S ie behalten mich über Nacht da, obwohl ich ihnen immer wieder sage, dass ich zurückmuss. Ich soll mich ausruhen. Weil es doch Wahnsinn sei, jetzt in der Nacht noch den Berg hinaufzusteigen, da sei es doch stockduster! Sie sind Städter. Sie haben vergessen, dass es nicht nur elektrisches Licht, sondern auch den Mond gibt. Vielleicht haben sie sogar vergessen, wie die Nacht überhaupt aussieht außerhalb der Stadt. Wenn Tiere sich über viele Generationen hinweg nicht mehr im Dunkeln orientieren müssen, werden sie nachtblind.
Ich liege auf der Seite, weil mein Rücken von den Schlägen mit dem Knüppel schmerzt. Das Bett unter mir fühlt sich fremd an. Alles hier ist hart, weiß, elektrisch. Das Licht, die Rollläden, die Geräte, mit denen sie mich untersuchen. Alles piept und blinkt. Ich fühle mich nicht wohl hier, in den ausgeleuchteten Räumen, in denen kein Krümel Schmutz liegt. Und wie soll ich mich ausruhen, wenn ich mich eigentlich um Mama kümmern muss?
Sie sagen mir ständig, dass schon alles gut werden würde, wenn ich mich nach den Erlebnissen der letzten Tage erst einmal ausgeruht hätte. Aber ich glaube ihnen nicht. Ich weiß nicht, wem ich noch glauben soll.
Meine Augenlider werden zunehmend schwer, und ich reiße sie entschieden wieder auf. Es muss an den Tabletten liegen. Ich hatte zunächst versucht, sie unter der Zunge zu verstecken, um sie später wieder ausspucken zu können. Aber die Schwester, die mir das Döschen mit den Pillen gebracht hat, hat dagestanden und aufgepasst. Ich musste mit Wasser nachspülen, schlucken und den Mund für sie öffnen. Vielleicht hat man ihr gesagt, dass von den Menschen auf dem Berg nur Lug und Betrug zu erwarten ist.
Meine Augen klappen wieder zu. Ich wünsche mich zurück in meine Hütte, wo ich hingehöre. Weg von den vielen Händen, die mich heute ungefragt angefasst und untersucht haben, weg von der Fürsorge der Krankenschwestern, ihren hohen, aufgebrachten Stimmen. Seit ich hier bin, sind keine fünf Minuten vergangen, ohne dass ein neues Gesicht hereinkam, ein neuer weißer Kittel, und ständig hat jemand meinen Rücken sehen wollen, auf meine blauen Flecken und Rippen gedrückt oder auf längst verheilte Schrammen und Macken gezeigt, als seien die das Schlimmste an meiner Situation. Sind die Menschen außerhalb der Berge und Wälder wirklich so naiv?
Ich merke nicht, wie und wann ich den Kampf gegen die Müdigkeit verliere. Aber als mein Körper sich endlich ausruhen darf, falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem ich erst wieder erwache, als jemand mit einem Metallwagen ins Zimmer rumpelt, auf dem das Frühstück steht. Ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Dann richte ich mich erschrocken auf.
«Kann ich gehen?», frage ich. Die Schwester hört auf, mit dem Wagen zu rumpeln, und sieht mich stirnrunzelnd an. Ich denke an Mama, und Panik steigt in mir auf. Ich schlage die Decke zurück und suche im Raum nach meiner Kleidung, aber die Schwester sagt, ich solle erst mal etwas essen und dann müsse auch noch ein Arzt nach mir sehen, um zu entscheiden, ob ich wirklich gehen könne.
«Aber so lange kann ich nicht warten!», sage ich. Woraufhin sie sich immerhin darum bemüht, den Arzt gleich als Erstes zu mir zu schicken. Ich werde nervös, als sie das Zimmer wieder verlässt. Ich habe keine Ahnung von dieser Welt außerhalb der Berge. Zum Beispiel habe ich immer gedacht, das Krankenhaus sei ein Ort, an dem man ist, um gesund zu werden. Dass sie einen festhalten können, wenn sie wollen, und dass sie Fragen stellen und darüber entscheiden können, ob das Leben, in das man zurückkehren will, lebenswert genug ist, habe ich nicht gewusst.
