V

Nächstenliebe

362 n. Chr.: Pessinus

Der neue Kaiser(2) traf während seiner Reise durch Galatien(18) in jedem Tempel, den er aufsuchte, auf Zeichen des Verfalls. Farbe blätterte von Statuen ab, auf den Altären waren keine Blutspritzer zu erkennen. Der stolze Paradegang der alten Götter war zu einem Kriechen abgesackt. Das wurde wohl nirgends deutlicher als in Pessinus(1). Hier hatte seit unvordenklichen Zeiten Kybele(5) ihren Sitz. Einst hatten ihre kastrierten Priester die gesamte Stadt beherrscht. Von Pessinus aus war im Jahr 204 v. Chr. die erste Statue der Göttin nach Rom(31) geliefert worden. Ein halbes Jahrtausend später machten sich noch immer Pilger auf den Weg hierher, um der göttlichen Mutter die Ehre zu erweisen. Es wurden allerdings immer weniger. Sogar in Pessinus(2) selbst verlor Kybele(6) an Rückhalt. Der massive Komplex ihres Tempels, der über Jahrhunderte hinweg die Stadt beherrscht hatte, verwies zunehmend nicht mehr auf ihre Macht, sondern auf deren Schwinden.

Der Schock angesichts dieser Zustände traf Flavius Claudius Julianus(3) bis ins Mark. Der Neffe Konstantins war als Christ erzogen worden, unter der Aufsicht von Eunuchen, die dafür sorgen sollten, dass er seinem Glauben treu blieb. Trotzdem hatte er sich als junger Mann vom Christentum losgesagt – und nachdem er im Jahr 361 Kaiser geworden war, hatte er sich verpflichtet, jene aus dem Christentum wieder zurückzugewinnen, welche »die ewigen Götter wegen des Leichnams eines Juden aufgegeben haben«.[1] Julian(4), ein brillanter Gelehrter und verwegener General, war auch ein Mann, der seinen Glaubensinhalten so ergeben war wie all jene, die er abschätzig als »Galiläer« bezeichnete.

Kybele(7) galt seine besondere Verehrung. Sie war es, so glaubte er, die ihn aus der Finsternis seines Kinderglaubens errettet hatte. Daher machte er, unterwegs in Richtung Osten, um einen Krieg gegen Persien(22) vorzubereiten, auf seiner Reise einen Umweg über Pessinus(3). Was er dort vorfand, empörte ihn. Sogar nachdem er sein Opfer dargebracht und jene geehrt hatte, die in ihrem Dienst für die Götter der Stadt treu geblieben waren, konnte er nicht umhin, angesichts der Vernachlässigung, mit der man Kybele begegnete, in eine aus Ärger und Verzweiflung gemischte Stimmung zu verfallen. Es war ganz klar: Die Menschen in Pessinus waren der göttlichen Schirmherrschaft unwürdig. Nachdem er die Galater verlassen hatte, tat er dasselbe, was Paulus drei Jahrhunderte zuvor getan hatte: Er schrieb ihnen einen Brief.

Genauer: Er schrieb an ihren Hohepriester. Bei seinem Bemühen zu erklären, warum die Verehrung Kybeles(8) so in Vergessenheit geraten konnte, begnügte Julian(5) sich nicht damit, die Unwissenden, Wankelmütigen zu beschuldigen. Die eigentlich Schuldigen waren die Priester selbst. Statt sich um die Armen zu kümmern, schwelgten sie in einem Leben wilder Hemmungslosigkeit. Damit musste Schluss sein. Wie konnten Priester sich in einer Welt voller Leid in Tavernen betrinken? Julian ermahnte sie streng, dass sie ihre Zeit besser zubringen würden, indem sie den Armen zu Hilfe kamen. Damit das möglich war, wollte er aus eigenen Mitteln Nahrungsmittel zur Verfügung stellen und jährlich nach Galatien(19) schicken lassen. »Ein Fünftel davon, so ordne ich an, soll für die Armen verwendet werden, die den Priestern dienen, der Rest an die Reisenden und die Bettler verteilt werden.«[2] Indem Julian sich zu diesem Wohlfahrtsprogramm verpflichtete, ging er selbstverständlich davon aus, dass Kybele einverstanden war. Der Kaiser betonte, die Sorge für die Schwachen und vom Leben Benachteiligten sei schon immer ein Hauptanliegen der Götter gewesen. Wenn man es nur schaffen würde, den Galatern das zu vermitteln, dann könnte man bei ihnen auch ihre althergebrachten Kultgewohnheiten wieder einführen. »Lehre sie, dass gute Werke zu tun von jeher unsere Praxis war.«[3]

Das jedoch war eine Aussage, die für die Kybele(9)-Priester zweifellos eine Neuigkeit darstellte. Hinter der asketischen Selbstlosigkeit von Julians(6) Phantasien versteckte sich eine sehr viel nüchternere Realität: Priester, deren Hingabe nicht der Nächstenliebe galt, sondern auf Tanzen, Cross-Dressing und Selbstkastration ausgerichtet war. Den Göttern waren die Armen egal. Anderes anzunehmen, war »leeres Geschwätz«.[4] Julian zitierte in seinem Schreiben an den Hohepriester von Galatien(20) im Zusammenhang mit den Gesetzen der Gastfreundschaft Homer(4), und er verwies darauf, dass sogar Bettler sich auf diese Gesetze berufen durften.

