II

Jerusalem

63 v. Chr.: Jerusalem

Eine heftige Erschütterung des Mauerwerks, der Zusammenbruch eines ganzen Turms – dann war eine große Bresche in die Festungslinie geschlagen(3). Als der Staub sich gelegt hatte, drängten Legionäre bereits in die Lücke. Offiziere, die sich unbedingt den Ruhm für diese Tat sichern wollten, führten ihre Männer über die Trümmerhaufen und durch die Bresche. Über dem Gewühl wippten Adler, die Feldzeichen des römischen Heeres. Die Verteidiger, deren Hartnäckigkeit und Mut letztlich nicht vermocht hatten, den Vorstoß der Rammböcke des Pompeius(4) aufzuhalten, wussten, dass sie verloren waren. Viele setzten ihre Häuser lieber in Brand, als sie von den Eroberern plündern zu lassen; andere stürzten sich von den Festungsmauern. Als das Morden ein Ende hatte, lagen rund zwölftausend Leichen in den Straßen der Stadt. »Die römischen Verluste hingegen waren sehr gering.«[1] Pompeius war ein effizienter General. Vier Jahre waren seit seinem Treffen mit Poseidonios vergangen, und in dieser Zeit hatte er das Mittelmeer von Piraten befreit, mehrere Potentaten im Nahen Osten gedemütigt und ihre Königreiche unter die direkte Herrschaft Roms(10) gebracht. Nun hatte er nach einer dreimonatigen Belagerung seiner beeindruckenden Liste von erfolgreichen Schlachten einen weiteren Sieg hinzugefügt. Jerusalem(4) gehörte ihm.

Die Stadt war aufgrund ihrer vom Meer weit entfernten Lage und ihrer Abgeschiedenheit von größeren Handelsrouten in vielerlei Hinsicht tiefste Provinz. Judaea(1), das Königreich, dessen Hauptstadt sie war, war hinsichtlich seiner Machtposition ganz klar zweitrangig. Auf Pompeius(5), einen Mann, der sich großspurig seinen Weg um einen großen Teil des Mittelmeers erkämpft hatte, musste Jerusalem(5) einen eher unglamourösen Eindruck machen. Ganz uninteressant war die Stadt allerdings nicht. Pompeius, der kenntnisreich von Monumentalarchitektur fasziniert war und die kuriosen Eigenheiten besiegter Völker als Unterfütterung für seinen persönlichen Ruhm ansah, hatte beträchtliche Freude am Exotischen.

Die Juden(4), auch wenn sie weitgehend so aussahen und sich so kleideten wie andere Leute, waren berühmt für ihre Eigenheiten. Sie aßen kein Schweinefleisch. Sie beschnitten ihre Söhne. Sie ruhten an jedem siebten Tag, um das zu begehen, was sie als Sabbath bezeichneten. Und das Perverseste von allem: Sie weigerten sich, irgendeinem Gott Ehre zu bezeigen, außer nur dem einen, den sie als ihren eigenen ansahen. Selbst die kultischen Verpflichtungen, die dieser eifersüchtige und anspruchsvolle Gott einforderte, hatten das Potenzial, Griechen oder Römern auf bizarre Weise exklusiv vorzukommen. Auf der ganzen Welt gab es nur ein einziges Heiligtum, das von der großen Mehrheit seiner Gläubigen als rechtmäßig anerkannt war. Der jüdische(5) Tempel, erbaut auf einem Felsplateau namens Morija(1) an der östlichen Flanke Jerusalems(6), beherrschte seit Jahrhunderten die Skyline der Stadt. Natürlich wollte Pompeius(6) dem Tempel nun, da der Sieg gesichert war, unbedingt einen Besuch abstatten.

Tatsächlich hatte er bereits vor allem den Tempelkomplex im Sinn gehabt, als er mit seinen Legionen vor den Mauern erschienen war, die diesen umgaben. Noch lange, nachdem das übrige Jerusalem(7) sich ergeben hatte, hatten Kämpfer dort noch Widerstand geleistet; und nun war die ausgedehnte Felsfläche, auf welcher der Tempel sich erhob, übersät mit Leichen und klebrig von Blut. Dass Juden(6) mit ihren exzentrischen religiösen Überzeugungen zu Dogmatismus neigten, war Pompeius völlig klar, denn die Weigerung seiner Gegner, am Sabbath zu kämpfen, hatte es seinen Bauleuten enorm erleichtert, die Belagerungswerke aufzurichten. Mittlerweile war der Tempel allerdings eingenommen und gesichert, und Pompeius(7) näherte sich seinen Toren mit einer Mischung aus Respekt und Neugier.

Die Juden(7) gaben ihrem Gott zwar einen barbarischen Namen und schrieben ihm verwirrende Gebote zu, aber das bedeutete ja nicht automatisch, dass er deswegen weniger verehrungswürdig war. Die klugen Köpfe, die im Studium himmlischer Angelegenheiten bewandert waren, gingen selbstverständlich davon aus, dass »die Juden(8) den höchsten Gott verehrten – der gleichzusetzen war mit dem König aller Götter«.[2] Die Römer nannten ihn Jupiter(1) – so wie die Griechen ihn als Zeus(5) kannten. Es war eine altehrwürdige Praxis, die im einen Land verehrten Götter gleichzusetzen mit denen, die in einem anderen Land verehrt wurden. Seit über einem Jahrtausend stützten sich Diplomaten auf diese Praxis, um das Konzept internationalen Rechts überhaupt umsetzbar zu machen. Denn wie sollten zwei politische Mächte sich auf einen Vertrag einigen können, wenn sie nicht Götter beschworen, die beide Vertragspartner als gültige Zeugen ihres Bündnisses anerkannten? In unterschiedlichen Städten folgte man möglicherweise unterschiedlichen Riten, doch Pompeius(8) war wie andere Eroberer vor ihm davon überzeugt, dass die diversen Völker der Welt im Hinblick auf ihre Verehrung der Götter mehr verband als trennte. Warum also sollte er den Tempel nicht besichtigen?

»Als Sieger beanspruchte er das Recht, den Tempel zu betreten.«[3] Dass die Juden(9), denen die Heiligkeit ihres Tempels über alles ging, Außenseitern keinen Zutritt gewährten – diese Überlegung war kaum geeignet, den Eroberer Jerusalems(8) zu stören. Seine Männer hatten während der Einnahme des Tempels den äußeren Hof bereits gestürmt. Obwohl die Priester während ihrer Trank- und Rauchopfer überrascht worden waren, hatten sie ihre heiligen Handlungen nicht unterbrochen. Während der gesamten Belagerung waren zweimal pro Tag – einmal morgens und einmal in der Abenddämmerung – Trompeten geblasen worden: als Signal für das Verbrennen eines Lammes auf dem großen quadratischen Altar. Jetzt jedoch lagen in wüsten Haufen Priester hingeschlachtet im äußeren Hof; und es war ihr Blut, das – vermischt mit dem Wasser, das aus der Unterseite des Altars hervorsprudelte – weggespült wurde. Pompeius(9) konnte nicht umhin, von ihrer Unerschütterlichkeit angesichts des Todes beeindruckt zu sein; allerdings sah er in den Ritualen, die zu ihrem Dienst gehörten, auch nichts weiter Besonderes. Opfer wurden schließlich im gesamten Mittelmeerraum dargebracht.

Das Geheimnis, das den Tempel berühmt gemacht hatte, erwartete Pompeius(10) tief im Inneren des gesamten Gebäudekomplexes: eine Kammer, welche die Juden(10) als den einen heiligsten Ort der Welt ansahen. Sie brachten diesem Raum eine solche Ehrfurcht entgegen, dass niemand außer ihrem Hohepriester ihn betreten durfte – und auch dieser nur einmal im Jahr. Griechische Gelehrte trieb die Frage, was sich in diesem »Allerheiligsten« befinden mochte, schon seit Langem um. Poseidonios(6), der grundsätzlich zu allem eine Theorie entwickelte, behauptete, der Raum enthalte den Kopf eines goldenen Esels. Andere meinten, es befinde sich darin »das steinerne Bild eines Manns mit einem langen Bart, der auf einem Esel sitzt«.[4] Wieder andere berichteten, der Raum diene als Gefängniszelle für einen griechischen Gefangenen, der, nachdem er ein Jahr lang gemästet worden war, von den Hohepriestern in einem schauerlichen Ritual geopfert und verzehrt wurde. Als Pompeius vor dem Vorhang, der den Raum von einem mit Schätzen angefüllten Vorraum trennte, kurz innehielt, konnte er also keine bestimmte Vorstellung von dem haben, was ihn erwartete.

Was er vorfand, war dann lediglich Leere. Es gab keine Statue in der Kammer, kein wie auch immer geartetes Bildnis, und ganz gewiss keinen gemästeten Gefangenen – sondern lediglich einen nackten Steinblock. Trotzdem war Pompeius(11), wenn auch irritiert, nicht unbeeindruckt von dem, was er gesehen hatte. Er verzichtete darauf, den Tempel zu plündern. Er befahl den Tempelaufsehern, das Areal von den Spuren der Schlacht zu reinigen, und erlaubte ihnen, ihre täglichen Opfer darzubringen. Er ernannte einen neuen Hohepriester. Dann verließ er mit zahlreichen Gefangenen Jerusalem(9) in Richtung Rom, wo man ihm den Empfang bereiten würde, der einem Helden zustand.

Pompeius(12) konnte mit doppelter Befriedigung auf das zurückschauen, was ihm in Judäa gelungen war. Die Juden(11) waren vernichtend geschlagen, die Grenzen ihres Königreichs in Übereinstimmung mit römischen Interessen neu definiert worden, und man hatte ihnen einen drastischen Tribut auferlegt. Gleichzeitig war ihrem Gott der gebührende Respekt gezollt worden. Pompeius durfte sich in der Gewissheit wiegen, dass er seine Pflicht nicht nur gegenüber Rom, sondern auch gegenüber dem Kosmos erfüllt hatte. Seine Schiffsreise zurück nach Rom unterbrach er in Rhodos(2), wo er ein zweites Mal Poseidonios(7) aufsuchte. Mit seinem Besuch lieferte er dem Philosophen die personifizierte Versicherung, dass die Errichtung eines Weltreichs, eines Reiches, das die zeitlose Ordnung des Himmels widerspiegelte, mit zufriedenstellender Geschwindigkeit voranschritt. Poseidonios ließ sich trotz einer Arthritis-Attacke die Gelegenheit zu pompöser Effekthascherei nicht entgehen und hielt vom Krankenbett aus eine Rede auf seinen Besucher. Das von ihm unter häufigem pointierten Ächzen entfaltete Thema lautete: »Nur was ehrenwert ist, ist gut.«[5]

Natürlich sah gleichzeitig in Jerusalem(10) die Einschätzung der Eroberungen des Pompeius(13) ganz anders aus. Als die Juden(12) versuchten, die Niederlage ihrer Stadt zu verstehen, taten sie das nicht mit Hilfe der Philosophie. Stattdessen wandten sie sich schmerzerfüllt und fassungslos an ihren Gott.