Etwa eine Stunde später kommt endlich eine Ärztin in mein Zimmer, befühlt meine Wunden, leuchtet mir in die Augen und setzt sich dann mit ernster Miene vor mich auf einen Stuhl, um mich zu fragen, ob es mir wirklich gut gehe. Eine lächerliche Frage angesichts meiner Situation.
«Ja», sage ich trotzdem, und sie blickt weiter skeptisch und teilt mir mit, dass ich nicht in die Siedlung zurückmüsse, wenn ich nicht wolle. Es gäbe durchaus andere Möglichkeiten, mich unterzubringen.
«Nein», sage ich. «Nein, vielen Dank», und sie sieht aus, als täte ich ihr leid.
Es ist Martin Hofer, der mich abholt. Als man mich in der Klinik gefragt hat, wer aus meinem Verwandten- und Bekanntenkreis ein Auto hätte, um mich aufzusammeln, da war Hofers Name der einzige, der mir in den Sinn kam. In einem Polizeidienstwagen parkt er direkt vor dem Eingang der Klinik. Ich fühle mich ein bisschen unwohl, als ich in den Wagen steige. Ein Verbrechersohn in einem Polizeiwagen – es kommt mir vor wie ein schlechter Witz.
Auf der Fahrt schaut Hofer mich immer wieder von der Seite an. Er sieht besorgt aus und fragt ständig, ob ich okay sei. Ich kann nur nicken, obwohl das eine Lüge ist. Ich denke über meinen Vater nach. Darüber, dass ich ihn in der Klinik abgeliefert und dann verlassen habe wie ein Verräter. Und darüber, dass ich fast nichts über ihn weiß. Über seine Vergangenheit als Straftäter.
Hofer stellt das Radio an und räuspert sich, um etwas zu sagen, wahrscheinlich ist ihm die Stille unangenehm. Ich habe nie verstanden, warum Menschen das Schweigen unangenehm ist. Dieses Gefühl kennen wir bei uns am Berg nicht, wir sind froh, wenn wir in Ruhe unseren eigenen Gedanken nachhängen können. Es passieren viel mehr Peinlichkeiten und Missverständnisse, wenn man ständig sprechen muss, ein Gespräch in Gang halten muss, und sei es noch so nutzlos. Und das ist doch sehr viel unangenehmer als jedes Schweigen, oder nicht?
Hofer räuspert sich noch einmal. «Die Schweine, die in Jakobsleiter eingefallen sind, bekommen ihr Fett übrigens schon noch weg.» Er hat eine Hand locker auf das Lenkrad gelegt und schaut beim Sprechen immer wieder zu mir rüber, während ich geradeaus starre und mich daran zu gewöhnen versuche, wie schnell wir sind. Dies ist meine erste Autofahrt, wenn man mal von dem Transport im Krankenwagen absieht, bei dem ich hinten saß und nichts gesehen habe. «Dass sie sich vorher betrunken haben, wird ihnen mildernde Umstände einbringen, aber das ändert nichts daran, dass sie wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung drankommen werden. Na ja, zum Glück haben sie selbst ja auch einiges an Prügel abbekommen. Man macht sich eben nicht ganz ungeschoren an einen Ort voller Straftäter heran.»
Er schmunzelt, und ich frage mich, ob er das wirklich witzig findet. Ein Ort voller Straftäter, die einem Pulk betrunkener Randalierer eins auf die Mütze geben. Ist das lustig? Wie kann er überhaupt auf unserer Seite stehen, wo er doch Kommissar ist und wir die Verbrecher? Ich schaue auf meine Knie und meine Schuhe, um nicht in sein Gesicht sehen zu müssen, und dabei fällt mir ein Zettel auf, der halb unter der Fußmatte hervorschaut. Ein kleines, zusammengedrücktes Blatt Papier, dessen Anblick mir einen fürchterlichen Stich versetzt. Ich kenne diesen Zettel! Im nächsten Moment ärgere ich mich selbst darüber, wie bescheuert dieser Gedanke ist. Der Zettel könnte alles Mögliche sein, ein Einkaufszettel, ein Kassenzettel, irgendeine Notiz von Hofer. Ich sehe aus dem Fenster, während der Kommissar erklärt, dass zum Glück keiner der festgenommenen Männer aus Almenen sei – als würde das für mich einen Unterschied machen. Dass es einfach ein Pack von Blödmännern sei, die sich auf Facebook zusammengefunden haben. Ich kann mich weder auf ihn noch auf die vorbeifliegende Landschaft konzentrieren. Alles, woran ich denken kann, ist dieser Zettel. Ich bücke mich in den Fußraum, ziehe ihn unter der Matte hervor und falte ihn auseinander.