Doch machte das lediglich das Ausmaß seiner Verblendung deutlich. Die Helden der Ilias, die rücksichtslosen, goldenen Lieblinge der Götter, hatten die Schwachen und Erniedrigten verachtet. Dasselbe galt – bei allem Respekt, den Julian(7) ihnen entgegenbrachte – für die Philosophen. Die Hungernden verdienten kein Mitgefühl. Bettler trieb man am besten zusammen und deportierte sie. Mitleid war eine Bedrohung für die Selbstbeherrschung des Weisen. Nur Mitbürger mit gutem Leumund, denen ohne eigenes Verschulden Schlimmes widerfahren war, verdienten unter Umständen, dass man ihnen beistand. Natürlich gab es kaum etwas im Charakter der Götter, die Julian so verehrte, oder in den Lehren der Philosophen, die er so bewunderte, das irgendwie die Annahme gerechtfertigt hätte, dass die Armen einfach nur aufgrund ihrer Armut einen Anspruch auf Unterstützung hatten. Obwohl der junge Kaiser einen aufrichtigen Hass auf »galiläische« Lehren hegte und ihren Einfluss auf alles, was ihm lieb und teuer war, zutiefst bedauerte, war er blind für die Ironie, die seinem Plan, diese Lehren zu bekämpfen, zugrunde lag: dass dieser nämlich selbst hoffnungslos christlich war.

»Es ist schändlich, dass unsere Leute von uns keine Unterstützung erhalten, wo doch kein Jude je gezwungen ist zu betteln, und die gottlosen Galiläer nicht nur ihre eigenen Armen unterstützen, sondern unsere noch dazu.«[5] Julian(8) war das nur allzu bewusst. Die Wurzeln christlicher Nächstenliebe reichten tief. Im Gehorsam gegenüber sowohl der jüdischen Tradition als auch den Lehren ihres Herrn hatten die Apostel neuen Kirchen feierlich aufgetragen, immer »an die Armen zu denken«.[6] Von Generation zu Generation hatten Christen sich an diese Aufforderung gehalten. Jede Woche wurden in den Kirchen der römischen Welt Sammlungen für Witwen und Waisen, für die Gefangenen, für Schiffbrüchige und für Kranke veranstaltet. Im Lauf der Zeit, als die Gemeinden wuchsen und immer mehr Wohlhabende sich taufen ließen, nahmen auch die Mittel zu, die für die Unterstützung der Armen zur Verfügung standen. Es hatten sich regelrechte Systeme sozialer Absicherung herausgebildet.

Die gut organisierten Einrichtungen hatten sich in wachsendem Ausmaß innerhalb der großen Städte des Mittelmeerraums etabliert. Als Konstantin(16) Bischöfe für seine Zwecke anwarb, hatte er auch die karitativen Netzwerke, denen sie als vornehmliche Schirmherren dienten, an sich gebunden. Julian(9) hatte das in seinem Hass auf die Galiläer ganz klar erkannt. Große Gruppen von Bittstellern waren in der römischen Welt immer ein Maßstab für Macht gewesen – und Bischöfe waren in dieser Hinsicht tatsächlich sehr mächtig geworden. Die Reichen, Männer, die in früheren Generationen ihren Status dadurch zur Schau gestellt hätten, dass sie ihren Städten Theater, Tempel oder Badehäuser stifteten, fanden nun in der Kirche einen neuen Ort, wo sie ihre Ambitionen zum Ausdruck bringen konnten. Daher hatte Julian in einem ziemlich weltfremden Versuch, die Verehrung der alten Götter mit ähnlicher Anziehungskraft zu versehen, einen Hohepriester für Galatien(21) eingesetzt, und er hielt seine Untergebenen nachdrücklich dazu an, sich in der Armenfürsorge zu engagieren. Die Christen riefen in Julian nicht nur tiefe Verachtung hervor; sie erfüllten ihn auch mit Neid.