In seinem Übermut riss der Sünder die Festungsmauern
mit einem Rammbock ein,
und Du hast ihn nicht aufgehalten.
Fremde Heiden stiegen auf Deinen Altar,
und in ihrem Hochmut trampelten sie mit ihren Sandalen darauf herum.[6]

Diesen gequälten Aufschrei, gerichtet an den Gott, der zugelassen hatte, dass sein Haus gestürmt und in sein innerstes Heiligtum eingedrungen wurde, hätte Pompeius(14) realistischerweise nie beschwichtigen können. Die Rücksicht, mit der er seiner Meinung nach der jüdischen Gottheit begegnet war, beeindruckte die meisten Juden(13) nur unwesentlich. Allein die Vorstellung, den Tempel mit den Heiligtümern anderer Götter auf eine Stufe zu stellen, war für sie unsäglich anstößig. Hätte der Mann, den Pompeius als Hohepriester eingesetzt hatte, seinem Gönner auf Augenhöhe begegnen können, dann hätte er ihm vielleicht erklärt, warum das so war: weil es nämlich nur den einen Gott gab; und weil der Tempel eine Nachbildung jenes Universums war, das dieser Gott ganz allein ins Sein gebracht hatte.

In den vom Hohepriester getragenen Gewändern spiegelte sich der Kosmos; in den von ihm durchgeführten Ritualen ein Echo der göttlichen Schöpfungsarbeit am Anbeginn der Zeit; und auf der goldenen Scheibe, die er an seiner Stirn trug, eine ehrfurchtgebietende Inschrift, diejenige des Namens Gottes höchstselbst, der, so wollte es der heilige Brauch, nur vom Hohepriester ausgesprochen werden durfte, und das auch nur einmal im Jahr, wenn er das Allerheiligste betrat. Die Schändung des Tempels war gleichbedeutend mit der Schändung des Universums. Die Juden(14) sahen nicht weniger als Poseidonios in der Ausbreitung der römischen Macht(11) ein Ereignis, dessen Schockwellen sich bis in himmlische Sphären ausdehnten.

»Der Sieger hat das Recht, Gesetze zu erlassen.«[7] Diese Maxime war für Pompeius(15), als er Könige absetzte und Grenzen neu zog, eine Selbstverständlichkeit. Die Juden(15) hingegen beanspruchten unter Missachtung irdischer Machtverhältnisse für sich einen Status, den kein Reich, und sei es selbst so mächtig wie Rom(12), je zu erreichen hoffen konnte. Einst, vor vielen Generationen, als Troja noch nicht gegründet und Babylon noch jung war, hatte in Mesopotamien ein Mann namens Abram(1) gelebt. Dort, so lehrten jüdische Weise, war ihm eine profunde Erkenntnis zuteil geworden: Kultbilder waren lediglich bemalter Stein oder Holz, und es gab – einzigartig, immateriell und allmächtig – nur eine einzige Gottheit. Statt dort zu bleiben, wo er bislang gelebt hatte, in einer Stadt, die verpestet war vom Götzendienst, beschloss Abram, seine Heimat zu verlassen. Er brach mit seiner Frau und seinem Haushalt in das Land auf, das eines Tages Judaea heißen sollte, damals aber als Kanaan(1) bekannt war.

All das gehörte zum göttlichen Plan. Gott hatte Abram(2) in einer nächtlichen Erscheinung geoffenbart, dass ihm seine bislang kinderlose Ehefrau trotz ihres hohen Alters noch einen Sohn gebären würde, und dass seine Nachkommen eines Tages Kanaan(2) erben sollten: ein versprochenes, »Gelobtes Land«. Als Unterpfand hatte Abram einen neuen Namen empfangen: Abraham; und Gott befahl, dass er und all seine männlichen Nachkommen auf zahllose Generationen hinaus beschnitten werden sollten. Abraham(3), gehorsam gegenüber jeder göttlichen Anweisung, tat, wie ihm geheißen. Und als ihm tatsächlich ein Sohn geschenkt wurde und Gott ihm befahl, dieses Kind, Isaak(1), mitzunehmen auf einen Berg und den Jungen dort zu opfern, »deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast«,[8] da war Abraham bereit, auch diesem Befehl zu folgen. Doch im allerletzten Moment, als er bereits zum Messer griff, gebot ihm ein Engel vom Himmel Einhalt; und Abraham erblickte einen Widder, der sich im Dickicht verfangen hatte, nahm das Tier und schlachtete es auf dem Altar. Und weil Abraham(4) bereit gewesen war, das zu opfern, was ihm am meisten bedeutete, bestätigte Gott das Versprechen, dass seine Nachkommen so zahlreich sein würden wie die Sterne am Himmel. »Und durch deine Nachkommen werden alle Völker der Erde gesegnet werden, weil du auf meine Stimme gehört hast.«[9]

Wo hatte dieses schicksalschwangere Ereignis stattgefunden? Viele Generationen später, als Abrahams Nachkommen sich im Gelobten Land niedergelassen und ihm den Namen Israel(1) gegeben hatten, war ein zweites Mal ein Engel über jenem Ort erschienen, an dem Isaaks Leben fast beendet worden wäre – und dieser Ort war, so die Auskunft jüdischer Gelehrter, kein anderer als der Berg Morija(2). Vergangenheit und Zukunft, Erde und Himmel, menschliches Streben und göttliche Gegenwart: Alles offenbarte sich als miteinander verbunden. Jerusalem(11) war, als der Engel erschien, gerade erst von Israel(2) erobert worden. Der Mann, der die Stadt eingenommen hatte, ein ehemaliger Schäferjunge und Harfenspieler namens David(1) aus einer kleinen Stadt namens Bethlehem(1), war zum König über ganz Israel aufgestiegen; und jetzt, genau in dem Moment, da er Jerusalem als seine Hauptstadt gegründet hatte, war ein Engel zu den Höhen über der Stadt gesandt worden, um »ihm den Ort zu zeigen, wo der Tempel erbaut werden sollte«.[10]

König David(2) selbst hatte Gott es untersagt, dieses Projekt in die Tat umzusetzen; unter seinem Sohn Salomon(1) jedoch – einem König von so sagenhaftem Reichtum und solcher Weisheit, dass den Juden(16) sein Name für immer ein Synonym für glanzvolle Herrlichkeit bleiben sollte – wurde der Berg Morija(3) zum »Berg des Hauses des Herrn«.[11] Salomon hatte nach der Fertigstellung des Tempels im Allerheiligsten den größten Schatz aufgestellt, den die Israeliten(3) besaßen: eine vergoldete Kiste, oder Lade, die nach genauen, von Gott selbst festgelegten Vorgaben gefertigt worden war und in der sich Gottes Gegenwart auf Erden manifestierte. Darin also bestand die Herrlichkeit Israels: dass sein Tempel wirklich und in Wahrheit das Haus des Herrn, seines Gottes war.

Aber eine solche Herrlichkeit wurde nicht einfach nur geschenkt; sie musste verdient werden. Die Weisung, die Gott seinem Volk auferlegte, ihn zu verehren, wie es ihm zustand, war gespickt mit Warnungen. »Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor: den Segen, wenn ihr den Geboten des Herrn, eures Gottes, die ich euch heute vorschreibe, gehorcht; den Fluch aber, wenn ihr den Geboten des Herrn, eures Gottes, nicht gehorcht.«[12] In den Jahrhunderten nach der Erbauung des Tempels durch Salomon kam das Volk immer wieder vom Weg ab – und nach vierhundert Jahren des Ungehorsams musste es wahrhaftig bitter dafür bezahlen. Erst eroberten die Assyrer(3) den Norden des Gelobten Landes: Zehn der zwölf Stämme, die ihren Ursprung auf Jakob, den Sohn Isaaks, dem Gott den Namen Israel gegeben hatte, (1)zurückführten, wurden in die Gefangenschaft geführt und verschwanden im Schlund Mesopotamiens. Nicht einmal nach der Eroberung des Assyrischen Reichs durch Babylonien(2) im Jahr 612 v. Chr. kehrten sie zurück. Dann, im Jahr 587 v. Chr., waren Juda(1), das Königreich, das seinen Namen vom vierten Sohn Israels(2) ableitete, sowie seine Hauptstadt Jerusalem(12) an der Reihe. Der König von Babylon eroberte die Stadt im Sturm. »Er steckte das Haus des Herrn sowie den Königspalast und alle großen Häuser Jerusalems in Brand.«[13] Kein Teil des von Salomon(2) erbauten Tempels blieb verschont: weder die Beschläge aus Zypressenholz, noch die vergoldeten Tore, noch die bronzenen, mit Granatapfelornamenten geschmückten Säulen. Übrig blieben nur Ruinen und Unkraut.

Und als Babylon seinerseits fiel, als die Perser ihm den Herrschaftsmantel entrissen und Kyros(5) die Erlaubnis erteilte, den Tempel wieder aufzubauen, waren die Bauten, die auf dem Berg Morija(4) entstanden, nur noch ein Schatten dessen, was zuvor dort gestanden hatte. »Ist unter euch noch einer übrig, der diesen Tempel in seiner früheren Herrlichkeit gesehen hat? Und was seht ihr jetzt? Kommt es euch nicht wie ein Nichts vor in euren Augen?«[14] Die erschütterndste Erinnerung an verschwundene Herrlichkeiten war das Allerheiligste. Die Lade, auf die sich die Glorie Gottes höchstselbst, in einer Wolke von undurchdringlicher Dunkelheit, herabgesenkt hatte, war verschwunden. Niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Nur der schwarze Stein, den Pompeius(16) beim Betreten der Kammer sah, markierte nackt und ungeschmückt den Ort, wo sie einst gestanden hatte.

Und nun hatten wieder fremde Eindringlinge den Berg Morija(5) geschändet. Sogar als der Hohepriester und seine Gehilfen versuchten, die Tempelanlage von den Spuren der römischen Belagerung zu reinigen und im Tempel die gewohnten Riten wieder einzuführen, gab es Juden(17), die für ihre Bemühungen nur Hohn und Spott übrig hatten. Warum hätte Gott schließlich einem fremden Eroberer erlaubt, sich Zutritt zum Allerheiligsten zu verschaffen, wenn nicht, um seinem Zorn über dessen Hüter Ausdruck zu verleihen? Für die Kritiker der Tempelpriester war die Erklärung der Katastrophe offenkundig: Es war die Rache »dafür, dass die Söhne Jerusalems(13) das Heiligtum des Herrn entweihten, die Opfer Gottes in Gottlosigkeit schändeten«.[15] So wie bereits Jahrhunderte zuvor, während der Bedrängnisse durch die assyrischen und babylonischen Eroberungen, nevi’im aufgetreten waren, »Propheten«, die ihre Landsleute ermahnten, ihren Lebenswandel zu ändern, um nicht Gefahr zu laufen, ausgelöscht zu werden, so gab es jetzt, im Gefolge der Eroberungen des Pompeius, Juden(18), die auf ähnliche Weise an den für den Tempel Verantwortlichen verzweifelten.

