E inen Moment lang wage ich weder zu atmen noch mich zu bewegen. Ich stehe ganz still da, unentschlossen, ob ich mich verstecken oder auf mich aufmerksam machen soll. Die Gestalt steht ebenfalls still. So still, dass ich schon unsicher werde, ob es denn überhaupt ein Mensch ist oder lediglich ein Felsen, der mir vorher einfach nicht aufgefallen ist. Doch dann bewegt sich die Gestalt plötzlich, sie dreht sich um und verschwindet.
Also rufe ich. Ich schreie, so laut ich kann, um Hilfe, und das Echo trägt meine Stimme durch die ganze Klamm. Aber oben rührt sich nichts. Ich mache mir Vorwürfe, nicht früher reagiert zu haben. Vielleicht war das meine einzige Chance! Ein letztes Mal schreie ich, mehr aus Frust als aus Hoffnung, und trete gegen einen Stein, der klackernd wegspringt und sein eigenes Echo erzeugt. Es klackert und klackert, und ich wende mich zurück zu Laura, als mir auffällt, dass das Klackern überhaupt kein Ende nimmt. Es wird auch nicht leiser. Das ist kein Echo. Das sind Steine, die sich unter Fußtritten lösen und die Schlucht hinunterstolpern. Ich wende den Kopf abwechselnd nach rechts und links, während ich lausche. Ich versuche herauszufinden, aus welcher Richtung das Geräusch kommt, aber wegen des Widerhalls kann ich es unmöglich sagen. Sicher ist, dass sich dort jemand einen Weg in die Schlucht bahnt. Ich hocke mich wieder neben Laura.
«Wir bekommen jetzt Hilfe, halten Sie durch!»
Das Klackern verstummt. Wahrscheinlich versucht der Wanderer, sich zu orientieren. Ich setze bereits an zu rufen, um unsere Richtung anzuzeigen, als mir auffällt, dass auch der Fremde sich melden könnte. Stattdessen bahnt er sich wortlos seinen Weg zu uns. Verhält sich so ein normaler Wanderer, der helfen will? Mir wird heiß. Ich springe zu meinem Rucksack und wühle fieberhaft nach dem Taschenmesser, das ich immer dabeihabe. Pflaster, Verbandszeug, alles Mögliche berühren meine fahrigen Hände, aber wo ist das Messer? Endlich ertasten meine Finger einen metallischen Gegenstand auf dem Boden des Rucksacks, doch da höre ich hinter mir ein Knirschen, und als ich mich umdrehe, ist es schon zu spät. Etwas Schweres trifft mich am Kopf, schmettert mich nach hinten, bevor ich mich aus der Hocke aufrichten kann. Ich schlage rücklings auf etwas auf, das ich erst für Wurzeln halte, das aber, wie ich dann begreife, Lauras Beine sind. Und obwohl mein Kopf zu bersten scheint, ist mein erster Gedanke, dass ich sie schützen muss. Ich ziehe mich kriechend zurück, fort von der Felswand, neben der Laura liegt. Ich muss erst mich außer Reichweite des Fremden bringen. Dann drehe ich mich um und sehe ihn an. Er ist groß, ein Berg von einem Mann. Ich muss mich anstrengen, um ihn überhaupt zu fokussieren, denn immer wieder wird mir schwarz vor Augen, der Schmerz in meinem Kopf wird mir erst jetzt richtig bewusst. Ich greife mir an die Schläfe, da ist etwas Nasses, aber dass es Blut ist, begreife ich erst, als ich die Pistole in seiner Hand sehe. Hat er Laura genauso niedergeschlagen? Reden, denke ich plötzlich und weiß selbst nicht, warum.
«Sie müssen das nicht tun!», rufe ich. «Bürgermeister Hofer hat Ihnen eine zweite Chance gegeben! Die Siedlung hat Ihnen eine zweite Chance gegeben! Wollen Sie die jetzt wirklich einfach wegwerfen?» Ich komme mir hilflos vor, wie ich so vor ihm liege und noch irgendetwas herumzureißen versuche. Was ist schon meine Stimme gegen seine Waffe?
