E s gibt nicht viele Gaststätten in der Nähe der Klinik. Das einzige Restaurant hier im Vorort, ein Italiener, hat keinen Tisch mehr frei, und gegen das McDonald’s an der Autobahnausfahrt wehrt sich Greco vehement. Er hat offenbar seine Prinzipien.
Wir könnten natürlich in die Innenstadt fahren, aber die ist mit dem Auto gute dreißig Minuten entfernt, die Parkplatzsuche nicht mitgerechnet, darum schlägt er schließlich «das Greco» vor. Und ich antworte wie eine Idiotin: «Das Greco?» Weil ich im ersten Moment wirklich denke, es handele sich um einen Griechen, den ich noch nicht kenne.
Er grinst, und da verstehe ich. Ich will ablehnen, Juli, wirklich. Ich habe ebenfalls meine Prinzipien, und eines davon lautet, nicht mit wildfremden Männern nach Hause zu fahren. Die Sache mit dir im Wald hat mich geprägt. Ich bin vorsichtiger als andere Frauen in unserem Alter, das war ich schon während der Schul- und Studienzeit. Außerdem schaue ich zu viele Krimis und Thriller und habe eine Mutter, deren Lieblingsthema Mordkomplotte und Entführungsszenarien sind. Dass einer einen Doktortitel hat und so weiße Zähne wie dieser Greco, heißt überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil, denn dieser hier hat seinen Doktor in Psychologie gemacht. Ich wüsste nicht, welchen Menschen ich weniger trauen würde als Psychologen und Psychiatern.
Aber da ist das Rätsel um dich, Juli. Da ist dieses Mädchen, das allem Anschein nach deine Tochter sein könnte. Und am Ende habe doch ich David Greco aufgegabelt und nicht umgekehrt, oder? Auch wenn jetzt, wo ich wieder in sein Auto steige und wir den Parkplatz des Italieners verlassen, um zu ihm nach Hause fahren, alles anders aussieht. Warum noch mal wollte er mich zum Essen einladen?
Die Frage beschäftigt mich die ganze Fahrt hindurch, die bis auf das Radio in Stille verläuft. Ich schaue ein paarmal nervös auf die Uhr und stelle fest, dass seine Wohnung in Wahrheit auch nicht näher zur Klinik liegt als die Innenstadt. Wir fahren lediglich in die entgegengesetzte Richtung, denn sein Haus liegt im Nirgendwo. Außer dem modernen Bau, in dem Greco wohnt, gibt es rechts und links nur unbebautes Land. Was immerhin stimmt, ist, dass wir hier kein Parkplatzproblem haben. David Grecos Tiefgarage ist so groß, dass sich die Wohnung meiner Eltern bequem darin unterbringen lassen würde. Und dazu so leer und steril wie eine Leichenhalle.
«Wo sind denn Ihre anderen fünf Autos?», frage ich, als ich mich abschnalle, aber er versteht den Witz nicht. Er ist überhaupt ein komischer Typ, Juli. So einer von der Sorte, die auch den obersten Hemdknopf zumachen und wahrscheinlich eine Liste über ihr Haushaltsinventar führen. Ich folge ihm in den Fahrstuhl, der uns in eine Wohnung bringt, die ebenso steril und modern ist wie die Tiefgarage. Sollte David Greco wirklich eine Liste über sein Haushaltsinventar führen, dann ist diese kurz. Ich kann nicht anders, als die Leere hier mit dem chaotischen Sammelsurium an Möbeln, Deko, Jacken, Schuhen und Krimskrams bei uns zu Hause zu vergleichen.
Greco bietet mir Saft aus einem Edelstahlkühlschrank an, er hat Apfel oder Orange. Am liebsten möchte ich ihn fragen, wie alt er mich eigentlich schätzt. Bis vor ein paar Jahren hat man mir im Supermarkt an der Wursttheke immer noch eine Scheibe «Bärchenwurst» angeboten. So in der Art fühle ich mich jetzt auch.
«Orange, danke», sage ich. Das Glas in der Hand, drehe ich eine Runde, um mich umzusehen, während Greco in der Küche verschwindet. Es ist ein Apartment, zu dem eher Rotwein oder Prosecco gepasst hätten. Eine niedrige Couch, ein niedriger Tisch, eine Lampe und ein Flachbildfernseher an der Wand. Interessant, dass man Minimalismus immer genau dort antrifft, wo die Leute das Geld haben, sich eigentlich viel mehr zu leisten. Würde ich meinen Eltern vorschlagen, unser Haus um zwei Drittel der Möbel und des Krimskrams zu erleichtern, der sich dort über Jahrzehnte angehäuft hat, dann würden sie mir einen Vogel zeigen und sagen, das habe doch alles Geld gekostet.