»Weil du viele Völker ausgeplündert hast, plündern dich jetzt alle übrigen Völker aus.«[16] Vom Zorn Gottes überzeugte Moralisten zögerten nicht, diese bereits viele Jahrhunderte zuvor formulierten Warnungen auf die Priester in Jerusalem(14) anzuwenden. Dass Pompeius die Schätze des Tempels nicht angerührt hatte, bedeutete nicht, dass sich nicht die Soldaten eines zukünftigen römischen Kriegsherren ihrer bemächtigen würden. »Schneller als Panther sind ihre Pferde, und wilder als die Wölfe der Steppe. Ihre Reiter kommen dahergesprengt, sie kommen aus fernem Land, sie fliegen dahin gleich dem Adler, der sich auf die Beute stürzt.«[17] Nur wenn die Priester ihren Geiz bereuten und ihre Gier nach Gold, das sie aus der ganzen Welt zusammengescharrt hatten, würden sie verschont bleiben. Sonst würde Gottes Gericht mit Sicherheit und unverzüglich eintreffen: »Ihre Reichtümer und ihre Beute werden in die Hand der römischen Soldaten fallen.«[18]

Nun war es allerdings nicht so, dass die Mehrzahl der Juden(19) am Tempel und seinen Hütern verzweifelten. Das bezeugte schon die Menge an Reichtümern, die auf dem Berg Morija(6) angehäuft waren. Kritiker der Priester wiesen darauf hin, dass die dem Tempel gestifteten Opfer nicht nur aus Judaea kamen, sondern aus der ganzen zivilisierten Welt. Sehr viel mehr Juden(20) als im Gelobten Land selbst lebten jenseits seiner Grenzen. Für die große Mehrheit dieser Juden blieb der Tempel, was er immer gewesen war: die wichtigste Einrichtung jüdischen Lebens. Doch war er nicht die einzige. Wäre das der Fall gewesen, dann wäre es für außerhalb des Gelobten Landes ansässige Juden schwierig gewesen, auf längere Sicht Juden(21) zu bleiben. Die Entfernung zum Tempel, zu seinen Ritualen und Opfern hätte im Lauf der Zeit ihre jüdische Identität verblassen und verdunsten lassen.

Aber sie mussten gar nicht zu einem der drei großen, jährlich begangenen Pilgerfeste nach Jerusalem(15) reisen, um sich in der Gegenwart Gottes zu fühlen. Vielmehr mussten sie nur eines der zahlreichen Gebets- und Unterweisungshäuser aufsuchen, die es überall gab, wo Juden(22) lebten: ein »Haus der Versammlung«, eine »Synagoge«. Hier wurde den Knaben Lesen beigebracht, und Erwachsene wurden Zeit ihres Lebens in der Interpretation einiger sehr bestimmter Texte unterrichtet. Diese Texte waren liebevoll auf Pergamentrollen geschrieben und wurden, wenn sie nicht studiert wurden, in einem Schrein aufbewahrt, der deutlich an die lange verschwundene Bundeslade erinnerte: ein ehrfurchtgebietender Hinweis auf ihre Heiligkeit. Auch andere Völker konnten für sich beanspruchen, Texte von Göttern zu besitzen – doch gab es keine Schriften, die so getränkt waren mit Heiligkeit, so ehrfurchtsvoll behütet; keine, die von so zentraler Bedeutung waren für das Selbstverständnis eines ganzen Volkes, wie die Sammlung von Texten, die den Juden(23) als ihre heiligsten Schriften galten.

Tora nannten sie diese Sammlung: »Lehren«. Fünf Rollen stellten die anfängliche Umsetzung der Ziele Gottes dar: von der Erschaffung der Welt bis – nach zahlreichen Mühsalen und beschwerlichen Wanderungen – zur Ankunft der Nachkommen Abrahams an den Grenzen Kanaans(3), als sie endlich Anspruch auf ihr Erbe anmelden konnten. Allerdings war damit das Ende noch nicht erreicht. Es gab viele andere Schriften, die den Juden(24) als heilig galten. Es gab historische Berichte und Chroniken, in denen alles von der Eroberung Kanaans bis hin zur Zerstörung und dem Wiederaufbau des Tempels detailliert dargestellt war. Aufzeichnungen von Prophezeiungen gehörten dazu, in denen Männer, die das Wort Gottes wie ein Feuer in ihren Knochen gespürt hatten, diesem Wort Ausdruck verliehen. Es gab Sprichwortsammlungen, Geschichten von inspirierten Männern und Frauen, und eine Sammlung von Gedichten, die Psalmen. Alle diese unterschiedlichen Texte, die von vielen verschiedenen Händen im Lauf vieler Jahre niedergeschrieben worden waren, dienten dazu, die Juden(25), die nicht im Gelobten Land lebten, mit einer dringend notwendigen Zusicherung zu versorgen: dass ihr Leben in fremden Städten ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk keinen Abbruch tat.

Und auch dass die große Mehrheit von ihnen drei Jahrhunderte nach der Eroberung der Welt durch Alexander nicht die Sprache ihrer Vorfahren, sondern Griechisch sprach, beeinträchtigte diese Zugehörigkeit nicht. Kaum siebzig Jahre nach dem Tod Alexanders gab es in Alexandria(5) sehr viele Juden(26), die das Hebräisch, in dem die meisten ihrer Schriften abgefasst waren, kaum noch verstehen konnten. Es hieß, der Auftrag, diese Schriften zu übersetzen, sei von keinem anderen als Demetrios von Phaleron(14) ausgegangen. Darauf erpicht, etwas zum Bestand der großen Bibliothek der Stadt beizutragen, hatte er aus Jerusalem(16) zweiundsiebzig Gelehrte kommen lassen. Nach ihrer Ankunft in Alexandria machten diese sich eifrig daran, den heiligsten aller Texte zu übersetzen: die fünf Schriftrollen, oder, wie sie im Griechischen bezeichnet waren, den Pentateuch.11 Weitere Texte folgten nicht lange danach. Demetrios(15), so eine einigermaßen unwahrscheinliche Behauptung, habe sie als »philosophisch, makellos – und göttlich« bezeichnet.[19] Von den griechischsprachigen Juden(28) wurden sie nicht als gewöhnliche Bücher angesehen, sondern als ta biblia ta hagia gepriesen – »die heiligen Bücher«.12

Dabei war eine subtile und zugleich folgenschwere Ironie am Werk. Ein Textcorpus, ursprünglich von Gelehrten zusammengestellt und überarbeitet, welche die zentrale Bedeutung Jerusalems(17) für die Verehrung ihres Gottes als selbstverständlich angesehen hatten, löste sich von der Zielsetzung seiner Herausgeber ab: Die biblia erlangten für die Juden(30) in Alexandria(7) eine Heiligkeit, die mit derjenigen des Tempel selbst konkurrierte. Wo immer es einen Schreiber gab, der ihre Zeilen auf Pergament bannte, oder einen Schüler, der sie in sein Gedächtnis aufnahm, oder einen Lehrer, der ihre Geheimnisse erklärte – jedes Mal wurde die Heiligkeit der biblia untermauert. Und damit auch ihre Überzeitlichkeit und Unzerstörbarkeit. Ein solches Monument konnte ja nicht so ohne Weiteres gestürmt werden. Es bestand nicht aus Holz und Stein, konnte also nicht von einem siegreichen Heer dem Erdboden gleichgemacht werden. Wo immer Juden sich niederließen, würde auch dieses Corpus ihrer Schriften gegenwärtig sein. Juden(31), die weit entfernt vom Tempel, etwa in Alexandria oder Rom lebten, wussten, dass sie mit ihren heiligen Büchern, vor allem mit der Tora, einen sichereren Weg zum Göttlichen besaßen, als ihn irgendein Götzenbild vermitteln konnte. »Wo gibt es ein so großes Volk, das Götter hat, die ihm so nahe sind wie der Herr, unser Gott, uns, sooft wir zu ihm rufen?«[20]

Mochten die Römer ihre Weltherrschaft haben; die Griechen ihre Philosophie; mochten die Perser behaupten, sämtliche Dimensionen von Wahrheit und Ordnung begriffen zu haben – allesamt waren sie verblendet. Finsternis bedeckte die Erde, und Dunkelheit die Völker. Erst wenn der Herr, der Gott Israels, sich über sie erheben und seine Herrlichkeit über ihnen erstrahlen würde, würden sie ans Licht kommen und Könige in die Helligkeit des anbrechenden Tages.

Denn außer ihm gab es keinen Gott.

Wie Menschen sollt ihr sterben

Über ein halbes Jahrtausend vor der Einnahme Jerusalems durch Pompeius, als die Babylonier(3) den ersten Tempel stürmten und in Schutt und Asche legten, deportierten sie die Elite des eroberten Königreichs nach Babylon(6). Dort, in einer Stadt, welche die wildesten Vorstellungen der Exilierten weit übertraf, erblickten sie Tempel, so hoch, dass sie an den Himmel zu rühren schienen. Esagila(1), der größte von allen, wurde von den Babyloniern als ältestes Gebäude der Welt gepriesen, als die Achse des Kosmos. Er war nicht von Menschenhand erbaut worden. Vielmehr hatten die Götter seine unfassbare Masse errichtet, auf dass sie Marduk(1), dem König des Himmels, als Palast diene. In seinem Inneren fanden sich von Marduk selbst gefertigte Statuen und ein gewaltiger Bogen: »Zeichen, die nie in Vergessenheit geraten dürfen«,[21] für einen Sieg, den der Gott am Anfang der Zeit errungen hatte. Damals – so der Glaube der Babylonier(4) – hatte Marduk mit einem Drachen von entsetzlicher Größe gekämpft, einem aus dem wogenden Ozean aufgetauchten Ungetüm, und er hatte diesen Drachen mit seinen Pfeilen zweigeteilt und aus den beiden Hälften des Kadavers Himmel und Erde geformt. Anschließend hatte Marduk(2) sich an einen weiteren Schöpfungsakt gemacht. Statt die Götter zu fortdauernder mühevoller Arbeit zu verdammen, erklärte er: »Ich werde Menschen machen, welche die Erde bewohnen sollen, auf dass Dienst an den Göttern eingeführt werde und ihnen Heiligtümer gebaut werden.«[22] Die Menschheit, aus Staub und Blut gebildet, wurde geschaffen, um zu schuften.

Es wäre für die aus Jerusalem(18) Verschleppten – die von ihrer Niederlage und vom Gefühl ihrer eigenen Winzigkeit noch ganz betäubt waren – ein Leichtes und naheliegend gewesen, dieses trostlose Verständnis von der Bestimmung des Menschen zu übernehmen. Doch das taten sie nicht. Statt sich der Marduk(3)-Verehrung anzuschließen, klammerten sie sich an ihre Überzeugung, dass nicht Marduk, sondern ihr eigener Gott die Menschheit erschaffen hatte. Mann und Frau, so wurde es in unterschiedlichen Berichten der Exilierten erzählt, waren mit einem einzigartig privilegierten Status geschaffen worden. Sie allein waren als Ebenbild Gottes erschaffen; nur ihnen war die Herrschaft über jedes lebende Geschöpf übertragen worden; nur sie allein waren, nach sechs Tagen göttlicher Arbeit, in denen der Himmel, die Erde und alles im Himmel und auf der Erde ins Sein gerufen wurde, als Gipfel der Schöpfung erschaffen worden.