Seine Gegner nannten ihn Apostata, einen Verräter an seinem Glauben; doch Julian(10) fühlte sich ebenfalls betrogen. Er verließ Galatien und reiste weiter gen Osten nach Kappadokien(1), eine zerklüftete Landschaft, die berühmt war für die Qualität ihrer Pferde und ihres Salats und die der Kaiser gut kannte. Als Junge war er dort von dem argwöhnischen Constantius(2) faktisch in Haft gehalten worden, weshalb er mit den Eigenarten der örtlichen Honoratioren vollkommen vertraut war. Vor allem einer von ihnen hätte fast sein Spiegelbild sein können. Basilius(1) war wie Julian ein Mann, der in griechischer Literatur und Philosophie bewandert war, in Athen(30) studiert hatte und für seine Redekünste gerühmt wurde. Kurz, er war genau die Art von Mann, die der Kaiser auf seine Seite zu bringen hoffte – allerdings hatte sich Basilius für einen Weg entschieden, der demjenigen Julians genau entgegengesetzt war. Weit davon entfernt, sich von seiner christlichen Erziehung zu distanzieren, hatte er vielmehr seine ursprüngliche Laufbahn als Jurist aufgegeben. Indem er all seine Energie und sein Vermögen Christus anheimstellte, hatten er und sein jüngerer Brüder, ein glänzend origineller Theologe namens Gregor(1), schnell internationales Ansehen erworben.

Obwohl Basilius(2) sich während der Reise des Kaisers durch Kappadokien(2) nicht mit Julian(11) traf, war sein Ruhm doch so groß, dass viele in der Meinung, die beiden berühmtesten Männer ihrer Zeit hätten sich eigentlich begegnen müssen, die Sache selbst in die Hand nahmen.22 Als Julian ein Jahr, nachdem er Kleinasien verlassen hatte, in Mesopotamien im Kampf gegen die Perser(23) ums Leben kam, schrieb ein Soldat seines Gefolges einen Bericht, wie Basilius in einer Vision gesehen habe, dass Christus selbst einen Heiligen geschickt habe, der den Kaiser mit einem Speer ins Jenseits beförderte. Und während es keinen gab, der nach dem Tod des Kaisers seine Gegenrevolution fortsetzte, gelangten Basilius und Gregor(2) in immer einflussreichere Positionen. Im Jahr 370 wurde der ältere Bruder(4) zum Bischof von Caesarea(1) gewählt, der Hauptstadt Kappadokiens(3); zwei Jahre später erhielt der jüngere(3) ein neu eingerichtetes Bistum an der Hauptstraße nach Galatien, in Nyssa(1). Beide waren für ihren Einsatz für die Armen bekannt; beide erreichten infolgedessen einen Einfluss, der weit über die Grenzen ihres Geburtslandes hinausreichte. Julians Erkenntnis hatte sich bestätigt: Nächstenliebe war tatsächlich ein Machtfaktor.

Aber das bedeutete nicht, dass seine eigene Strategie deswegen weniger zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Die Sorge um die vom Leben Benachteiligten konnte nicht einfach aus dem Boden gestampft werden. Die Logik, die zwei reiche und gebildete Männer wie Basilius(5) und Gregor(4) dazu inspiriert hatte, ihr Leben den Armen zu weihen, wurzelte in den Grundlagen ihres Glaubens. »Verachtet nicht diese Menschen in ihrer Erniedrigung; meint nicht, sie verdienten keinen Respekt.« So die Mahnung Gregors. »Bedenkt, wer sie sind, und ihr werdet ihre Würde verstehen; sie haben die Natur unseres Heilands angenommen. Denn er, der Barmherzige, gab ihnen seine eigene Natur.«[7] Gregor trieb klarer als irgendeiner vor ihm die Folgerungen der Wahl Christi, als einer der Armen zu leben und zu sterben, zu ihrem logischen Schluss. Kein Philosoph hatte je gelehrt, dass Würde auch den stinkenden, schuftenden Massen zukam – Gregor(5) beharrte darauf, dass jedem Würde zustand. Es gab kein Menschenwesen, das so armselig, keines, das so verachtet oder verwundbar gewesen wäre, dass es nicht Zeugnis vom Bild Gottes in sich trug. Die Liebe Gottes zu den Ausgestoßenen und Verlassenen forderte, dass auch die Sterblichen sie liebten.