Ich höre Greco aus der Küche mit Töpfen und Kochgeschirr klappern. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Zeichnungen neben einer schwarzen Mappe. Ich trete näher und lege den Kopf schräg, um die oberste zu betrachten. Es ist ein Wald. Beinahe fotografisch. Interessiert beuge ich mich herab und hebe das Blatt Papier an, um auch die darunterliegenden zu betrachten. Blumen, Bäume, Berge, Felsen. Alle mit der gleichen, akribischen Feinarbeit gezeichnet.
Ich spüre eine Bewegung, zucke zusammen und lasse vor Schreck die Bilder los. Sie gleiten unter den Tisch, als ich zu Greco herumfahre. Er steht direkt hinter mir. Jede Freundlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen.
«Sorry», sage ich ertappt, aber da hat er schon einen Schritt an mir vorbeigemacht, hockt sich hin und rafft die heruntergefallenen Zeichnungen zusammen, um sie wieder in die Mappe zu stecken.
«Wie ich sehe, haben Sie bereits gefunden, wonach Sie gesucht haben», sagt er. Und das verwirrt mich so sehr, dass ich gar nicht weiß, was ich darauf antworten soll.
«Es tut mir leid», sage ich deshalb einfach noch mal. «Ich habe nur die Zeichnungen gesehen und fand sie interessant. Ich finde – Sie malen wirklich gut!»
Die Mappe noch auf den Knien, sieht er sich um und blickt mich misstrauisch an. «Warum sind Sie hier?», fragt er.
Ich lächle unsicher. «In erster Linie, weil Sie mich eingeladen haben, oder?»
«Sie brauchen gar nicht so unschuldig zu tun, ich weiß ja, dass Sie von der Presse sind. Haben Sie mich wegen des Mädchens gesucht?»
«Nein!», sage ich prompt, obwohl er damit ja eigentlich den Nagel auf den Kopf getroffen hat.
«Haben Sie Fotos hiervon gemacht?»
«Von den Zeichnungen? Nein!» Und dann dämmert es mir. Nicht Greco hat die Zeichnungen angefertigt, sondern das Mädchen – deine Tochter, Juli. Ich brauche einen Moment, um das zu begreifen. Sie ist erst neun Jahre alt! Da malt man doch eigentlich noch zweidimensionale Männchen mit Rechteckkörpern und Strichbeinchen, oder nicht? Kann eine Neunjährige überhaupt so malen? Aber wenn ich so darüber nachdenke, Juli, dann hast du früher auch immer gern gemalt. Du warst gut in Kunst. Auch wenn es niemals an das Talent dieses Mädchens herangereicht hätte.
In meinem Gesicht muss echte Verwirrung liegen, denn als Greco sich wieder aufrichtet, ist der harte Zug um seinen Mund verschwunden. Er legt die Mappe auf den Wohnzimmertisch zurück.
«Das hier sind vertrauliche Patienteninformationen», sagt er, und ich versichere noch einmal: «Ich habe keine Fotos gemacht.» Ich ziehe sogar das Handy aus der Tasche, um es ihm zu beweisen, aber er winkt ab.
«Hören Sie, ich bin wirklich nicht im Auftrag meiner Redaktion hier», sage ich. «Ich bin da nur die dumme Volontärin vom Dienst, und ich hasse den Job! Außerdem haben Sie mich auf dem Parkplatz aufgesammelt und zu sich eingeladen, nicht umgekehrt, oder?»
«Ja, nachdem Sie mir dort aufgelauert und meinen Wagen kaputt gemacht haben.»
«Und laden Sie jeden, der das tut, zum Abendessen ein?»
«Das ist das erste Mal», sagt er, ohne eine Miene zu verziehen. Dann kratzt er sich im Nacken und betrachtet mich, als würde er seine Entscheidung gerade bereuen.
«Ich habe wirklich gedacht, dass die Zeichnungen von Ihnen sind», sage ich noch einmal. «Aber so oder so, ich hätte sie nicht durchsehen sollen. Tut mir leid.»
In der Küche hören wir etwas zischen. Das Geräusch, das Wasser macht, wenn es überkocht und auf die heiße Herdplatte fließt. Greco dreht sich rasch um und eilt in die Küche.