Die Menschen hatten Anteil an der Würde des einen Gottes, der nicht wie Marduk(4) mit einem Meermonster kämpfen musste, bevor er sich an sein eigenes Schöpfungswerk machen konnte, sondern der vielmehr den gesamten Kosmos allein und ohne Unterstützung geschaffen hatte. Für Priester, die aus den Ruinen Jerusalems(19) verschleppt worden waren, enthielt die Geschichte eine Versicherung, die sie bitter nötig hatten: dass nämlich der Adressat ihrer Verehrung nach wie vor uneingeschränkt herrschte. In jeder folgenden Generation wurden Versionen dieser Geschichte erneut erzählt. Sie wurden niedergeschrieben, miteinander verbunden, in einen einzigen, definitiven Bericht gefasst, der schließlich den Anfang der Tora bildete. Lange nachdem die Größe Marduks zu Staub zerfallen, der Esagila(2)-Tempel zur Wohnstatt von Schakalen geworden war, wurde das Buch, das seine griechischen Übersetzer als Genesis bezeichneten, weiterhin abgeschrieben, studiert und verehrt. »Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.«[23]

Für Juden(32), die darum rangen, den Katastrophen einen Sinn zu geben, die periodisch immer wieder über sie hereinbrachen, sowie den Erniedrigungen, die ihnen von einem Eroberer nach dem anderen angetan wurden – für diese Juden(33) ergab sich aus der Beteuerung, dass alles sehr gut war, allerdings ein Problem. Wenn die von Gott geschaffene Welt gut war, warum ließ er es dann zu, dass dergleichen Dinge geschahen? Jüdische Gelehrte waren zu der Zeit, als Pompeius(17) den Tempel stürmte, auf eine düstere Erklärung gekommen. Die gesamte Geschichte der Menschheit war eine Geschichte des Ungehorsams gegenüber Gott. Nachdem Gott Mann und Frau geschaffen hatte, gab er ihnen einen Garten namens Eden(2), in dem die verschiedensten exotischen Pflanzen wuchsen, und sie durften von allen Früchten essen, außer von denen eines einzigen Baums, »des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse«.[24] Allerdings wurde Eva(2), die erste Frau, von der Schlange dazu verführt, die Frucht des Baums zu kosten; und Adam(2), der erste Mann, nahm sie von ihr und kostete ebenfalls.

Gott vertrieb das Paar zur Strafe aus dem Garten Eden(3) und verfluchte es: Er verfügte, dass von nun an Frauen unter Schmerzen ihre Kinder gebären sollten, dass Männer im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen mussten und dass die Menschen sterben sollten. Ein hartes Urteil – aber womöglich nicht einmal das ganze Ausmaß vom Sturz der Menschheit. Nach der Vertreibung aus Eden hatte Eva(3) Adam(3) Kinder geboren; und Kain(1), ihr ältester Sohn, hatte Abel(1), den Zweitgeborenen, erschlagen. Von diesem Augenblick an sah es so aus, als gehöre der Makel der Gewalt untrennbar zum Menschsein. Das Blutvergießen nahm kein Ende. Jüdische Gelehrte, die das ermüdende Auftreten von Verbrechen durch die Generationen hindurch nachvollzogen, mussten sich fragen, woher – oder von wem – eine solche Fähigkeit zum Bösen stammte. Ein Jahrhundert vor der Einnahme Jerusalems durch Pompeius war ein jüdischer Weiser namens Jesus Ben Sirach(1) zu der logischen, höchst unheilvollen Schlussfolgerung gelangt: »Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang, und ihretwegen müssen wir alle sterben.«[25]

Für Juden(34) stellte dieser Hang zum Ungehorsam, diese natürliche Neigung, sich gegen Gott aufzulehnen, eine besondere Herausforderung dar. Schließlich waren ausschließlich sie aus all den vielen Völkern der Welt von Gott für diese besondere Gnade auserwählt worden. Sie hatten den Schöpfer des Universums nicht wie die anderen vergessen. Derselbe Gott, der mit Adam und Eva im Garten Eden wandelte, war ihren Vorfahren erschienen, hatte ihnen Kanaan(4) zum Eigentum gegeben und ihretwegen zahlreiche Wunder gewirkt. Diese Dinge waren jedem Juden(35) bewusst. Sie waren in den Schriftrollen aufgezeichnet, welche die Quintessenz jüdischer Identität ausmachten, konnten also in jeder Synagoge nachgelesen werden. Aber diese Schriften waren nicht nur eine Chronik der Unterwerfung, sondern auch der Auflehnung; der Abgötterei ebenso wie der Treue zu Gott. In den Berichten von der Eroberung Kanaans ist von einem Land die Rede, in dem es nur so wimmelte von Altären, die zertrümmert, und Heiligtümern, die geplündert werden mussten – die andererseits aber, noch während sie zerstört wurden, auch eine fatale Faszination ausstrahlten. Nicht einmal das Geschenk des Gelobten Landes vermochte es, Israel(4) vom Götzendienst abzuhalten. »Sie erwählten sich neue Götter.«[26]

Ein Buch nach dem anderen stellte denselben Kreislauf dar: Glaubensabfall, Bestrafung, Reue. Juden(36), die lasen, wie ihre Vorväter von den Göttern der Nachbarvölker – der Kanaaniter, der Syrer, der Phönizier – verführt worden waren, wussten genau, worin die letzte, die krönende Strafe bestanden hatte: Israel(5) versklavt; Jerusalem(20) geplündert; der Tempel zerstört. Diese Traumata suchten jeden Juden(37) heim. Warum hatte Gott diese schlimmen Ereignisse zugelassen? Das war – im Gefolge des babylonischen Exils – die Frage, die mehr als alles andere die Zusammenstellung der jüdischen Schriften inspirierte. Juden(38), die in den Schriftrollen lasen, die von der Geschichte ihres Volks erzählten, mussten sich über die Vergeltung im Klaren sein, die sie erneut heimsuchen konnte, wenn sie je von der Verehrung Gottes abließen; doch war in ihren Schriften neben der Warnung auch Hoffnung enthalten. Selbst wenn wieder Zerstörung über Jerusalem hereinbrach, die Juden(39) bis an die Enden der Erde zerstreut wurden und Salz und Schwefel auf ihre Felder regneten, würde das an der Liebe Gottes nichts ändern. Wenn sie bereuten, dann wurde ihnen wie jedes Mal in der Vergangenheit vergeben. »Und der Herr, dein Gott, wird dein Schicksal wenden und sich deiner erbarmen und dich wiederum aus allen Völkern zusammenführen, unter die dich der Herr, dein Gott, zerstreute.«[27]

Diese anspruchsvolle, emotionale, wechselhafte Gottheit war ein göttlicher Schutzherr wie kein anderer. Apollon(3) hatte die Trojaner favorisiert, Hera(2) die Griechen, doch kein Gott hatte sich je zuvor mit derart eifersüchtiger Besessenheit um ein Volk gekümmert wie der Gott Israels. Er war weise – und eigensinnig; allmächtig, doch leicht aufzubringen; beständig, aber auch alarmierend unberechenbar. Juden(40), die über die Zeugnisse in ihren Schriften nachsannen, zweifelten nie daran, dass er ein Gott war, zu dem man eine zutiefst persönliche Beziehung haben konnte; doch der Schlüssel zu seiner doch sehr vielschichtigen Identität lag in seinen zahlreichen Widersprüchen. Ein Krieger, der in seinem Zorn feindliche Heere in Schrecken versetzt, Städte vernichtet und das Abschlachten ganzer Völker befahl – gleichzeitig aber die Armen aus dem Staub emporhob und die Notleidenden aus der Asche. Der Herr über Himmel und Erde, »der dahinfährt über den Wolken«,[28] war gleichzeitig der Trost jener, die ihn aus dunklen Nächten des Elends und Grauens anriefen. Ein Schöpfer und ein Vernichter; ein Ehemann und eine Ehefrau; ein König, ein Hirte, ein Gärtner, ein Töpfer, ein Richter: der Gott Israels wurde in den jüdischen heiligen Büchern als all dieses gerühmt, und die Reihe ließe sich fortsetzen.

»Ich bin der Erste und der Letzte; außer mir gibt es keinen Gott.«[29] Ein historisches Selbstlob. Aufgezeichnet in der Zeit nach der Eroberung Babylons(7) durch Kyros(6) im Jahr 539 v. Chr., trug es eine Behauptung vor, die nie zuvor in der Geschichte so unumwunden formuliert worden war. So wie Marduk(5) sich den persischen Sieg als Verdienst anrechnete, so tat das – in fast identischen Formulierungen – der Gott Israels; Marduk war jedoch, obwohl seine Priester behaupteten, er sei es gewesen, der Kyros als Weltherrscher auserwählt hatte, nur einer in einer unermesslichen Vielfalt von Göttern. Götter und Göttinnen; Kriegsgötter und Handwerksgötter; Sturmgötter und Fruchtbarkeitsgötter: »Ihr seid ein Nichts.«[30] Lange nach Kyros’ Tod, als die Tempel von Babylon(8) nur noch Ruinen und die Götzenbilder im Staub verschwunden waren, konnten Juden(41) in ihren Synagogen lesen, was Jahrhunderte zuvor dem persischen König zugesichert worden war – und sie wussten, dass diese Zusicherungen wahr waren. »Ich gürte dich«, das hatte der Eine Gott Israels Kyros(7) verkündet, »obwohl du mich nicht kennst, damit man vom Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang erkennt, dass neben mir kein anderer ist. Ich bin der Herr, und sonst ist niemand.«[31]

Doch wenn Juden(42) in ihren Schriften zur Zeit der Ausbreitung römischer Macht eine Bestätigung der Wahrheit dieser rühmenden Feststellung fanden, so gab es doch verstreut in diesen Schriften auch Spuren sehr viel älterer Anschauungen. Der gewaltige Bildteppich, an dem Priester und Schriftgelehrte nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier woben, war aus zahlreichen alten Webfäden gefertigt. Nichts illustriert die Vielfalt der Quellen, aus denen diese gesponnen worden waren, besser als die Bandbreite an Namen, mit denen in den jüdischen biblia Gott belegt wird: Jahwe(1), Schaddai, El. Dass sich all diese Namen schon immer auf dieselbe Gottheit bezogen hatten, war natürlich die Leitvorstellung jedes jüdischen Gelehrten; allerdings gab es auch weiterhin genügend Hinweise auf eine ganz anders geartete Möglichkeit. »Wer ist wie du unter den Göttern, Herr?«[32] Eine derartige Frage war ein Echo aus einer fernen, kaum vorstellbaren Welt – einer Welt, in der Jahwe(2), der Gott, an den sie gestellt wurde, nur als einer unter mehreren Göttern Israels(6) rangierte.

Wie hatte er sich dann aber zum Herrn über Himmel und Erde entwickeln können, der keine Ebenbürtigen oder Konkurrenten neben sich hatte? Die Priester und Schriftgelehrten, welche die Schriften zusammenstellten, in denen deren Geschichte enthalten war, wären entsetzt davon gewesen, eine solche Frage auch nur in Erwägung zu ziehen. Doch bei aller Sorgfalt und Achtsamkeit, mit der sie bei ihrer Aufbereitung vorgingen, wurde nicht jede Spur der Gottheit, die Jahwe(3) ursprünglich gewesen war, aus der jüdischen Heiligen Schrift entfernt. Es war immer noch möglich, Hinweise auf einen Kult zu finden, der sich von dem im Tempel praktizierten sehr deutlich unterschied – Hinweise, konserviert wie Insekten in Bernstein, auf einen Sturmgott, der als Stier angebetet wurde, »angerückt von Edoms Grünland«[33], aus dem Land südlich von Kanaan(5), und der dann als Oberster im Rat der Götter herrschte.13 »Denn wer in den Wolken ist wie der Herr? Wer unter den Söhnen der Götter käme ihm gleich?«[34]

Dass es im Himmel eine strenge Hierarchie gab, verstand sich für sämtliche Völker von selbst. Wie sonst hätte Marduk(6) es geschafft, seine Mitgötter dazu zu zwingen, für ihn zu arbeiten? Auch der auf dem Gipfel des Olymp thronende Zeus(6) war der Oberste eines Hofstaats. Allerdings hatte die Ausstrahlung seines Ruhms ihre Grenzen. Die anderen Götter im Olymp wurden davon nicht aufgezehrt. Zeus absorbierte nicht diverse Eigenschaften der anderen Götter in sein eigenes Wesen und tat deren Überbleibsel dann als Dämonen ab. Wie anders dagegen der Gott Israels! Wovon leiteten sich die vielfältigen Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten seines Charakters letztlich ab? Möglicherweise von einem Prozess, der das genaue Gegenteil dessen war, was die jüdischen heiligen Bücher priesen: ein Prozess, in dem Jahwe(5) in einem Ausmaß, das sich bei keiner anderen Gottheit fand, letztlich viele Wesen in sich selbst aufnahm. Wenn er im allerersten Satz der Genesis als der Schöpfer des Himmels und der Erde dargestellt wird, dann ist das hebräische Wort für Gott – Elohim(1) – bemerkenswert zweideutig. Obwohl es in der gesamten jüdischen Heiligen Schrift als Singular verwendet wird, hat das Substantiv eine Pluralendung. »Gott« war früher einmal »Götter« gewesen.

