R ebekka.
Ich kann nicht glauben, sie zu sehen, als ich zwei Tage später die Hütte meiner Eltern betrete. Sie steht vom Küchentisch auf, und ich bleibe auf der Schwelle stehen, Tür und Mund geöffnet. Sie sieht dünner aus, mitgenommen. Sie sieht aus, als hätte sie Schlimmes durchgemacht. Ihre Mutter, die auf der anderen Seite des Tischs sitzt, mit dem Rücken zu mir, wendet sich auf dem Stuhl um.
«Jesse», sagt sie, weil sonst niemand etwas sagt. Und dann kommt Rebekka entschieden auf mich zu, nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Haus. Ich folge ihr, ohne auch nur den Rucksack abzusetzen und ohne nach meiner Mutter zu sehen. Frau Walther hat sich auch dieses Mal um sie gekümmert, während ich weg war. Auf Erkundungstour, um die Höhlen zu suchen, wie alle denken.
«Seit wann bist du wieder da?», frage ich gehetzt, und sie antwortet mir, ohne ihr Tempo zu verringern: «Seit heute früh. Ich musste noch eine Aussage bei der Polizei machen, und sie haben darauf bestanden, mich in ein Krankenhaus zu bringen und untersuchen zu lassen. Aber dann wollte ich, so schnell es geht, zurück. Freigeist ist auch wieder da.»
Ich bleibe stehen. Sie zieht an meinem Arm, aber ich bin stärker. «Freigeist ist tot», sage ich. «Sie haben ihn erschossen. Er hat irgendetwas im Tierheim angestellt, und dann haben sie …»
Sie schüttelt den Kopf, um mich zu unterbrechen. «Er war es, ich bin mir sicher. Komm mit, er ist mir in den Wald gefolgt, bis hierher nach Jakobsleiter. Vielleicht kommt er zu dir, wenn er dich wittert.»
Sie zieht erneut an meinem Arm, und diesmal folge ich ihr. Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Freigeist lebt. Rebekka ist zurück. Einfach so zurückgekommen, während ich ganz woanders nach ihr gesucht habe. Ich sehe die Schrammen und blauen Flecken auf ihrem Kinn, ihrem Hals, ihren Handgelenken. Sie trägt einen Kapuzenpulli, darum kann ich nur Vermutungen darüber anstellen, dass der Rest ihres Körpers ähnlich aussehen muss, aber in mir steigt eine Scheißwut auf den Kerl auf, der das zu verantworten hat. Erneut bleibe ich stehen. So plötzlich, dass sie stolpert.
«Wo bist du gewesen, Rebekka? Wo hat er dich hingelockt? In die Stadt?»
Sie blickt mich lange an, und mir fällt auf, dass sich der Wald auch heute nicht in ihren Augen spiegelt. Da liegt eine Welt, zu der nur sie Zugang hat und die mir verschlossen bleibt. Langsam schüttelt sie den Kopf. «Ich war die ganze Zeit hier, Jesse. Hier am Berg.»
Sie erzählt mir die ganze Geschichte, während wir auf einem Felsen sitzen, von dem aus man die gewundene Straße nach Almenen überblickt. Die Straße, die sie nehmen wollte, um Größeres zu erleben. Von hier oben sieht es wirklich abenteuerlich aus, wie sie sich durch die Tannen und Schluchten schlängelt und irgendwo im Dickicht verliert. Hinter uns ist der Wald und zu unseren Füßen ein Tal, in dem plötzlich keine Geister mehr wohnen. Ich habe keine Angst mehr vor der Straße oder vor der Stadt, denn das Böse wohnt hier wie dort, ebenso wie das Gute. Es wohnt in Menschen, denen ich vertraut habe: in meinem Vater, in Bürgermeister Hofer und in seinem Sohn, Kommissar Hofer. Es wohnt auch in mir, mit Sicherheit, und trotzdem ist es meine Entscheidung, ob ich es über mich regieren lasse.
Ich halte Rebekkas Hand, während sie erzählt. Und wenn sie sich über bestimmte Details ausschweigt, wenn sie zu tief ins Dunkel gerät, verrät das Zittern in ihren Fingern mir, wie schwer die Tage für sie gewesen sein müssen. Ich kann mir vorstellen, dass die Höhle, das Tunnelsystem, in dem sie war, dasselbe ist, das ich die letzten zwei Tage hatte suchen sollen. Aber es ist nicht wichtig, denn ich habe nicht gesucht. Und ich habe es auch nicht vor. Ich war bei den Lauders, um ihnen die genaue Beschreibung unseres Priesters zu geben inklusive des Namens, den er sich bei uns gegeben hat. Die Lauders wollten mit der Information zur Polizei. Gut möglich, dass die jetzt gerade schon auf dem Weg ist.
Ich weiß nicht, was Isaiah angestellt hat und warum er in unserer Siedlung ist. Aber ich glaube, dass wir anderen einen besseren Neuanfang wagen können, wenn wir nicht tun und lassen müssen, was er will. Ich will selbst entscheiden können. Ich will die Möglichkeit haben, einen Arzt zu rufen, wenn meine Eltern einen brauchen. Ich will darüber nachdenken können, eine Pflegeeinrichtung für sie zu finden. Ich will, dass meine Mutter glücklich ist. Ich weiß noch nicht, ob ich den Berg verlassen kann, so wie sie es gewollt hätte. Aber ich will mich auch nicht ständig auf ihm verstecken müssen.
Wahrscheinlich wird es weiterhin Konflikte mit den Bewohnern aus dem Dorf oder der Stadt geben. Unsere Vergangenheit können wir nicht abschütteln, aber ich kann wenigstens dafür sorgen, dass unsere Zukunft ein wenig besser aussieht als die der Bruderschaft, die sich damals in den Höhlen verstecken musste, weil sie keinen anderen Ausweg sah. Wir haben einen anderen Ausweg. Und ich lasse mir von Isaiah nicht das Gegenteil einreden. Vielleicht kann ich die verfallene Schwarzalm für uns herrichten, in der der alte Janosch verstorben ist. Oder vielleicht finde ich etwas anderes für uns, nahe einem neuen Dorf, in dem man uns nicht kennt. Vielleicht ein verlassenes Haus, in dessen Garten ich einen Birnbaum für Rebekka pflanzen kann.
Ich zucke zusammen, als ich etwas Kaltes, Feuchtes im Nacken spüre, und fahre herum. Als ich ihn sehe, flattert mein Herz auf, wie ein Vogel, den man im Gebüsch aufschreckt.
«Freigeist!» Ich falle ihm um den Hals, grabe mein Gesicht in sein nach Nässe und Kadaver riechendes Fell. In der Zeit ohne mich hat mein Wolf gelernt, sich anzuschleichen wie ein echter Wolf.