzentrale bereits am Hörer habe, fällt mir auf, dass ich nicht einmal genaue Angaben dazu machen kann, wo ich mich befinde. Ich habe mich verfahren, bevor der Unfall passiert ist. Ist diese geschlängelte Serpentinenstraße wirklich der Weg, der nach Almenen führen sollte?
«Nehmen Sie das Kind mit ins Auto und fahren Sie bis zu einer Stelle, an der Sie uns einen definitiven Standort nennen können», sagt die Frau von der Notrufzentrale. Es tut gut, eine Person am Ohr zu haben, die mit fester Stimme spricht. Die in einer Situation, die mir derart unwirklich vorkommt, fest, real und bodenständig ist. «Wir schicken jemanden dorthin, und dann können Sie hoffentlich von dort eine Wegbeschreibung geben, wo das angefahrene Tier sich befindet. Braucht das Kind medizinische Versorgung?»
«Nein, das heißt …» Ich blicke durch die Windschutzscheibe auf das Mädchen, das sich noch immer nicht vom Fleck bewegt hat. «Ich weiß es nicht. Sie wirkt verstört und ist – nass.»
«Wir schicken zur Sicherheit auch einen Krankenwagen», sagt die Frau. Ich gebe ihr noch meine Personalien durch, und dann lege ich auf und steige aus, wate durch die Pfützen und den Regen, gehe vor dem Mädchen in die Hocke und bringe mein Gesicht auf ihre Höhe.
«Wie wäre es, wenn wir beide uns jetzt in mein Auto setzen und ich dich zu deinen Eltern zurückbringe? Die machen sich bestimmt schon Sorgen, dass du bei dem Wetter und so spät noch hier draußen unterwegs bist, hm?» Ich berühre sie sanft am Arm und fühle, wie kalt sie bereits ist. Wer weiß, wie lange sie schon in diesem Regen herumläuft. Mir fällt auf, dass ihre Haare verfilzt sind.
«Im Auto ist es trocken und warm», versuche ich es. «Ich mache die Heizung an. Was meinst du? Und ich glaube, ich habe noch einen Schokoriegel im Handschuhfach, den kannst du haben. Schokolade wärmt immer so schön von innen, meinst du nicht?»
Noch immer keine Reaktion. Sie sieht nur weiter den verletzten, schwer atmenden Wolf an. Ich zögere.
«Wegen dem Wolf musst du dir keine Sorgen machen», sage ich. «Es kommt jemand und hilft ihm. Wir müssen nur ein Stückchen zurückfahren, um die Helfer zu treffen, du und ich, in Ordnung?»
Bei ihrem seltsamen Verhalten erwarte ich eigentlich auch jetzt keine Reaktion. Doch zu meiner Überraschung blinzelt das Mädchen plötzlich und sieht mich an.
«In Ordnung?», frage ich noch einmal, stehe auf und strecke ihr eine Hand hin. Sie nimmt sie nicht. Stattdessen geht sie zu dem Wolf, hockt sich vor ihn und schiebt ihre dünnen Arme unter seinen Körper, als wolle sie ihn hochheben.
«Nicht!», rufe ich entsetzt und will sie an der Schulter zurückreißen, doch sie entwindet sich meiner schützenden Hand, schüttelt mich einfach ab und versucht mit allen Kräften, den verletzten Wolf hochzustemmen.
«Es kommt doch jemand und hilft ihm!», versichere ich. Aber die Worte perlen an dem Mädchen ab, nichts scheint für sie zu existieren, nichts außer dem Wolf. Ich fluche, reibe mir den Regen aus dem Gesicht. Und dann hocke ich mich neben sie und helfe ihr, den Wolf vom Boden hochzuheben.
Das Tier wiegt bestimmt dreißig Kilo, und es ist alles andere als einfach, es auf die Rückbank meines alten Fiats zu verfrachten. Die ganze Zeit über frage ich mich, was ich hier eigentlich tue. Ob ich wirklich mit einem Wolf auf meinem Rücksitz Auto fahren will. Von wollen kann wahrscheinlich keine Rede sein. Aber ich tue es trotzdem. Dafür, dass ich endlich aus dem Regen raus- und weg von dieser fürchterlichen schwarzen Gegend komme. Dafür, dass das Mädchen nun widerstandslos neben mir auf den Beifahrersitz klettert und sich von mir anschnallen lässt.
Ich wende den Wagen, was auf der schmalen Straße gar nicht so einfach ist, und fahre in die Richtung zurück, aus der ich gekommen bin. Irgendwohin, wo ich mich wieder auskenne. Ich schaue in den Rückspiegel, beobachte den Wolf, der die Augen geschlossen hat. Sein Kopf wippt mit jeder Unebenheit der Straße mit.
Ein Wolf, Juli! Auf meiner Rückbank! Ich habe bis vor ein paar Tagen nie einen in freier Wildbahn gesehen. Und jetzt gleich zwei, so kurz hintereinander. Oder ist es am Ende ein und derselbe Wolf, der mich zweimal aufgesucht hat? Erst am Faunfelsen und dann ein zweites Mal auf der Bergstraße? Können Wölfe überhaupt so weite Strecken zurücklegen, das sind doch sicherlich … was? Dreißig, vierzig Kilometer? Es ist rational nicht zu erklären, Juli, aber mir ist, als wolle dieser Wolf mir etwas sagen. Als hätte ich seine Botschaft beim ersten Mal nicht verstanden, als müsste er nachdrücklicher werden, müsste mir erst vors Auto laufen, damit ich es kapiere. Aber was kapiere? Was willst du mir sagen, Juli? Hast du den Wolf geschickt? Bist du er?
Das ist doch verrückt. Ich zwinge mich, mich wieder auf die Fahrbahn zu konzentrieren. Ich sehe Gespenster. Dass du mir in deiner Reinkarnation als Wolf vor das Auto läufst, damit ich dich finde. Wer soll mir das abnehmen? Nicht einmal ich selbst kann mir das abnehmen! Ich ertappe mich dabei, wie ich trotzdem wieder in den Rückspiegel sehe, und richte dann fast wütend den Blick auf die Fahrbahn vor mir.
Ein Zusammenstoß an diesem Abend reicht mir. Ich brauche nicht noch weitere Märchengestalten, die aus der Dunkelheit auftauchen.
Um mich abzulenken, versuche ich erneut ein Gespräch mit dem Mädchen anzufangen. Ich frage sie nach ihrem Namen, nach ihren Eltern, aber sie antwortet nicht, blickt nur in den vorbeifliegenden Tunnel aus Schwärze, der sich um das Auto aufbaut.
«Okay, dann reden wir eben nicht», murmele ich und öffne das Handschuhfach, um den versprochenen Schokoriegel für sie herauszuholen. Ich werde der Frau von der Notrufzentrale wohl mitteilen müssen, dass sie lieber einen Tierarzt schicken soll statt des Jägers, der in solchen Fällen normalerweise gerufen wird. Ich habe dem Mädchen versprochen, es käme jemand, um dem Tier zu helfen. Und sie wird kaum verstehen, dass Hilfe für angefahrene Tiere bei uns immer nur in Form einer erlösenden Kugel kommt.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie den Schokoriegel andächtig auswickelt, daran riecht und ihn dann in kleinen Knabberstücken Biss für Biss isst. Was für ein seltsames Kind. Dieses Kleid. Diese Gegend. Der Wolf. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.
Und dabei, Juli, liegt die Antwort, woher sie kommen muss, doch längst auf der Hand.