Dass die Israeliten(7) ihr Eintreffen in Kanaan(6) nicht damit einleiteten, dass sie Götzenbilder stürzten und Tempel zerstörten, sondern ganz im Gegenteil zunächst die Gebräuche ihrer Nachbarn übernahmen – das war eine Möglichkeit, welche die jüdische Bibel emphatisch, mit geradezu aggressiver Heftigkeit zurückwies.14 Aber war der Protest nicht möglicherweise zu heftig? Hatte es denn überhaupt eine Eroberung Kanaans gegeben? Die von den Juden(43) überlieferte Darstellung, die von einer Abfolge spektakulärer Siege unter dem Heerführer Josua(1) berichtet, stellte den Sturz von Städten dar, die entweder zur für die israelitische Invasion angesetzten Zeit längst aufgegeben waren oder erst noch gegründet werden mussten.15 Die Überzeugung der Verfasser des Buchs Josua, dass Gott das Land seinem auserwählten Volk als Belohnung für seinen Gehorsam geschenkt hatte, spiegelte die Gefahren deren eigener Epoche wider: Denn sehr wahrscheinlich wurde der Text im sich ausbreitenden Schatten assyrischer Größe abgefasst. Jedoch spiegelte er noch mehr wider. Der Nachdruck, mit dem im Buch Josua betont wurde, dass die Israeliten als Eroberer nach Kanaan gekommen waren, verwies auf eine bohrende, nicht behobene Angst: dass nämlich die Verehrung ihres eigenen Gottes ursprünglich den in Kanaan üblichen Gepflogenheiten mehr verdankte, als jüdische Gelehrte zugeben mochten. Gebräuche, die sie als monströse Neuerungen verdammten – das Anbeten anderer Götter, das Füttern der Toten, das Opfern von Kindern –, waren womöglich das genaue Gegenteil, nämlich ehrwürdige Traditionen, im Verhältnis zu denen ihr eigener, sich entwickelnder Kult die Neuheit darstellte.

Dessen revolutionäre Qualität – die Art, wie sich aus dem Kokon kanaanitischer, syrischer und edomitischer Glaubensinhalte eine neue, schicksalhafte Auffassung vom Göttlichen herausentwickelte – wurde in den jüdischen Texten verhüllt. Allerdings nicht zur Gänze. Unter den Psalmen findet sich insbesondere einer, der den verworrenen und langwierigen Prozess dramatisiert, durch den elohim – »die Götter« – zum höchsten Gott – Elohim(2) – wurden:

Gott steht auf in der Götterversammlung,
inmitten der Göttersöhne hält er Gericht.[35]

Ungerechtigkeit; Begünstigung der Bösen; Verachtung der Armen, Erniedrigten und Beleidigten: Das waren die Verbrechen, deren die versammelten Götter angeklagt waren. Ihre Vergehen hatten die Welt in Dunkelheit getaucht und ins Wanken gebracht. Ihre Bestrafung: auf immer aus dem Himmel verstoßen zu sein. Elohim(3) selbst verkündete ihr Urteil.

Wohl sprach ich: Zwar seid ihr Götter
und Söhne des Höchsten allesamt.
Doch, wahrlich, sterben müsst ihr wie Menschen,
wie jeder der Fürsten werdet ihr fallen.[36]

Im himmlischen Rat würde fortan nur noch ein einziger Gott herrschen.

Die Juden(44) mochten ein unbedeutendes Volk sein, nebensächlich für die Angelegenheiten der Großmächte; doch der Gott ihrer Schriften, der Götter gestürzt hatte, ganz ähnlich, wie Eroberer wie Alexander oder Pompeius Könige stürzten – er war ein Gott, dessen Herrschaftsbereich die gesamte Schöpfung umfasste und der keinen Konkurrenten neben sich duldete. »Denn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang ist mein Name groß unter den Völkern.«[37] Das war ein ganz bewusster Anklang an den persischen König. Der Großmut des Kyros(8) gegenüber den aus Jerusalem(21) Exilierten war nicht vergessen. Im Unterschied zu den Herrschern Ägyptens, Assyriens oder Babyloniens hatte er Respekt für den Gott Israels gezeigt. Mehr als sonst ein ausländischer Monarch in den Annalen der Geschichte der Vertriebenen hatte Kyros ihnen das Vorbild eines Königs geliefert. Der Himmel hatte nach ihrer Rückkehr aus dem babylonischen Exil einen Anflug vom Aussehen des persischen Hofes angenommen.

»Von woher kommst du?« So fragt Gott im Buch Hiob(1) einen Würdenträger aus seinem Gefolge mit dem Titel »der Widersacher« – Satan(1). Seine Antwort: »Ich streifte auf der Erde umher und erging mich auf ihr.«[38] In Athen hatte die Furcht vor den Geheimagenten des Großkönigs Aristophanes dazu veranlasst, einen von ihnen als ein einziges riesiges Auge darzustellen; in den jüdischen Schriften hingegen gab es an den königlichen Spionen nichts zu lachen. Dazu waren sie viel zu mächtig, viel zu bedrohlich. Als Gott auf Hiob verweist als »untadelig und rechtschaffen, einen Mann, der Gott fürchtet und das Böse meidet«,[39] erwidert Satan spöttisch, dass es für die Reichen nicht schwer sei, gut zu sein. »Doch strecke einmal deine Hand aus und rühre an all seinen Besitz. Wahrhaftig, er wird dir ins Angesicht fluchen!«[40] Gott lässt sich auf die Wette ein und liefert Hiob in die Hand Satans(2) aus. Obwohl Hiob unschuldig ist, werden all seine irdischen Güter vernichtet; seine Kinder erschlagen; seine Haut ist »von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel« mit Geschwüren bedeckt. »Hiob(2) nahm sich eine Scherbe, um sich damit zu schaben, während er mitten in der Asche saß.«[41]

Ein zur skaphe verurteilter Krimineller hatte natürlich keine Hand frei, um sich zu kratzen; doch die Macht, Fleisch auf den Knochen verrotten zu lassen, war im Zeitalter persischer Größe ein besonders schreckenerregendes Kennzeichen königlicher Macht. Was war also vom Anspruch des Dareios(9) und seiner Erben zu halten, dass sie, wenn sie ihre Opfer der Folter unterzogen, dies im Namen der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Lichtes taten? Während Hiob(3) in der Asche kauerte, suchten ihn drei Gefährten auf, und nachdem sie sieben Tage und sieben Nächte schweigend bei ihm gesessen waren, versuchten sie herauszufinden, warum ihm solche Qualen zugefügt wurden.

Beugt etwa Gott das Recht?
Beugt der Allmächtige denn die Gerechtigkeit?
Haben deine Söhne gegen ihn gesündigt,
gab er sie ihrem eigenen Frevel preis.[42]

So lautete die anderswo in den jüdischen Texten gegebene Versicherung: dass Gott nur die Übeltäter bestrafte, so wie er ja andererseits auch die Gerechten stets bevorzugte. Hiob(4) weist diese beruhigende Vorstellung jedoch zurück. »Warum denn bleiben Frevler noch am Leben? Sie werden alt, sind rüstig und gesund.«[43] Das Erstaunlichste aber ist, dass die Geschichte damit endet, dass Gott selbst aus einem Gewittersturm zu Hiob spricht und rundweg die von dessen Gefährten vorgebrachte Behauptung verwirft. »Ihr habt über mich nicht die Wahrheit gesprochen«, teilt er den Gefährten mit, »wie mein Knecht Hiob.«[44] Eine Antwort auf die Frage, warum Hiob so grausam bestraft wurde, obwohl er unschuldig ist, bleibt jedoch aus. Gott gibt ihm alles wieder zurück, was er verloren hat, er verdoppelt es sogar, und segnet ihn mit neuen Söhnen und Töchtern. Doch die Kinder, die er verloren hat, werden nicht aus dem Staub wiedererweckt, zu dem sie zurückgekehrt sind. Sie bekommt der trauernde Vater(5) nicht zurück.

Als Apollon(4) die Kinder Niobes(3) tötete, kam niemand auf die Idee, sich darüber zu beklagen, dass er es mit seiner Rache übertrieb. Als Herr des silbernen Bogens konnte er mit denen, die ihn beleidigten, verfahren wie es ihm beliebte. Apollon offenbarte seine Göttlichkeit nicht dadurch, dass er auf die Klagen von Sterblichen reagierte, sondern indem er Taten vollbrachte, die über den Horizont ihrer Möglichkeiten unendlich weit hinausgingen. Wie Marduk(7) hatte er sogar einen Drachen besiegt. Auch in Kanaan(8) wurden Geschichten von Göttern erzählt, die mit Drachen und Meermonstern kämpften – und dadurch bewiesen, dass sie legitimerweise im Himmel herrschten. Eine solche Arroganz war für die Verfasser der Genesis natürlich nichts anderes als Unsinn und Blasphemie, daher achteten sie in ihrer Darstellung der Schöpfung darauf, ganz deutlich zu machen, dass Elohim(4) die Kreaturen der Tiefe erschaffen, nicht bekämpft hatte. »Und Gott schuf die großen Seetiere.«[45]

Doch die stille Oberfläche der jüdischen heiligen Bücher war trügerisch. Immer wieder regte sich in den Tiefen der Erinnerungen und Traditionen, die nicht einmal der sorgfältigste Bearbeiter vollständig eliminieren konnte, ein schlangengleiches Ungetüm, ein Monster, das tatsächlich mit Gott gekämpft hatte, und wälzte sich in die Wahrnehmbarkeit. Es trug unterschiedliche Namen – Rahab(1), Tanin(1) und Leviathan(1) –, und es war dieselbe siebenköpfige Schlange, die in Dichtungen ihr Unwesen getrieben hatte, die fast ein Jahrtausend vor dem Buch Hiob(6) entstanden waren. »Fängst du den Leviathan am Angelhaken, drückst seine Zunge mit dem Fangseil nieder?«[46] Diese Frage, die an Hiob aus dem Gewittersturm heraus gestellt wurde, war natürlich rein rhetorisch. Nur Gott konnte Leviathan zähmen. Wenn er im Buch Hiob als Herrscher in der Manier eines persischen Königs dargestellt wird, als Herr, auf dessen Gebot hin Tausende rastlos unterwegs sind, dann bezog er sich auch dann, wenn er mit einem Mann sprach, der ihn der Ungerechtigkeit zieh, auf unendlich viel ältere Quellen, um seine Macht zum Ausdruck zu bringen. Kein Wunder also, dass Hiob eingeschüchtert war. »Ich weiß nun, dass du alles kannst.«[47]

Hiob(7) hatte allerdings die Macht Gottes niemals in Frage gestellt, sondern lediglich seine Gerechtigkeit. Und darauf wusste Gott nichts zu sagen. Das Buch Hiob – verfasst zu einer Zeit, als erstmals die Existenz eines zugleich allmächtigen und ganz gerechten Gottes erwogen wurde – ging das Wagnis ein, die Implikationen mit unerschrockener Tiefe auszuloten. Dass jüdische Gelehrte es in ihre große Zusammenstellung heiliger Schriften mit aufnahmen, war ein deutliches Zeugnis für ein neues, drängendes Problem: den Ursprung des Bösen. Für andere Völker mit ihrer Vielzahl an Göttern hatte das Thema noch kaum eine Rolle gespielt. Denn schließlich gab es um so mehr Erklärungen für menschliches Leiden, je mehr Götter es im Kosmos gab. Wie aber sollte man menschliches Leiden in einem Kosmos erklären, in dem es nur einen einzigen Gott gab?

