E r hat mich gerettet. Wie falsch das klingt. Er ist mein Entführer, mein Peiniger. Die Verkörperung von allem, was ich inzwischen verabscheue und hasse. Und trotzdem hat er mich gerettet. Ich frage mich, warum.
Er hat zu mir in die Höhle kriechen müssen, um mich da herauszuholen. Das Seil hatte sich irgendwo verhakt, und er musste es lösen.
Stattdessen hätte er mich einfach hängen und verdursten lassen können. Er hätte mich sterben lassen können, an dem übermäßigen Druck in meinem Kopf. Warum zum Teufel hat er mich gerettet?
Vielleicht will er den Ausgang tatsächlich finden. Vielleicht weiß er in Wahrheit gar nicht, ob es sich um eine Höhle oder um einen Tunnel handelt, und er braucht jemanden, um es für ihn herauszufinden. Aber warum gibt er mir dann keine Taschenlampe? Was soll dieses Spielchen mit dem Seil und mit der Zeit, zu dem ich doch ganz offensichtlich nicht tauge? Sieht er nicht, dass ich den Ausgang niemals finden werde? Ich bin nicht die Ratte, die er für seine Spielchen braucht.
Ich liege auf dem Kellerboden, starre auf das Weinregal und lausche auf Schritte, die nicht kommen. Ich glaube, er will mir ein paar Tage Ruhe geben, nach dem, was passiert ist. Ruhe, um zu heilen, was nicht mehr heilbar ist. Denn die Dunkelheit aus dem Schacht ist zu mir in den Keller gezogen. Wann immer ich die Augen schließe, ist sie da. Ich hänge kopfüber in dem Loch und spüre meine Arme und Beine nicht. Ich spüre meinen Atem nicht. Ich versuche zu schreien, und wenn es mir dann endlich gelingt, dann wache ich davon auf und bin schweißgebadet. Ich darf nicht schlafen. Meine einzige Möglichkeit zu heilen besteht darin, mich wach zu halten und, soweit es geht, zu vergessen.
Mein Blick hängt noch immer am Weinregal. Ich zähle die Flaschen, um nicht einzuschlafen. Und auch weil ich einen Plan habe. Unendlich langsam rolle ich mich auf die Seite. Mein ganzer Körper schmerzt, als ich auf das Regal zukrieche. Ich ziehe die erste Flasche aus dem untersten Fach, richte mich auf und schlage den Flaschenkopf gegen das Regal. Beim ersten Mal bleibt die Flasche heil, aber als ich noch mal zuschlage, härter diesmal, da bricht der Hals mit lautem Klirren ab, und die Hälfte des Inhalts spritzt auf meine Kleidung und verteilt sich auf dem Boden. Ich lausche angespannt, ob er das Klirren oben, in seinem Wohnzimmer, gehört hat. Aber alles bleibt still. Ich setze die Lippen an die scharfkantigen Scherben des Flaschenbauchs und gieße den übrig gebliebenen Inhalt in meinen Mund. Ich muss mich zwingen zu schlucken, denn der Gestank ist widerlich. Ich kenne diesen Geruch. Genauso hat es früher bei uns in der Hütte gerochen, wenn ich von der Schule nach Hause gekommen bin. Das war, bevor meine Mutter zu den härteren, durchsichtigen Sachen überging.
Ich ziehe die nächste Flasche aus dem Regal und zerschlage auch sie, wiederhole die Prozedur. Zweiunddreißig Flaschen Wein, das sollte doch genug sein, um zu vergessen, oder? Der Wein klebt an meinen Händen, in meinem Gesicht, auf meinem Kleid. Ich krieche darin herum, verschmiere ihn auf dem Boden, wie meine Mutter ihre Kotzlachen, in denen ich sie beim Nachhausekommen manchmal finde. Wenn sie es wieder mal übertrieben hat mit dem Vergessenwollen. Wer sammelt sie eigentlich jetzt aus diesen Lachen auf, da ich nicht mehr da bin? Dank meiner Mutter weiß ich wenigstens, wie das funktioniert, dieses Vergessen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihr wirklich mal für etwas dankbar sein könnte!
Eine Flasche nach der anderen zerbricht in meinen Händen. Unter den Wein an meiner Hand mischt sich Blut, das kommt von den Scherben. Ich sehe die Schnitte in meiner Handfläche, aber ich spüre sie nicht. Nicht diesen Schmerz und – wie ich jetzt feststelle – auch kaum einen anderen Schmerz mehr. Es macht mir jetzt keine Angst mehr, dass er mich hören könnte. Soll er doch kommen! Soll er doch sehen, was ich mit seinem Keller anstelle! Soll er doch versuchen, wieder seine Spiele mit mir zu spielen! Mich steckt er nicht noch einmal in die Höhle! Mich nicht! Ich schreie es sogar: «Mich kriegst du nicht mehr in die Höhle, hörst du?», und krieche weiter in dem Wein herum, verschmiere ihn diesmal mit voller Absicht und mit beiden Händen auf dem Boden. Male Kreise, wälze mich, und das finde ich nun wirklich lustig. Wie konnte ich Mama nur dafür verachten, dass sie trinkt, wenn das Trinken alles so lustig macht? Wir hätten gemeinsam trinken können, sie und ich.
Ich mache mit den Armen und Beinen weit ausholende Bewegungen auf dem Boden, einen Schneeengel aus Wein. Einen Weinengel! Ich kichere. Auch das ist lustig.
«Du kriegst mich nicht mehr in die Höhle!», kreische ich noch einmal, aber weil die Worte nicht mehr so deutlich aus meinem Mund kommen, klingt es mehr wie «Hölle».
«Hölle, Hölle ….», lalle ich, weil auch das ja irgendwie zutrifft. «Du steckst mich nicht mehr in die Hölle.»
Dann versuche ich, vom Rücken zurück auf die Knie zu kommen und die nächste Flasche zu greifen, verfehle sie aber knapp, so als sei nicht nur meine Zunge im Mund, sondern auch das Regal ein bisschen zur Seite gerutscht. Als weiche es aus. Der Keller beginnt sich zu drehen. Mir ist schwindelig. Ich kippe zur Seite, und jetzt dreht sich nicht nur der Keller, sondern auch mein Magen. Ich kann meinen Kopf gerade noch zur Seite wenden, bevor ich mich übergeben muss und der ungewohnte Mageninhalt sich ebenfalls auf dem Boden verteilt. Ich habe nie zuvor auch nur ein Glas Alkohol getrunken. Aber der Gestank im Keller ist mir so bekannt, erinnert mich so sehr an zu Hause, als würde ich in Wahrheit dort auf dem Fußboden, in der Kotzlache meiner Mutter, hocken und nicht in meiner eigenen. Ich versuche mich noch einmal aufzurichten, doch jetzt sticht etwas in meiner linken Hand. Als ich sie mir nah vor die Augen halte, sehe ich, dass die Spitze einer großen Scherbe darin steckt. Ich packe sie und ziehe sie aus der Handfläche.
«Du kriegst mich nicht», lalle ich noch einmal, mit verschmiertem Gesicht und verklebten Haarsträhnen vor den Augen. Dann umschließe ich die Scherbe mit der Hand, mache eine Faust und rolle mich auf dem Boden zusammen. Soll er doch kommen und mich holen. Ich werde nicht noch einmal in diese Höhle kriechen. Ich habe eine Waffe.