E ine Zeit lang komme ich mit der Wegbeschreibung des Jungen gut voran. Aber irgendwann beginnt der Pfad sich zwischen Steinen und Geröll zu verlieren. Und das Unterholz, durch das ich immer wieder breche, sieht nicht so aus, als sei hier vor Kurzem jemand entlanggegangen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr und überlege, ob ich umkehren und nach der Stelle suchen sollte, an der ich den Pfad möglicherweise verloren habe. Aber die Beschreibung war eigentlich recht eindeutig, ich muss von hier aus nur geradeaus, also beschließe ich, mich noch bis zur oberen Waldgrenze durchzuschlagen, in der Hoffnung, mir dort einen besseren Überblick über das Gelände verschaffen zu können. Dort angekommen, erwartet mich allerdings nur weiteres Geröll und eine Steigung, für die ich die Karte wegstecken muss, um die Hände fürs Klettern frei zu haben. Zwischen den Felsblöcken entdecke ich eine Klamm, aber kein Pfad ist zu sehen. Doch der Junge hat etwas von einem Geröllfeld gesagt, und so halte ich mich einfach am Rand der Klamm, wie er es eingezeichnet hat. Die Klamm ist tief, rechts von mir geht es steil hinunter. Aber Höhen haben mir noch nie Angst gemacht. Ich bin oft mit meinem Vater klettern gewesen.
Mein Handy brummt, und ich halte erstaunt inne und ziehe es aus der Hosentasche. Der ganze Weg durch den Wald war ein einziges Funkloch, aber hier oben habe ich tatsächlich ein kleines bisschen Netz. Es ist Greco, der mich anruft.
«Hallo?», sage ich.
«Sag mir bitte, dass du nicht auf dem Weg nach Jakobsleiter bist! Nach allem, was wir gestern über den Berg und die Sache mit Madreiter besprochen haben!» Die Übertragung ist schlecht und abgehackt, aber ich kann auch so hören, dass er aufgebracht ist.
«Wer – hat dir das gesagt?», frage ich perplex.
«Niemand, ich hab’s gewusst, als ich dich fünfmal nicht erreichen konnte!»
«Ja, ich hab hier kaum Netz», bestätige ich, und plötzlich kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht kein Zufall war, dass die Antenne dort oben in der Siedlung abgefackelt ist. Dass es am Ende vielleicht gar nicht der Mob aus dem Dorf war, sondern jemand, dem etwas daran liegt, in der Vergangenheit zu leben – dem einzigen Ort, an dem einen die Behörden mit ihren modernen Methoden nicht finden können. Wer keinen Internetzugang hat, keinen Social-Media-Account oder auch nur ein einziges aktuelles Foto im Netz, der ist heutzutage praktisch unsichtbar. Dieser Berg, diese in der Vergangenheit verhaftete Siedlung, ist tatsächlich das Beste, was deinem Entführer passieren konnte, Juli.
«Du wolltest mich erreichen? Wieso?»
«Weil ich sichergehen wollte, dass du nicht wandern bist!» Ich finde es ja schon ein bisschen rührend, dass er sich solche Sorgen um mich macht. Aber andererseits auch völlig überflüssig.
«Ich weiß, was ich tue», versichere ich ihm.
«Das weißt du eben nicht! Ich habe dir gestern nicht die ganze Geschichte erzählt!» Bei ihm im Hintergrund brummt und hupt der Stadtverkehr. Greco redet offenbar über die Freisprechanlage mit mir.
«David, tut mir wirklich leid, aber können wir wann anders sprechen? Ich stehe hier mitten in den Bergen an einer Schlucht, ich verstehe dich kaum, und es ist wirklich nicht der beste Moment zu reden, wenn man gerade an einem Abhang balanciert. Und egal was du über diesen Mader oder Madreiter oder wer er auch immer ist, sagst, wird mich sowieso nicht abhalten! Ich habe keine Angst vor Madreiter. Im Gegenteil, ich wünsche mir sogar, dass es Madreiter ist, und weißt du auch, warum? Weil ich zehn Jahre lang nichts anderes wollte, als Julis Entführer gegenüberzustehen! Wenn du so lange auf etwas wartest, dann kannst du gar nicht anders, als dich zu freuen, selbst wenn du eigentlich Angst haben solltest!» Ich hoffe, dass er mich trotz der Verbindung besser verstehen kann als ich ihn, und das muss wohl so sein, denn er lacht freudlos.
«Glaub mir, Smilla, dass Madreiter der Vater ist, ist das Letzte, was du dir wünschst!»
«Und warum das?», frage ich aufgebracht.
«Weil das bedeuten würde, dass das Mädchen auf keinen Fall Julis Tochter ist.»
Ein frühherbstlicher Windstoß fährt durch meine Kleider. Hinter mir fliegt ein Rabe auf. Ich stehe stocksteif da und warte.
«Ich habe dir gestern nicht die ganze Geschichte erzählt», sagt Greco noch einmal. «Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass … ich es noch nicht ganz begreife, und wollte erst in Madreiters Unterlagen in der Klinik nachlesen, um ganz sicherzugehen. … Oder vielleicht wusste ich es doch schon, aber … ich wollte keinen Streit mit dir heraufbeschwören.»