Lediglich die Anhänger Ahura Mazdas(8) – die, ähnlich wie die Juden, an ein Universum glaubten, das von einem ganz und gar weisen, ganz und gar guten Gott erschaffen wurde – mussten sich mit einer Frage dieser Größenordnung auseinandersetzen. Vielleicht war in der Anwesenheit Satans(3) – der so ungeheures Leid über Hiob(8) bringt, dann aber geheimnisvollerweise aus der Geschichte verschwindet – vor dem Thron Gottes ein gewisses Element der von den Persern(21) vorgeschlagenen Lösung enthalten, die Macht des Bösen zu erklären: dass es ein mit dem Guten rivalisierendes, ihm an Stärke ebenbürtiges Prinzip gab. Doch die jüdischen Gelehrten waren nicht willens, diese Eventualität in Erwägung zu ziehen. Zwar bewahrten sie Kyros(9) ein ehrendes Angedenken, doch sie hatten in ihren Schriften keinen Raum für etwas, das auch nur im Entferntesten der kosmischen Schlacht zwischen Arta und Drauga ähnelte. Es konnte nur den einen Gott geben. Es war weniger blasphemisch, ihm die Erschaffung des Bösen zuzuschreiben, als die Möglichkeit zuzulassen, das Böse hätte je eine Bedrohung für seine Macht darstellen können. Jahwe(6) äußert sich in seiner Ansprache an Kyros verächtlich über die Vorstellung eines Universums, das Streitobjekt zwischen der Wahrheit und der Lüge ist. »Ich bilde das Licht und erschaffe die Finsternis, ich wirke das Heil und schaffe das Unheil; ich bin der Herr, der all dies wirkt.«[48]

Nirgends sonst in den jüdischen heiligen Texten findet sich etwas, das dieser kühnen Behauptung ähnelt. Wenn Gott allmächtig war, dann war er auch ganz und gar gerecht. In diesen einander zugeordneten Überzeugungen sahen die Juden(45) – ungeachtet der offensichtlichen Spannung zwischen ihnen – die Quintessenz ihres Verständnisses vom Göttlichen. Dass Gott die Erstürmung des Tempels durch die Römer nicht unterstützt hatte, um sein auserwähltes Volk für seine Übertretungen zu bestrafen, sondern vielmehr, weil er ebenso sehr der Urheber des Chaos wie der Ordnung war, diese Möglichkeit war so grotesk, dass sie nicht einmal gedacht werden konnte. All seine Werke standen im Dienst der Ordnung. Dass seine Ziele manchmal mysteriös verhüllt waren, hielt ihn nicht davon ab, menschliche Verzweiflung zu ergründen, sich um die Armen zu kümmern, und Trost zu spenden, wo Trauer herrschte.

Die Elenden und Armen suchen Wasser,
aber es ist keines da;

ihre Zunge ist vor Durst vertrocknet.

Doch ich, der Herr, erhöre sie;
ich, der Gott Israels, verlasse sie nicht.[49]

Nie zuvor waren dergleichen Unvereinbarkeiten mit so schwerwiegenden Folgen innerhalb einer einzigen Gottheit zusammengenommen worden: Macht und Intimität, Bedrohlichkeit und Mitleid, Allwissenheit und Besorgtheit.

Und dieser Gott – allmächtig, allbarmherzig, der über die ganze Welt herrschte und die Harmonie des Kosmos aufrechterhielt – dieser Gott hatte sich als seinen besonderen Günstling das Volk der Juden(46) erwählt. Diese mochten hilflos sein angesichts der Macht der römischen Legionen, unfähig, einen Eroberer daran zu hindern, bis in ihr Allerheiligstes vorzudringen, ein Volk, das keinerlei Aussicht hatte, jemals die Weltherrschaft zu gewinnen – doch sie hatten diesen einen Trost: die Gewissheit, dass ihr Gott wahrhaftig der eine, einzige Herr war.

Der Bund

Der stichhaltige Beweis ließ nicht lang auf sich warten. Göttliche Bestrafung ereilte Pompeius(18). Im Jahr 49 v. Chr. entbrannte ein Bürgerkrieg in der römischen Welt, und im Jahr danach wurde der Mann, der in Rom(13) über zwei Jahrzehnte hinweg den Ton angegeben hatte, von einem rivalisierenden Kriegsherren in der Schlacht besiegt: Julius Caesar. Keine sieben Wochen später war Pompeius der Große tot. Die Geschwindigkeit und die Tiefe seines Sturzes versetzten die Welt in Erstaunen – und wurden in Judaea mit überschäumender Freude begrüßt. So wie Gott über Leviathan(2) triumphiert hatte, so hatte er jetzt »den Übermut des Drachen« zermalmt.[50] Ein Dichter gab im Stil der Psalmen die Einzelheiten wieder: wie Pompeius in Ägypten(3) Zuflucht gesucht hatte; wie er mit einem Speer durchbohrt wurde; wie sein Leichnam auf den Wellen umhertrieb, und keiner war da, der ihn begrub. »Er hatte nicht erkannt, dass Gott allein groß ist.«[51]

Die Szene vom Tod des Pompeius(19) war in der Vorstellungswelt der Juden(47) besonders wirkmächtig. Nirgends hatte ihr Gott seine Macht spektakulärer oder folgenschwerer eingesetzt als in Ägypten(4). Einst, bevor sie ihr Erbe antraten und das Land Kanaan(9) in Besitz nahmen, waren die Kinder Israels(10) Sklaven in Ägypten gewesen. In Sorge über ihre wachsende Anzahl war der Pharao »hart gegen sie vorgegangen«.[52] Doch er und all seine Götter waren bis in den Staub erniedrigt worden. Zehn Plagen hatten sein Königreich verwüstet. Das Wasser des Nils hatte sich in Blut verwandelt; Ungeziefer war in jeden Winkel des Landes hineingekrochen oder in Schwärmen darüber hergefallen; das gesamte Land war in Finsternis gehüllt gewesen. Lange Zeit war der Pharao verstockt geblieben. Erst nach einem Höhepunkt an Schrecklichkeit, als die Erstgeborenen aller Ägypter in einer einzigen Nacht dahingerafft wurden, »und alle Erstgeburt des Viehs«,[53] hatte er die Israeliten(11) ziehen lassen. Doch kurz darauf widerrief er seine Entscheidung. Der Pharao und seine Streitwagen verfolgten die flüchtigen Israeliten und trieben sie bis an das Ufer des Roten Meers. Doch der Wunder war noch kein Ende. Ein mächtiger Ostwind erhob sich, und die Wasser teilten sich, und die Kinder Israels gingen auf dem Grund des Meeres zum anderen Ufer. Der Pharao und seine Krieger machten sich an die Verfolgung. »Die Wasser fluteten zurück und bedeckten die Wagen und Reiter des ganzen Heeres des Pharao, die hinter ihnen in das Meer gezogen waren. Nicht einer von ihnen blieb am Leben.«[54]

Das war also – in einer Welt, wo Götter ihre Gunst Königen und Eroberern schenkten – ein weiteres Merkmal des ganz besonderen Charakters des Gottes Israels: dass er Sklaven zu seinen Günstlingen erkor. Die Erinnerung daran, wie er ihre Vorfahren befreit hatte, wurde von den Juden(48) immer gehütet und wertgeschätzt. Als Wolke bei Tag und Feuer bei Nacht war seine Gegenwart sichtbarer gewesen als jemals zuvor oder danach: Zuerst hatte er sie in Gestalt einer Säule durch die Wüste geführt, dann war er in einem Zelt anwesend, das als sein Thronsaal diente. Einen bestimmten Mann erwies er seine Gunst in ganz besonderer Weise: »Denn«, so Gott der Herr zu ihm: »du hast Gnade in meinen Augen gefunden und ich kenne dich mit Namen.«[55]

Keinen anderen Propheten in der Geschichte Israels(12) verband eine so enge Beziehung mit Gott wie Mose(1). Er hatte vor dem Pharao vom Herrn gesprochen, er hatte die Plagen heraufbeschworen, die über Ägypten(5) gekommen waren, er hatte seinen Stab erhoben, um die Wasser des Roten Meers zu teilen. Am erschütterndsten und intimsten aber war die Begegnung Gottes mit Mose auf einem Berg namens Sinai(1).16 Als die Israeliten(13) sich auf der Ebene unterhalb des Berges versammelten, verbarg eine dunkle Wolke seine Spitze, aus der heraus es donnerte und blitzte, und es erklang das Geschmetter eines Widderhorns. »Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder auch nur seinen Fuß zu berühren! Jeder, der den Berg berührt, muss sterben.«[56] Als aber das Widderhorn immer lauter erscholl und der Berg erzitterte und Gott der Herr selbst in Rauch und Feuer darauf herabkam, wurde Mose aufgefordert, den Berghang hinaufzusteigen. Der Himmel traf auf die Erde; das Himmlische traf mit dem Menschlichen zusammen. Was dann geschah, sollte zur Achse werden, um die sich der gesamte Lauf der Geschichte drehte.

Die Juden(49) hielte an dieser Überzeugung nicht leichtfertig fest. Sie konnten auf das vertrauen, was geschehen war, als Mose(3) auf den Sinai(3) gestiegen war, weil sie die Ergebnisse immer noch in ihrer Obhut hatten. Eingeschrieben in die Tora waren Gebote, die ursprünglich vom Finger Gottes selbst auf Steintafeln geschrieben worden waren. »Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«[57] Neun ähnlich lapidare Anweisungen folgten: Verfügungen, den Sabbat einzuhalten und seine Eltern zu ehren; keine Bildnisse zu machen und den Namen Gottes nicht zu missbrauchen; nicht zu töten und keinen Ehebruch zu begehen, nicht zu stehlen, falsches Zeugnis zu geben oder fremdes Gut zu begehren. Alle zehn Gebote jedoch waren für ihre Wirkmacht vom ersten abhängig. Schließlich gab es andere Götter, die nicht solchen Wert auf moralische Prinzipien legten wie der Gott Israels. Einigen war Schönheit am wichtigsten; einigen Wissen; einigen Macht.