«Soll ich Ihnen helfen?», rufe ich ihm nach, und als er nicht antwortet, folge ich ihm. Er hat sich Kochhandschuhe übergezogen und gießt einen Topf Nudeln ab. Der Wohnung nach zu urteilen, hätte ich mit Austern, Hummer oder ähnlich Abgefahrenem gerechnet. Aber ich bin froh, dass es etwas gibt, mit dem ich was anfangen kann. Auch hier ist alles sehr steril, sehr aufgeräumt, sehr sauber. Es ist mir ein Rätsel, wie eine Küche so aufgeräumt und sauber sein kann, wenn man doch nicht einmal den Kochprozess abgeschlossen hat. Wenn bei uns zu Hause gekocht wird, sieht es aus wie in einem Kriegsgebiet.
«Ich habe keine Kapern in die Soße getan, weil ich annehme, dass Sie nicht so der Typ dafür sind.» Er sagt das sachlich, als stelle er eine Diagnose, und obwohl er damit ins Schwarze getroffen hat, frage ich mich überrascht, woran man sie wohl erkennt, diese Kapern-Typen.
«Ist das etwas, das man im Psychologiestudium lernt?», frage ich.
«Medizin», korrigiert er.
«Bitte?»
«Ich bin Psychiater, kein Psychologe. Ich habe Medizin studiert und anschließend eine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gemacht. Als Psychologe studiert man Psychologie. Als Psychiater Medizin.»
Ich nicke, obwohl mich diese Feinheit wenig interessiert. Psychologe, Psychiater oder psychisch Kranker – die unterscheiden sich nur durch die Ausbildung. Außerdem bin ich ziemlich überzeugt davon, dass die meisten, die diesen Berufszweig wählen, in Wahrheit sich selbst therapieren wollen. Ich betrachte Greco, der nach außen hin so kontrolliert und professionell wirken will, aber dann ganz spontan eine junge Frau auf dem Parkplatz einsammelt und zum Abendessen einlädt. Wie sieht wohl seine Vergangenheit aus, die er therapieren muss?
Die Stimmung zwischen uns ist angespannt, als wir essen, vermutlich weil keiner von uns so richtig weiß, was er von dem jeweils anderen zu erwarten hat. Ich habe mir vorher nicht überlegt, wie ich das Thema auf das Mädchen bringen soll, und er blockt jeden noch so kleinen Versuch in diese Richtung ab. Er lässt mich vor die Wand laufen, bis ich schließlich aufgebe. Wenn ich hier weiterkommen will, dann muss ich mit der Wahrheit rausrücken.
Ich fasse mir ein Herz, als ich ihm dabei helfe, das Geschirr in die Küche zu bringen. Meine Hilfe hat er natürlich abgewehrt. Das Geschirr könne er auch später abräumen, hat er gemeint. Aber nach allem, was ich inzwischen über ihn weiß, ist mir klar, dass er nicht der Typ ist, der das Ab- oder Aufräumen gerne verschiebt. Um das zu erkennen, brauche ich nicht einmal ein Psychologie- oder Medizinstudium.
«Hat das Mädchen eigentlich auch eine Frau gemalt?», frage ich, als ich die Teller kurz unter fließendes Wasser halte und dann in die Spülmaschine stelle, die glänzt, als sei sie nie benutzt worden.
Er runzelt die Stirn. Ich erwarte, noch einmal darüber aufgeklärt zu werden, dass das vertrauliche Patienteninformationen sind und er nichts davon preisgeben kann. Aber stattdessen trocknet er sich sehr lange und umständlich die Hände ab und fragt schließlich: «Wie kommen Sie darauf?»
Ich hole Luft, drehe mich von der Spülmaschine zu ihm um und sage: «Weil vor zehn Jahren meine beste Freundin entführt wurde und sie genauso aussah wie dieses Kind.»
Jetzt ist es raus, Juli. Ich hatte es niemandem erzählen wollen, bevor ich nicht selbst noch einmal mit dem Kind geredet habe. Ich wurde schon zu oft für alle möglichen Theorien zu deinem Verschwinden für verrückt erklärt.
Greco trocknet sich noch immer die Hände ab, jeden Finger einzeln. Sollte er meine Idee für abwegig halten, dann lässt er es sich zumindest nicht anmerken. Wahrscheinlich kommen ihm bei seiner Arbeit in der Klinik die verrücktesten Leute unter, und er wundert sich über nichts mehr.
«Vor zehn Jahren?», sagt er, und als ich nicke, legt er nachdenklich das Handtuch beiseite. «Das ließe sich doch sicher leicht mit einem DNA -Abgleich herausfinden? Haben Sie denn der Polizei schon von Ihrem Verdacht erzählt?»