«Je mehr Morde Sie begehen, desto sicherer werden Sie irgendwann dafür im Knast landen, ist Ihnen das nicht klar? Man hat Sie schon mal gefasst, und man wird Sie wieder fassen, die Siedlung ist doch längst auf dem Radar der Polizei. Sie sind längst auf dem Radar… Mader. Oder sollte ich Madreiter sagen?» Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich den Namen ausspreche, aber tatsächlich flackert Erstaunen in seinen Augen auf, Irritation. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich weiß, wer er ist.
«Das Versteckspiel ist vorbei, Madreiter. Mit einem weiteren Mord erreichen Sie gar nichts – im Gegenteil, Sie machen alles nur noch schlimmer. Wissen Sie eigentlich, wie viele Jahre es auf Mord gibt?»
«Zu wenige», sagt Madreiter, und ich zucke zusammen. Seine Gelassenheit ist beunruhigend. Während ich die Panik in meiner Stimme nicht unterdrücken kann.
«Die Polizei ist unterwegs», rufe ich, während ich versuche, weiter von ihm wegzurobben. «Ich bin kein anonymes Opfer! Die Polizei weiß, wer ich bin und wo ich bin!»
«So, weiß sie das?», fragt er ruhig. Und dann lächelt er.
Doch in dem Moment zerreißt ein schrilles Pfeifen die Luft, so laut und plötzlich, dass wir beide zusammenzucken und die Krähen aufflattern. Madreiter wirbelt herum, wir suchen beide die Quelle des plötzlichen Pfiffs und sehen Laura, die es irgendwie geschafft hat, sich auf die Seite zu rollen und an die Signalpfeife zu kommen, die am Träger meines Wanderrucksacks festgemacht ist. Madreiter starrt Laura genauso fassungslos an wie ich. Es ist ihm anzusehen, dass er sie für tot gehalten hat. Und in diesem Moment weiß ich, was Laura mit dem Pfeifen bezweckt hat. Ich stürze vor, werfe mich mit ganzem Körpergewicht gegen Madreiters Beine. Er schreit und fällt rücklings über mich, sein Hinterkopf schlägt auf den Boden. Ich umklammere seine Knie, doch als ich sehe, wie ihm die Waffe entgleitet, lasse ich los und stürze vor. Ich erreiche die Pistole und hebe sie auf. Ich wirbele herum und richte die Waffe auf Madreiter, der gerade versucht, sich stöhnend aufzurichten, und sich dabei an den Hinterkopf greift. Er ist hart auf dem Boden aufgeschlagen.
«Liegen bleiben!» Meine Stimme ist hoch, panisch. Ich schlucke und versuche das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Ich bin jetzt diejenige mit der Waffe! Während meine Gedanken um die Frage rasen, was als Nächstes zu tun ist, macht Madreiter erneut Anstalten, sich aufzurichten.
«Liegen bleiben!», rufe ich noch einmal. Wenig beeindruckt setzt er sich hin und hebt die Hände.
«Ganz ruhig», sagt er, und ich ärgere mich, dass die Waffe in meinen Fingern noch immer zittert.
Er streckt mir eine Hand entgegen und macht eine auffordernde Bewegung. «Gib sie mir.»
Für wie blöd hält er mich?
«Gib mir die Waffe, Mädchen. Du wirst sie sowieso nicht benutzen. Du weißt doch nicht mal, wie.»
Ich versuche meine zitternde Hand zu beruhigen und mir nicht ansehen zu lassen, dass er mich verunsichert. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, Juli, denn du warst nie so beeindruckt von solchen Dingen wie ich. Aber als wir sieben oder acht Jahre alt waren, hat mein Vater uns einmal seine Dienstwaffe halten lassen, die er sonst immer gut verschlossen im Schrank aufbewahrte. Er hat uns die Pistole in die ausgestreckten, zur Schale geformten Hände gelegt. Ich erinnere mich noch an das erstaunliche Gewicht und daran, dass die Patronen Geräusche wie Murmeln machten, als sie über den Schreibtisch kullerten. Mein Vater hat die Finger auf die Lippen gelegt und augenzwinkernd gemeint: «Das sagt ihr aber niemandem, ja? Das bleibt unser Geheimnis.» Und wir haben ihm unser Indianerehrenwort gegeben, das damals die höchste Form des Versprechens war, die wir kannten.