Die Zehn Gebote waren nicht nur Anweisungen, sondern ein Ausdruck der Identität des Gottes Israels. Die Angehörigen seines auserwählten Volkes waren dazu berufen, nicht als Sklaven zu leben, sondern als Männer und Frauen, die ihm näher gebracht wurden, die an seiner Natur Anteil haben sollten. Deshalb warnte er bereits, während er Mose(4) die Zehn Gebote gab, dass er »ein eifersüchtiger Gott« war.[58] Seine Liebe war so beschaffen, dass sie, wenn sie verraten oder zurückgewiesen wurde, mörderisch gewalttätig werden konnte. Als Mose nach einer Abwesenheit von vierzig Tagen und vierzig Nächten vom Berg herabstieg und entdeckte, dass die Israeliten(14) ein goldenes Kalb aufgestellt hatten und es anbeteten, wurde er so zornig, dass er die Steintafeln zerschmetterte und anordnete, dreitausend Männer abzuschlachten. Gottes Zorn hingegen war noch fürchterlicher. Zunächst wollte er die Israeliten ganz ausmerzen. Erst als Mose noch einmal auf den Sinai(4) stieg und ihn um Gnade anflehte, ließ er sich besänftigen.

Jedoch bezweifelten die Juden(50) nie, dass es Liebe war, was ihr göttlicher Schutzherr für sie empfand. »Denn du bist ein geheiligtes Volk des Herrn, deines Gottes; dich erwählte der Herr, dein Gott, aus allen Völkern auf der Erde, damit du ihm zu Eigen bist.«[59] Als Unterpfand hatte er Mose(5) nach den Zehn Geboten noch ein sehr viel umfangreicheres Corpus an Verfügungen überlassen. Dazu gehörten Anweisungen, wie Altäre zu bauen waren, wie Priester sich zu reinigen hatten, wie man Opfer darbrachte; doch nicht nur die Priester waren diesen Anweisungen unterworfen. Alle Kinder Israels(15) waren mit einbezogen. Die Mose(6) von Gott gegebenen Gesetze schrieben vor, welche Nahrung sie essen durften und welche nicht; mit wem sie Sex haben durften und mit wem nicht; wie sie den Sabbat begehen sollten; wie sie ihre Sklaven zu behandeln hatten; dass sie für die Armen eine Nachlese der Ernte übriglassen sollten; dass sie von Topfhaarschnitten absehen sollten. Handelte man diesen Vorschriften zuwider, dann beschwor man schlimmste Strafen auf Israel(16) herab, und dennoch waren sie ebenso wie die Zehn Gebote nicht Ausdruck von Tyrannei , sondern von Zuneigung.

Gott der Herr, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hatte den Kindern Israels eine noch nie dagewesene Ehre von großer Tragweite erwiesen: Er hatte mit ihnen einen Bund geschlossen. Kein anderes Volk hatte auch nur erwogen, dass etwas Derartiges möglich sein könnte. Götter waren dazu da, Verträge zu bezeugen, aber nicht, selbst zum Vertragspartner zu werden. Wer waren die Sterblichen, dass sie sich hätten vorstellen können, einen Bündnisvertrag mit einer Gottheit abschließen zu können? Nur die Juden(51) hatten es gewagt, eine solche Neuheit, einen so blasphemischen Einfall in Betracht zu ziehen. Dass sie in ein Abkommen mit Gott dem Herrn eingetreten waren, bildete den Grundstein ihres gesamten Verhältnisses zum Göttlichen. Es war der Bund, festgehalten auf den von Mose getragenen Tafeln, den aufzubewahren die Lade gebaut worden war; es war der Bund, der ehrfürchtig im Allerheiligsten niedergelegt wurde, das sich im Herzen des von Salomon erbauten Tempels befand. Und nicht einmal nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier war der Vertrag zwischen Gott und seinem auserwählten Volk aufgehoben worden. Seine Bestimmungen hatten Bestand. Die jüdischen Schriften, wieder und wieder überarbeitet in den Jahrhunderten, die auf das Verschwinden der Bundeslade folgten, waren vor allem zusammengestellt worden, um diese Bestimmungen zu bewahren. Jeder Jude(52), der sie studierte, erneuerte den Bund in seinem Herzen.

Zum Ende der Tora wird erwähnt, dass Mose(7) am Vorabend der Eroberung Kanaans(10) durch Josua(3) starb. Obwohl er die Israeliten(17) aus der Knechtschaft in Ägypten befreit und sie vierzig Jahre durch die Wüste geführt hatte, setzte er nie einen Fuß in das Gelobte Land. »Bis heute kennt niemand sein Grab.«[60] Das Geheimnis, das den Ort seines Grabes verschleierte, trug auch dazu bei zu verschleiern, wie es dazu kam, dass seine Geschichte auf diese Weise erzählt wurde. In Ägypten ließ sich keine Erwähnung von Mose finden; keine Erwähnung der Plagen; keine Erwähnung der wundersamen Teilung des Roten Meers. Es war, als hätte er außerhalb der jüdischen Schriften nie existiert. Doch diese Qualität des Mythischen, die sich mit Mose verband; das Ausmaß, in dem er – mit den Worten eines Wissenschaftlers – »eine Gestalt der Erinnerung, jedoch nicht der Geschichte« war,[61] war genau das, was seine Begegnung auf dem Berg Sinai(5) mit ihrer transzendenten, unvergleichlichen Macht tränkte.

Die Verfasser der Tora bedienten sich, als sie die Vereinbarung formulierten, die sie mit Gott dem Herrn verband, natürlich der Gepflogenheiten ihrer Zeit. »Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt hat.«[62] Dieser Stil entsprach den Gepflogenheiten im Nahen Osten: Ein König beginnt eine Verlautbarung mit wohltönendem Selbstlob. Als Gott der Herr drohte, Ungehorsam würde den Himmel über Israel(18) in Bronze und die Erde unter seinen Füßen in Eisen verwandeln, da bediente er sich der Drohbegriffe eines assyrischen Eroberers. Als er versprach, dass er »all die Völker, vor denen du dich fürchtest«, geißeln werde,[63] verhieß er Schutz, wie es wohl auch ein Pharao getan hätte, der sich einem Bündnis verschrieb. Doch auch wenn die Aufzeichnung seines Bundes in Formulierungen abgefasst sein mochte, die den Diplomaten im Nahen Osten vertraut waren, gab sie den Juden(53) etwas völlig Unvergleichliches: eine Gesetzgebung, die direkt von einem Gott autorisiert war.

Es bedurfte keiner Sterblichen, diese Gesetzgebung zu stützen. Das ging aus den heiligen Büchern der Juden eindeutig hervor. Selbst das Öl, mit dem David und Salomon als Zeichen ihrer Auserwähltheit gesalbt wurden, verlieh ihnen nicht das, was Hammurabi(3) und seine Erben in Babylon(9) immer als selbstverständlich angesehen hatten: das Recht eines Königs, Gesetze zu erlassen. Die Monarchie in Israel(19) war im Vergleich mit derjenigen Mesopotamiens eine blasse und beschnittene Angelegenheit. Nur indem sie den Bund vollständig aufkündigte, konnte sie hoffen, sich durchzusetzen – und das, so steht es in den jüdischen Schriften, war genau das, was passierte. Könige wurden aufmüpfig. Sie brachten anderen Göttern Rauchopfer dar und erließen eigene Gesetze.

Dann, wenige Jahrzehnte bevor Jerusalem(22) von den Babyloniern(5) eingenommen wurde, berichtete ein König namens Joschija(1), im Tempel sei etwas ganz Erstaunliches entdeckt worden: ein lange verlorenes »Gesetzbuch«.[64] Er rief die Priester »und das ganze Volk, klein und groß« zusammen[65] und verlas, was es vorschrieb. Das geheimnisvolle Buch entpuppte sich als Dokument des Bundes selbst. Joschija rief sein Volk zur ordnungsgemäßen Verehrung des Herrn auf, doch tat er das nicht im eigenen Namen. Er(2) selbst war nicht weniger als die Geringsten seiner Untertanen den Vorschriften von Gottes Gesetz unterworfen. Gesetzgebung war das Vorrecht Gottes. Immer wieder wurden in jüdischen Texten Zweifel laut, ob Israel(20) als Gottes Volk überhaupt Könige brauchte. »Der Herr soll Herrscher über euch sein.«[66]

Und so kam es dann auch. Die Monarchie wurde 587 vom siegreichen König Babylons(6) beseitigt; die Tora hingegen hatte Bestand. Großmächte stiegen auf und gingen unter, Eroberer kamen und gingen; doch unbeirrbar von Ebbe und Flut der vergehenden Jahrhunderte hielten die Juden(54) am Bund fest. Ohne ihn hätten sie sich wie so viele andere Völker im rastlosen Mahlstrom der Imperien aufgelöst: Babylon, Persien, Makedonien, Rom. Dennoch konnten viele Juden(55) einer heimlichen Furcht nicht entkommen. Was würde geschehen, wenn sie die genauen Einzelheiten des Bundes vergaßen? Als Rechtfertigung für diese Befürchtung verwiesen Moralisten auf das Volk, das in jener Region lebte, die bis zu seiner Zerstörung durch die Assyrer(4) das Königreich Israel(21) gewesen war, und das sich wie die Juden(56) auf einen Pentateuch berief.

Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Völkern unterstrichen jedoch lediglich ihre Unterschiede. Die Samaritaner(1) lehnten die Heiligkeit Jerusalems(23) ab; sie sprachen den Schriften, die nach der Zeit des Mose entstanden waren, jegliche Autorität ab; und sie behaupteten, nur sie allein hätten am unveränderten Gesetz Gottes festgehalten. Es war also kein Wunder, dass die Juden(57) in ihnen perverse Mischlinge sahen – und insofern eine beständige Warnung. Gottes Gesetz aufzugeben war gleichbedeutend damit, dass man aufhörte, »ein weises und kluges Volk« zu sein.[67] Einzig und allein der Bund verlieh den Juden(58) die Fähigkeit, in den Angelegenheiten der Welt Sinn zu erkennen. Dass Übertretungen so schnell bestraft wurden wie seit eh und je, wurde aus der Einnahme Jerusalems durch die römischen Legionen klar; dass Gott der Herr sich an seinen Teil der Abmachung hielt, zeigte der klägliche Tod des Pompeius.

Wenn jüdische Gelehrte darüber nachdachten, was aus dem Bund alles folgte, sahen sie sich nun aber nicht nur dazu in der Lage, den Ablauf der vergangenen Ereignisse zu erklären. Es gab auch noch die Zukunft. In den Büchern der Propheten fanden sich anschauliche Visionen dessen, was am Ende der Tage kommen würde: vom Verderben, das die Erde heimsuchen würde, von neuem Wein, der eintrocknet, vom verdorrenden Weinstock; vom Panther, der beim Böcklein liegt, und einem kleinen Jungen, der »das Kalb und den Löwen hüten« kann.[68] Ein allumfassenden Königreich der Gerechtigkeit würde entstehen, mit Jerusalem(24) als seiner Hauptstadt und einem Fürsten aus dem Stamm Davids als seinem König. »Er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und spricht ein gerechtes Urteil über die Armen des Landes. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stab seines Mundes, und tötet den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen.«[69]

Als Gottes Gesalbter sollte dieser Fürst herrschen: als sein »Messias« oder – übersetzt ins Griechische – als sein Christos. In den Visionen eines Propheten namens Jesaja(1) war dieser Titel bereits Kyros(10) zugeschrieben worden; jetzt jedoch, nach der Entweihung des Tempels durch Pompeius(20), erhielt er eine sehr viel akutere Bedeutung. Deutlich spürbar vibrierte die Erwartung eines Messias aus dem Stamme Davids in der Luft, der den Bund mit neuer Lebenskraft erfüllen, die Spreu vom Weizen trennen und die verlorenen Stämme Israels wiederherstellen würde. Sämtliche fremden Gebräuche würden aus Israel(22) hinweggefegt werden. Der Messias würde die Arroganz ungerechter Herrscher zerschmettern wie Töpfergeschirr. »Und er hält die Heidenvölker unter seinem Joche, dass sie ihm dienen, und den Herrn wird er verherrlichen offenkundig vor der ganzen Welt und wird Jerusalem(25) rein und heilig machen, wie es zu Anfang war.«[70]

Und für kurze Zeit sah es nach der Ermordung des Pompeius auch ganz so aus, als sei das Ende der Tage tatsächlich absehbar. Die Rivalitäten römischer Kriegsherren erschütterten weiterhin die mediterrane Welt. Legion krachte auf Legion, Schlachtflotte auf Schlachtflotte. Und die Juden waren nicht die einzigen, die zum Himmel schauten und auf bessere Zeiten hofften.