«Nein, ich – hatte gehofft, erst einmal mit Ihnen sprechen zu können», sage ich und erwähne lieber nicht, dass ich in der Vergangenheit schon mit zu vielen Verdachtsfällen zur Polizei gelaufen bin. So vielen, dass die Polizei inzwischen sogar aufgehört hat, den Hinweisen überhaupt nachzugehen. «Ich muss einfach wissen, ob sie vielleicht dort oben auf diesem Berg ist, verstehen Sie? Ob sie vielleicht noch lebt!»
Ob du noch lebst, Juli. Wie sich das anhört. Wie sich das anfühlt. Ich habe das vorher noch nie so ausgesprochen. Wenn ich bei den Psychologen und Ärzten auf der Couch gelegen habe, dann ging es immer um Bewältigungsstrategien, wie ich mit deinem Tod klarkommen sollte und mit der Schuld, die ich daran trage. Denn das ist es ja, wovon alle ausgehen. Du musst tot sein, Juli, damit endlich alle damit abschließen können, einschließlich deiner Eltern. Das Einzige, was schlimmer ist als der Tod, ist die Unwissenheit der Hinterbliebenen. Die Vorstellung, dass du vielleicht zehn Jahre mit dem Teufel zusammengelebt hast – darauf gewartet hast, dass wir dich suchen und retten, während hier unten alle die Hoffnung aufgegeben haben –, ist ein schrecklicher Gedanke.
«Sie hat nie eine Frau gemalt», sagt Greco, und ich weiche seinem Blick aus, der sich anpirscht und meine Reaktion beobachtet. Ich mag sie einfach nicht, diese Seelenklempner.
«Möchtest du – über deine Freundin sprechen?», fragt er. Ganz plötzlich ist er zum Du übergegangen. Ich bin jetzt die Frau auf der Couch.
«Nein.»
«Ihr müsst ja noch kleine Kinder gewesen sein, damals.»
«Ich sagte, darüber möchte ich nicht sprechen.»
Er hebt die Hände, zieht sich kaum merklich zurück. Der Naturforscher hat das Tier verschreckt. Jetzt muss er kurz im Dickicht warten, bevor er einen neuen Vorstoß wagen kann.
«Im Übrigen waren wir keine kleinen Kinder, sondern Jugendliche. Sechzehn Jahre», spucke ich aus. «Ich bin inzwischen sechsundzwanzig!»
Darauf sagt er nichts, aber seinem Blick ist anzusehen, dass er mich jünger geschätzt hätte. Vermutlich gerade alt genug, um Auto zu fahren. Und mit meiner Aussage, ich sei noch in der Ausbildung, habe ich ihm diese Einschätzung sicher bestätigt.
«Wollen wir vielleicht zurück ins Wohnzimmer gehen?», fragt er, nun leicht verunsichert. «Und – ein Glas Wein trinken?»
Ich muss lachen, so offensichtlich ist es, wie sich sein Bild von mir gerade verändert hat. Aber es ist ein trauriges Lachen, wie immer, wenn meine Gedanken noch bei dir sind, Juli.
Ich nicke und gehe voran ins Wohnzimmer, und als Greco wenig später mit zwei Gläsern Wein dazukommt, dessen Name und Jahrgang mir nichts sagen, weil ich mich nicht mit Wein auskenne, als wir uns aufs Sofa setzen und sich alles gar nicht nach einer Therapiestunde, sondern einfach nach einem netten Abend anfühlt, da ertappe ich mich dabei, wie ich plötzlich doch von dir erzähle. Ich erzähle ihm, wie du warst und wie ähnlich dir dieses Mädchen ist und dass mir all das nur deshalb nicht früher aufgefallen ist, weil ich zu sehr auf den Wolf konzentriert war. Er nickt und ist überhaupt nicht irritiert von dem, was ich erzähle. Und er sagt auch nach einer Stunde nicht, dass die Zeit jetzt abgelaufen sei und ich doch schon richtig Fortschritte gemacht hätte.
Er wartet einfach ab, bis ich alles gesagt habe, was ich eigentlich gar nicht hatte sagen wollen, kratzt sich dann noch einmal im Nacken und meint schließlich: «Mit anderen Worten: Die Fliegen haben gewechselt, aber die Scheiße ist dieselbe geblieben.»
Ich glaube, wenn dieser Greco kein Psychiater wäre, könnte ich ihn mögen, Juli.