Ein Name, Adrian , und eine Telefonnummer, mit Kugelschreiber geschrieben und von schwitzigen Händen und vielem Falten ganz verwischt. Und drei Worte: Ruf mich an. Es ist kaum anzunehmen, dass dieser Adrian die Nachricht für Kommissar Hofer geschrieben hat.
«Was hast du da?», höre ich Hofer fragen und falte den Zettel hektisch wieder zusammen.
Hofer runzelt die Stirn. «Was hast du da?», fragt er noch einmal, streng diesmal. Er ist offensichtlich irritiert von meiner plötzlichen Nervosität. Er schaut auf meine Faust, in der ich den Zettel zusammenpresse, und als er an einer Ampel hält, zögere ich nicht lange. Ich schnalle mich ab, stoße die Tür auf und springe aus dem Auto, um loszurennen, einfach quer auf ein Feld neben der Straße. Meine Rippen tun mir noch immer weh, ich muss sie mit einer Hand festhalten, während ich laufe. Hinter dem Feld sehe ich einen Wald, der nicht unserer sein kann. Aber immerhin ein Wald, ein Versteck, mit Wäldern kenne ich mich aus!
«Jesse!», brüllt Hofer. Ich versuche noch schneller zu rennen, aber meine Lunge fühlt sich wie eingeklemmt an hinter den schmerzenden Rippen. Hofer hat sein Auto ebenfalls verlassen und setzt mir jetzt nach. Ich bin sicher, gleich wird er auf mich schießen, aber das tut er nicht. Er holt mich auch so ein, kurz vorm Waldrand.
«Was ist bloß los mit dir, Junge!» Er reißt mich an der Schulter herum, und ich kann nicht anders, als ihn anzubrüllen, ihm meinen Verdacht ins Gesicht zu brüllen.
«Das ist doch Rebekkas Zettel, oder nicht?», schreie ich und halte das Papier hoch. «Wie kommt Rebekkas Zettel in Ihr Auto? Wann war sie in Ihrem Auto?!» Ich bin wütend, verzweifelt. Ich erwarte, dass er alles abstreitet, vielleicht weil ich mit Lügnern um mich her aufgewachsen bin. Doch Hofer blickt nur fassungslos auf den Zettel und lässt dann resigniert die Arme sinken.
«Komm zurück zum Wagen», sagt er. «Ich werde es dir erklären.»
Er fährt mich zu einem Haus am Waldrand, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Es ist ein ehemaliges Weingut, wie der abblätternde Spruch an der Hauswand verrät: Ohne Wein und ohne Weiber, hol der Teufel unsre Leiber! Hinter dem Haus plätschert ein Bach, und dahinter erhebt sich ein verwilderter Weinhang, der wohl schon seit Generationen nicht mehr bewirtschaftet wird. Das Haus hat einen kleinen Garten, in dessen Mitte ein Birnbaum wächst. Rebekka liebt Birnen. In der großen Pause sind wir in Almenen manchmal welche sammeln gegangen, die an vollen, schweren Birnbaumästen über die Mauern hingen oder bereits abgefallen und auf die Straße gerollt waren. Wir haben sie trotzdem immer nur heimlich eingesteckt. Vielleicht weil wir schon wussten, dass wir im Herzen kleine Diebe sind.