Nun kehren die Jungfrau und das goldene Zeitalter zurück,
Nun wird neuer Nachwuchs vom hohen Himmel entsandt.
Mit der Geburt dieses Knaben wird das Geschlecht aus Eisen vergehen,
Und ein Geschlecht aus Gold wird auf der ganzen Welt erstehen.[71]

Diese Zeilen – sie stammen vom römischen Dichter Vergil(1) – sprachen in aller Deutlichkeit von den Hoffnungen auf ein goldenes Zeitalter, von Hoffnungen, die in Italien(1) ebenso verbreitet waren wie in Judaea; und als sie dann wenige Jahre später in Erfüllung gingen, war es kein jüdischer Messias, der als Herr der Welt auf dem Thron saß, sondern ein Mann, der für sich beanspruchte, von einem Gott abzustammen.

Augustus(2) war der Adoptivsohn von Julius Caesar(4), der Pompeius(21) besiegt hatte; einem Mann, dessen Taten ihn nach seinem Tod aufgrund offizieller Bekanntmachung in die himmlischen Hallen versetzt hatten. Und damit nicht genug: Es gab Leute, die behaupteten, Augustus sei von Apollo(5) gezeugt worden, der dazu die Form einer Schlange angenommen habe. Es war also jedenfalls nicht schwierig zu glauben, dass er gleich in doppelter Hinsicht als Divi filius gelten durfte: als »Sohn Gottes«. Die Herrschaft des römischen Volkes, die bereits den Anschein erweckt hatte, sich am Rande der Auflösung zu befinden, wurde von ihm auf ein neues, formidables Fundament gestellt. Frieden war für einen Mann wie Augustus keine passive Tugend, und die Ordnung, die er der Welt brachte, wurde mit Waffengewalt durchgesetzt. Römische Statthalter, die den Auftrag hatten, in den diversen Provinzen des Imperiums Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, übten ein Monopol der Gewalt aus. Grässliche Bestrafungen konnten sie anordnen: Sie hatten das Recht, jeden, der sich Rom(14) gegenüber feindselig verhielt, zum Tod auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen, oder ihn den wilden Tieren vorzuwerfen, oder an ein Kreuz zu nageln. Im Jahr 6 n. Chr., als Judaea(2) unmittelbar römischer Verwaltung unterstellt wurde, erhielt der Präfekt, der die Provinz regieren sollte, »von Augustus volle obrigkeitliche Gewalt – unter anderem auch das Recht, die Todesstrafe zu verhängen«.[72]

Den Juden(59) wurde das brutale Faktum ihrer Unterwerfung auf erniedrigende Weise unter die Nase gerieben. Das dämpfte jedoch keineswegs ihre Erwartung, dass ein gewaltiger Wandel in den Angelegenheiten der Welt bevorstand und dass mit dem Anbruch der Endzeit gerechnet werden musste – im Gegenteil: Sie wurde durch die römische Besatzung sogar noch intensiviert. Die Juden(60) reagierten unterschiedlich. Einige zogen sich von der Welt in die Wüste östlich von Jerusalem(26) zurück; andere, die dem Tempel treu blieben, klammerten sich mit ihren Hoffnungen auf Rettung an die von den Priestern vorgegebenen Riten und Tempeldienste. Wieder andere – eine Gruppe von Gelehrten, die sogenannten »Pharisäer(1)« – träumten von einem Israel, in dem der Gehorsam gegenüber den Mose(8) von Gott gegebenen Gesetzen sich so allgemein und absolut durchgesetzt haben würde, dass jeder Jude als Priester dienen würde. »Denn nicht einmal den Vorwand der Unkenntnis hat er uns gelassen.«[73]

Besonderheit konnte allerdings im Zeitalter eines Imperiums, das sich als weltumspannend verstand, durchaus als Trotz eingestuft werden. Je mehr sich unterschiedliche Völker unter der Herrschaft Roms(15) zusammengeführt fanden, desto enger klammerten sich die Juden(61) an den Bund und betonten ihr Anderssein. Der römischen Elite, die auf dem Gebiet menschlicher Gebräuche so gewieft war, wie es nur Weltherren sein konnten, erschienen die Juden(62) als Inbegriff von Perversität. »Alles, was wir für heilig halten, verachten sie; und was wir als Tabu ansehen, lassen sie zu.«[74] Doch auch wenn diese Eigentümlichkeiten zweifellos Argwohn provozierten, konnten sie auch Bewunderung hervorrufen.

Unter griechischen Intellektuellen galten die Juden(63) schon seit Langem als ein Volk von Philosophen. Ihre Präsenz in Alexandria(8), in den umtriebigen Straßen jenseits der Bibliothek, machte aus der Geschichte, wie die Israeliten(23) aus Ägypten(6) entkommen waren – dem Exodos, wie es auf Griechisch hieß –, einen Gegenstand besonderer Faszination. Einige Philosophen waren der Meinung, Mose(9) sei ein abtrünniger Priester gewesen und seine Anhänger eine Bande Aussätziger; andere stellten ihn als einen Visionär dar, der die Geheimnisse des Kosmos zu ergründen suchte. Er wurde sowohl dafür gerühmt, dass er verboten hatte, die Götter in menschlicher Form darzustellen, als auch für seine Lehre, dass es nur eine einzige Gottheit gab. Den Gelehrten im Zeitalter des Augustus erschien er als Denker, der genau in eine schnell immer globaler werdende Welt passte. »Gott ist einzig und allein das, was uns alle und die Erde und das Meer umgibt, das was wir Himmel und Weltall und die Natur der Dinge nennen. Welcher vernünftige Mensch würde es da wagen, dies in einer Gestalt abzubilden, die mit irgendetwas bei uns Ähnlichkeit hat?«[75]

Dass eine derartige Interpretation der Lehren des Mose mehr den Stoikern(5) verdankte als der Tora, änderte nichts an einer folgenschweren Wahrheit: dass nämlich die jüdische Auffassung des Göttlichen tatsächlich gut zu einem Zeitalter passte, in dem Abstände geschrumpft und Grenzen dahingeschmolzen waren wie nie zuvor. Der Gott Israels war ein »großer König über alle Lande«.[76] Einerseits war er der Urheber des Bundes, der ihn ausschließlich mit den Juden(64) verband; gleichzeitig aber war er fähig, »Fremden, die sich dem Herrn anschließen«, seine Zuneigung zu versprechen.[77] Solche Fremde gab es im großen Schmelztiegel des römischen Mittelmeerraums in immer größerer Zahl. Zwar beschlossen die meisten, sich eher an den Rändern der Synagoge aufzuhalten und sich mit einem Status nicht als Juden(65), sondern als theosebeis zufrieden zu geben: »Gottesfürchtige«. Vor allem Männer schreckten vor dem letzten Schritt zurück. Die Bewunderung für Mose(10) setzte sich nicht notwendig in die Bereitschaft um, sich unters Messer zu begeben. Viele der Aspekte jüdischen Lebens, die Außenseitern völlig lächerlich vorkamen – die Beschneidung, das Verbot, Schweinefleisch zu essen –, wurden von Bewunderern der Lehren des Mose als spätere Zusätze abgetan, als Werk »abergläubischer Priester und Tyrannen«.[78] Dem widersprachen die Juden(66) natürlich; und doch gab die weit verbreitete Begeisterung für ihre Propheten und ihre Schriften einen Hinweis darauf, wie schnell sich die Verehrung ihres Gottes womöglich würde ausbreiten können, wenn es denn möglich wäre, die Vorschriften der Tora weniger anspruchsvoll zu machen.

Aber auch unter diesen Begingungen gab es echte Konvertiten. In Zeiten, da mehr Juden(67) Griechisch sprachen als Hebräisch, war es durchaus möglich für einen Griechen – oder überhaupt für jedermann –, Jude zu werden. Nirgends war das offensichtlicher als in Alexandria(9), dem Urbild der kosmopolitischen Stadt; doch zunehmend traf man auch überall sonst, wo es Synagogen gab, auf Konvertiten. In Rom, wo die Skepsis der Elite gegenüber fremden Kulten schon seit Langem ein Maßstab für deren Anziehungskraft für die Massen war, war der Argwohn gegenüber diesem Trend besonders stark ausgebildet. Konservative mussten nicht die Tora zu Rate ziehen, um die fundamentale Unvereinbarkeit des jüdischen Gottes mit den Göttern ihrer Stadt festzustellen. »Als erstes wird den Konvertiten beigebracht, die Götter zu verachten, sich von ihrem Vaterland loszusagen und ihre Eltern, Kinder und Brüder als wertlos anzusehen.«[79] Die Juden(68) waren sicher nicht die einzigen, die sich vor dem fürchteten, was eine multikulturelle Welt mit sich brachte.

Eine Spannung, die innerhalb der jüdischen Schriften immer schon bestanden hatte, kristallisierte sich nun ganz klar heraus: Wie verstand man den Gott, dessen Worte und Taten darin aufgezeichnet waren, am besten: als Gott des Bundes oder als Schöpfer aller Menschen? Die Frage schwelte schon lange, doch der Aufstieg eines Reiches, das so weltumspannend war wie das römische, verlieh ihr nun unvermeidlich zusätzliche Dringlichkeit. Der wechselseitige Argwohn zwischen Juden und Heiden – also all den anderen diversen Völkern der Welt – ging einher mit einer ebenfalls beiderseitigen Faszination. Die Wildnis östlich von Jerusalem(27), wo Männer sich zwischen einsamen Hügeln zusammenfanden, um im Einklang mit der Tora zu leben und einen Hass auf die Sünder zu kultivieren, hatte ihren Gegenpol in Alexandria(10), wo griechischsprachige Mose(11)-Forscher womöglich ohne Zögern ihre Bewunderung für die römische Ordnung formulierten oder Augustus(3) als »einen Lehrer der Frömmigkeit« priesen.[80] So wie die Pharisäer(2) von einem Israel(24) träumten, das sich zu einem Volk aus Priestern entwickelte, so gab es Gelehrte, die sich vorstellten, die Menschen auf der ganzen Welt dazu zu bringen, den Gesetzen des Mose zu gehorchen: »Barbaren und Griechen, die Einwohner von Kontinenten und Inseln, die östlichen Völker und die westlichen, Europa und Asien; kurz, die gesamte bewohnte Welt von einem Ende bis zum anderen.«[81]

Und vielleicht brachte die Eingliederung der Juden(69) in das universale, von Augustus(4) regierte Reich ja ganz und gar nicht Gottes Zorn zum Ausdruck, sondern deutete auf etwas ganz anderes hin: auf die unmittelbar bevorstehende Erfüllung des göttlichen Plans für die gesamte Menschheit.