Jetzt wünschte ich, mein Vater hätte uns ein bisschen mehr gesagt als das. Hätte zum Beispiel erklärt, woran man sieht, ob eine Waffe entsichert ist. Ob moderne Waffen vor dem Gebrauch überhaupt noch entsichert werden müssen und wo. Man sollte ja eigentlich meinen, der Gebrauch einer Pistole sei idiotensicher, aber was, wenn nicht?
Erneut beginnt der Mann, sich vom Boden aufzurichten, mit einer Ruhe, die mir verrät, wie sicher er sich seiner Sache ist. Und diesmal schafft er es.
«Bleiben Sie verdammt noch mal stehen!» Ich mache einen Schritt zurück, als er mir die Hand entgegenstreckt und mir erneut bedeutet, ihm die Waffe zu geben. Er macht einen Schritt nach vorn, und ich will noch weiter zurückweichen, doch als sein Blick kurz Richtung Boden hinter mir flackert, erinnere ich mich, dass dort irgendwo die verletzte Laura liegt, und bleibe stehen. Ich begreife, was er vorhat, noch bevor er näher treten und nach der Waffe greifen kann. Und dann drücke ich ab.
Ich habe noch nie jemanden so schreien hören. Ein Zug mit dem Finger hat gereicht, und Madreiter windet sich brüllend am Boden. Was für eine perverse Erfindung so eine Waffe doch ist. Ich habe auf sein Knie gezielt und seinen Oberschenkel getroffen. Fassungslos starre ich auf die Pistole und dann auf Madreiter. Versuche mir klarzumachen, dass es das Richtige war. Nicht nur, weil dieses Schwein wahrscheinlich dich auf dem Gewissen hat, Juli. Sondern auch, weil Laura und ich aus dieser Schlucht rauskommen müssen. Madreiter hält sich fluchend das Bein, und mir wird schlecht, als ich das viele Blut sehe, das durch seine Hose sickert.
Dennoch behalte ich ihn genau im Blick, als ich in die Hocke gehe und rücklings nach Laura taste. Sie liegt genau hinter mir. Einen Schritt mehr, und ich wäre über sie gestolpert. Ich finde ihren Arm, doch er ist schlaff und kraftlos.
«Laura?», sage ich, und als ich keine Antwort höre, nicht einmal ein Stöhnen, wende ich ihr hastig das Gesicht zu, ohne den Lauf der Pistole zu senken. Laura liegt auf dem Bauch. Die orangefarbene Pfeife hängt noch zwischen ihren trockenen Lippen. Ihre Augen sind aufgerissen und starren glasig an mir vorbei ins Leere. Ich packe sie an der Schulter, rüttele sie, aber es kommt keine Reaktion. Mit der freien Hand taste ich nach ihrem Puls am Hals. Nichts.
«Laura?», rufe ich panisch. Das kann nicht wahr sein! Diese Frau hat tagelang verwundet und ohne Essen in einer Klamm überlebt! Und gerade eben hat sie sich noch selbstständig zu meiner Warnpfeife geschleift, um mich zu retten. Sie kann mir jetzt nicht einfach wegsterben!
«Laura!» Ich achte nicht mehr auf Madreiter, der inzwischen sein verzerrtes Gesicht in den Dreck drückt, sich förmlich darin wälzt. Ich lege die Pistole neben mir ab, hieve Laura in Rückenlage und erinnere mich daran, was ich über Wiederbelebungsversuche gelernt habe. Ich versuche es mit Herz-Rhythmus-Massage und Mund-zu-Mund-Beatmung, aber es dauert nicht lange, bis ich hinter mir eine Bewegung wahrnehme. Ich greife zurück zur Waffe, wirbele herum. Madreiter steht vor mir, mit wut- und schmerzverzerrtem Gesicht, in dem der Dreck klebt. Dort, wo ich sein Bein getroffen habe, ist die Hose dunkel vor Blut, ebenso wie seine Hände, mit denen er sich durchs Gesicht gewischt haben muss, denn da ist ein roter Streifen an seiner Schläfe. Ich kann ihm ansehen, dass nicht viel fehlt, und er würde sich auf mich stürzen. Aber als er jetzt den Lauf der Pistole auf sich gerichtet sieht, bleibt er immerhin stehen. Er war sich so sicher, dass ich nicht schießen würde. Diese Sicherheit ist jetzt vergangen.