Kommissar Hofer stellt den Wagen ab. Er sieht bedrückt aus und lässt die plötzliche Stille um uns einen Moment bestehen, bevor er spricht. «Sie ist zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich anhand einer Telefonnummer herausfinden kann, wo jemand wohnt. Es war ihr nicht wohl dabei, ihn anzurufen, aber sie wollte hergefahren werden, um mit ihm zu reden. Wir haben uns also für einen Tag verabredet, an dem ich Spätdienst in der Stadt hatte, ich sollte sie herfahren und im Auto warten, bis sie wieder rauskommt und mir Bescheid gibt, dass alles okay ist. Ich habe sie gefragt, ob sie wirklich sicher ist, aber sie war sehr entschieden und hat mir das Versprechen abgenommen, niemandem zu sagen, wo sie ist. Sie ist nicht für den Berg gemacht, Jesse.»
Ich lasse ihn reden, ohne ihn anzusehen, knete an dem Zettel herum, genau wie Rebekka es so oft gemacht hat. Ich bin wütend, weil er mich angelogen hat. Schon wieder einer, der mich angelogen hat. Und natürlich bin ich auch wütend auf Rebekka. Nicht einmal mir hat sie gesagt, dass sie abhauen will und wohin.
«Willst du gar nicht aussteigen?», fragt Hofer, und ich schaue lange aus dem Autofenster, bevor ich mich abschnalle und die Tür öffne. Als ich auf die Haustür zutrete, meine ich in einem der Fenster eine Bewegung zu sehen. Ein Schatten hinter zugezogenen Gardinen, und ich höre einen Wasserkessel pfeifen. Vielleicht frühstücken sie gerade. In einem Leben außerhalb des Berges, in einem normalen Leben also, sitzt man nun vielleicht am Tisch, mit Brot, Aufschnitt, Butter und Birnenmarmelade und zwei Eiern in geblümten Eierbechern. Ich stelle mir vor, wie Rebekka im Schlafanzug, mit einem angezogenen Bein auf einem Stuhl sitzt und glücklich ist. Und dann komme ich, klingele an der Tür und mache alles kaputt. Der Junge aus dem Leben, das sie so erfolgreich hinter sich gelassen hat.
Ich kann es mir bildlich vorstellen. Und in genau diesem Moment verliere ich den Mut. Ich schaue die Klingel an, auf der «Lauder» steht. Adrian Lauder, denke ich, so heißt er also mit vollem Namen und dass Rebekka nun ein neues Leben hat, während ich mir Sorgen gemacht und alles getan habe, um sie zu finden. Sie wollte ganz offensichtlich mit dem Berg abschließen. Und zu dem Berg gehöre auch ich.
Ich stecke die Hand wieder in meine Tasche, gehe zurück zum Wagen und steige wortlos ein. Hofer zieht die Augenbrauen hoch.
«Was ist? Willst du nicht sehen, ob es ihr gut geht?»
Ich schüttele den Kopf.
«Oder ihr wenigstens sagen, dass es dir gut geht? Sie hat den Konflikt zwischen euch und den Dörflern bestimmt in den Nachrichten mitbekommen und macht sich Sorgen.»
«Ach ja?», knurre ich. «Sie hat sich bisher ja auch nicht darum geschert, ob ich mir Sorgen mache. Zum Beispiel darüber, dass sie einfach verschwunden ist, ohne sich von mir zu verabschieden.»
Hofer seufzt. «Menschen tun manchmal Dinge, die sie später be…»
«Ich habe mir Sorgen um sie gemacht!», unterbreche ich ihn. «Und ich hätte sie nie, niemals einfach so zurückgelassen, wie sie mich zurückgelassen hat!» Ich beiße die Zähne zusammen und schaue weder Hofer an noch das Haus. Ich bin nicht wie Rebekka. Ich habe mich nie nach einem Leben außerhalb der Wälder und Berggipfel gesehnt. Ich brauche keinen Birnbaum vor dem Haus, um glücklich zu sein. Und jetzt, wo ich hier bin, will ich einfach nur noch zurück.
«Ich will nach Hause», sage ich zu Hofer, der mich anblickt und wohl darauf wartet, dass ich doch noch meine Meinung ändere. Was ich nicht tue. Sollte Rebekka jemals ihre Meinung ändern, weiß sie, wo sie mich finden kann.
Hofer schüttelt bedauernd den Kopf, startet aber den Motor und lenkt den Wagen zurück auf die Straße. Im Seitenspiegel kann ich sehen, wie Rebekkas neues Leben kleiner und kleiner wird und schließlich vollends verschwindet.