«David, wovon redest du?», unterbreche ich ihn unwirsch.
Durch das Telefon kann ich hören, wie er Luft holt: «Kurz bevor Madreiter damals abgetaucht ist, stand er plötzlich vor der Tür seines ersten Vergewaltigungsopfers, also der Frau, die Madreiter die Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten eingebrockt hatte. ‹Um sein Kind abzuholen›, wie er sagte. Emma. Sie war zu jenem Zeitpunkt etwa ein Jahr alt.»
Ich stehe noch immer reglos da und presse das Handy gegen mein Ohr, obwohl ich es am liebsten davongeschleudert hätte.
«Als die Frau nach der Vergewaltigung schwanger geworden war, hatte sie gegen den Wunsch der Familie darauf bestanden, das Baby zu behalten», fährt Greco fort. «Das war der einzige Grund, warum Madreiter nicht nachholte, was er verpasst hatte, und das sagte er ihr auch an dem Tag, als er Emma mitnahm: ‹Ich lasse dich nur am Leben, weil du mein Kind ausgetragen hast. Jetzt sind wir quitt.›»
Quitt. In mir regt sich Widerstand. Zuallererst gegen diesen Mann, der denkt, es gäbe irgendetwas, das eine Vergewaltigung und Kindesentführung aufwiegen könnte. Dann auch Widerstand gegen die Geschichte selbst.
«Ich habe sie aber erkannt», sage ich stur. «Dieses Mädchen ist Julis Tochter!»
«Ich möchte deine Wahrnehmung ja gar nicht anzweifeln», sagt er, und bei mir klingeln sofort die Alarmglocken, weil ich diese Worte schon kenne. Psychologen und Ärzte sprechen immer von Wahrnehmung , wenn sie sagen wollen, dass man ja nichts dafür könne, wenn man die Welt falsch sähe, aber für Spinner halten sie einen trotzdem. Greco fährt fort: «Hast du dir denn nicht mal überlegt, dass das alles mit Juli und ihrer Tochter nur eine Geschichte sein könnte, die du dir im Kopf zurechtgelegt hast? Weil du dir so sehr wünschst, sie zu finden, dass du allen Puzzlesteinen eine Bedeutung gibst, damit sie auf jeden Fall in dein Bild passen? Was ich sagen möchte, ist, dass du möglicherweise übersiehst, was auf den Puzzlesteinen wirklich zu sehen ist. In der Psychologie spricht man von …»
«Ist mir total egal, wie dieser Psychoquatsch heißt!», rufe ich wütend ins Handy und bin kurz davor aufzulegen. Ich bin so enttäuscht von ihm, so enttäuscht, dass auch er nicht anders ist als die anderen Ärzte, die mir alle erst zugehört haben, als würden sie mich verstehen, und die dann am Ende doch immer behauptet haben, meine Wahrnehmung sei nur Einbildung. «Dieses Mädchen ist Julis Tochter! Vielleicht stimmt ja auch mit deiner Wahrnehmung etwas nicht, und Mader ist nicht Madreiter, sondern jemand ganz anderes. Hast du dir mal überlegt, dass deine Geschichte auch konstruiert sein könnte?»
Er seufzt. «Die ganze Nacht», sagt er dann schlicht.
Mir wird heiß. Er kann nicht recht haben, Juli. Das Mädchen, das dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist, die doppelte Begegnung mit dem Wolf – wozu das alles, wenn es mich nicht zu dir führen sollte?
«Ich muss weiter», sage ich.
«Smilla, bitte. Warten wir doch erst mal die Ergebnisse des DNA -…»
Ich lege auf. Ich brauche keinen DNA -Test, um bestätigt zu bekommen, was ich schon weiß. Du warst meine beste Freundin. Ich werde dich wohl erkennen, wenn du wie eine Reinkarnation plötzlich vor mir stehst! Ich habe mich dir seit Jahren nicht mehr so nah gefühlt wie jetzt.
Noch immer blicke ich wütend auf das Display meines Handys, als sich unter meinem rechten Fuß plötzlich ein Stein löst. Ich muss wohl unbewusst das Gewicht verlagert haben, oder aber der Stein war schon vorher lose und hat nur auf seinen Moment gewartet. Ich verliere das Gleichgewicht und rudere mit den Armen, um meinen Schwerpunkt wieder nach vorn zu bringen, während der Rucksack mich nach hinten zieht. Aber unter meinen Füßen löst sich nur weiteres Geröll, und ich rutsche mitsamt den Steinen ab, versuche nach etwas zu greifen, das mir Halt gibt, aber alles, was ich zu fassen bekomme, ist ebenfalls in Bewegung. Eine ganze Steinlawine donnert mit mir zusammen den steilen Abhang hinunter. Etwas trifft mich am Kopf. Ich höre auf, um mich zu greifen, und forme mit den Armen einen Helm, während ich noch immer rutsche, die Orientierung verliere – um mich, unter und über mir nur Steine. Es fühlt sich an, als würde der ganze Berg zusammenbrechen. Ich werde hier sterben, Juli.
Der Berg hat seine ganz eigene Art, mich zu dir zu führen.