«Auf den Boden! Sofort!», rufe ich. Er kommt der Aufforderung nicht nach. Nimmt mich immer noch nicht ernst. Zur Erinnerung ziele ich auf sein noch intaktes Knie, und da zuckt er doch ein wenig zurück.
«Auf den Boden!», wiederhole ich. Sein Blick ist düster, er malmt mit dem breiten Kiefer. Dann, unendlich langsam, geht er vor mir in die Hocke.
«Bauchlage und Hände auf den Rücken. Das Gesicht auf den Boden.»
Dafür hat er nicht mehr als ein Lächeln übrig. Ich bin plötzlich so wütend, dass ich kurzerhand neben ihn ziele und noch einmal abdrücke. Der Schuss ist ohrenbetäubend hier in der Klamm, und Madreiter zuckt zusammen und reißt die Hand weg, neben der die Kugel knapp vorbei in den Boden gegangen ist – knapper als gedacht, um ehrlich zu sein. Ich hätte ihm leicht einen Finger abschießen können. Sein selbstgefälliges Lächeln ist verschwunden. Er hebt andeutungsweise die Hände und legt sich dann tatsächlich auf den Boden.
«Arme auf den Rücken», wiederhole ich und sehe mich dabei suchend nach dem Taschenmesser um, das ich vorhin, als sein erster Angriff kam, aus dem Rucksack gezogen habe. Es muss mir aus der Hand gerutscht und über den Boden geschlittert sein. Ich finde es rechts neben mir zwischen den Steinen. Es ist nicht einfach, eine Pistole in der Hand zu halten und gleichzeitig ein Taschenmesser auseinanderzuklappen. Und noch schwieriger ist es, mit diesem Taschenmesser am Rucksackträger herumzusäbeln. Aber schließlich halte ich den Träger in der Hand. Ich stehe auf, trete vorsichtig an Madreiter heran und richte die Pistole auf seinen Nacken.
«Legen Sie die Hände zusammen.» Der Rucksackträger ist klobig und lässt sich nicht leicht verknoten. Die Pistole und mein Knie in seinem Kreuz sind das Einzige, das ihn davon abhält, aufzuspringen und mich abzuschütteln – ich wiege vielleicht die Hälfte von ihm. Mein Plan ist es, ihn so verschnürt und verknotet liegen zu lassen und schnellstmöglich aus der Klamm zu fliehen, um Hilfe zu holen. Auch wenn die für Laura inzwischen zu spät kommen wird. Sie liegt noch immer so auf dem Rücken, wie ich sie hingelegt habe, die Augen starr gen Himmel gerichtet. Ich schreie einen Raben an, der sich ihr hüpfend nähert und äußerst interessiert an ihrem Gesicht wirkt. Ein zweiter Rabe hüpft in Richtung ihrer Füße, flattert plötzlich vor und zwickt ihr in den mit Nylon benetzten Zeh. Er lässt sich von meinem «Kschhhh!» nicht beeindrucken, und ich muss mich abwenden, um nicht loszuheulen.
Als der Knoten festsitzt, stehe ich auf und trete schnell zurück. Madreiter windet sich probehalber ein bisschen, und seine Finger tasten nach der Fessel. Aber er ist nur halbherzig dabei. Die ernsthaften Anstrengungen, sich zu befreien, wird er erst unternehmen, wenn ich weg bin, das wissen wir beide. Ich scheuche die Raben fort, obwohl auch das keine Lösung von Dauer ist. Ein ganzer Schwarm von den Biestern kreist inzwischen schreiend über uns am Himmel. Vielleicht hat der Schuss sie angelockt. Vielleicht wissen die Raben, dass sie immer dort fündig werden, wo Madreiter ist. Ich greife nach dem intakten Träger meines Rucksacks.
«Willst du gar nicht wissen, was aus deiner Freundin geworden ist?», fragt Madreiter plötzlich, in einem Ton, als würde er sich nach dem Wetter erkundigen. Ich erstarre. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich weiß sofort, dass er von dir redet, Juli.
Madreiter wendet mir das dreckverschmierte Gesicht zu. Er schafft es trotz allem noch, selbstgefällig zu lächeln. «Ich dachte, deshalb wärst du hergekommen, Smilla Arnold.»