Diese Überzeugung hatte zur Folge, dass im Jahr 369, als die Randbezirke von Caesarea(2) von einer Hungersnot heimgesucht waren, Basilius(6) ein radikal neues Bauprojekt anstieß. Andere christliche Führer vor ihm hatten ptocheia gebaut, »Armenhäuser« – aber keines hatte einen so ehrgeizigen Umfang. Die Basileias, wie sie später genannt wurde, beschrieb ein von Ehrfurcht ergriffener Bewunderer als eine veritable Stadt, und sie umfasste neben einem Zufluchtsort für die Armen etwas, das faktisch das erste Krankenhaus war. Basilius, der während seines Aufenthalts in Athen auch Medizin studiert hatte, war sich nicht zu gut, sich selbst um die Kranken zu kümmern. Sogar Leprakranke, deren Verunstaltungen und eiternde Wunden sie zu einem besonders abstoßenden Anblick machten, wurden vom Bischof mit einem Kuss begrüßt und erhielten Unterkunft und Pflege. Je gebrochener die Männer und Frauen waren, umso mehr war Basilius bereit, Christus in ihnen zu sehen. Der Anblick eines Jungen auf dem Sklavenmarkt, der von seinen hungernden Eltern verkauft wurde – ein Kind geopfert, damit seine Geschwister ein paar magere Essensreste bekamen –, provozierte den Bischof zu einem besonders scharfen Angriff auf die Reichen. »Das Brot in eurer Speisekammer gehört den Hungrigen; der Mantel in eurem Schrank den Nackten; die Schuhe, die ihr vermodern lasst, den Barfüßigen; das Geld in euren Schatztruhen gehört den Armen.«[8] Die Tage, als ein reicher Mann lediglich ein selbstverherrlichendes Bauwerk finanzieren musste, um als öffentlicher Wohltäter gepriesen zu werden, waren ein für alle Mal vorbei.

Der Bruder des Basilius(7) ging sogar noch weiter. Sklaverei veranlasste Gregor(6) nicht nur dazu, die Auswüchse von Reichtum und Armut anzuprangern, sondern er bezeichnete die Einrichtung als solche als eine unverzeihliche Beleidigung Gottes. Der Mensch war von seinem Schöpfer frei geschaffen worden. Er und seine Freiheit waren daher buchstäblich unbezahlbar. »Das ganze Universum wäre keine angemessene Bezahlung für die Seele eines Sterblichen.«[9] Das aber war für seine Gemeinde entschieden zu radikal – eine zu aufwieglerische Perspektive, als dass man sie hätte ernst nehmen können: Denn wie sollten jene denn überleben, die weniger intelligent und leistungsfähig waren, wenn nicht als Sklaven? Diese Frage stellte sogar sein Bruder Basilius. Es konnte also nicht überraschen, dass Gregors Abolitionismus(1) kaum Unterstützer fand. Die Existenz der Sklaverei als zwar verdammenswertes, doch notwendiges Übel wurde von den meisten Christen akzeptiert – und zu ihnen gehörte auch Basilius(8). Eine Welt ohne Sklaverei würde es erst geben, wenn sich der Himmel mit der Erde vereinte. Die beharrliche Leidenschaft, mit der Gregor(7) betonte, dass der Besitz von Sklaven gleichbedeutend damit war, »seine eigene Macht über diejenige Gottes zu stellen«[10] und auf einer Würde herumzutrampeln, die jedem Mann und jeder Frau zustehe, fiel wie Samen unter die Dornen.

Doch gab es auch Samen, die auf gute Erde fielen. Aussätzige und Sklaven waren nicht die einzigen Schutzlosen von Gottes Kindern. In der ganzen römischen Welt sah man an Straßenrändern oder auf Müllhaufen immer wieder wimmernde Babys, die von ihren Eltern ausgesetzt worden waren. Andere wurden vielleicht in die Kanalisation geworfen, um dort zu Hunderten zu sterben. Von dem einen oder anderen exzentrischen Philosophen abgesehen hatte diese Praxis kaum einmal jemand in Frage gestellt. Es gab sogar Städte, wo althergebrachtes Recht tatsächlich eine Tugend daraus machte, Babys, die mit Behinderungen auf die Welt kamen, zum Wohl des Staates zum Tode zu verurteilen. Sparta(4), eine der gefeiertsten Städte Griechenlands, war der Inbegriff dieser Politik gewesen, und Aristoteles(7) hatte sie mit dem vollen Gewicht seines Prestiges legitimiert. Vor allem Mädchen waren in Gefahr, nach der Geburt unbarmherzig aussortiert zu werden. Jenen, die vom Straßenrand gerettet wurden, stand ausnahmslos ein Leben als Sklavin bevor. In den Bordellen lebten zahlreiche Frauen, die als Neugeborene von ihren Eltern ausgesetzt worden waren – so viele, dass das Thema lange Zeit Schriftstellern Stoff für Romane geliefert hatte. Nur wenige Völker – der eine oder andere germanische Stamm und natürlich die Juden(88) – standen der Aussetzung ungewollter Kinder ablehnend gegenüber. Ansonsten war es praktisch für jedermann seit jeher völlig normal. Allerdings eben nur so lange, bis sich ein christliches Volk herausgebildet hatte.

Was das für die mit dem Müll weggeschmissenen Säuglinge bedeutete, wurde am besten weder von Basilius(9) noch von Gregor(8), sondern von ihrer Schwester verdeutlicht. Macrina(1), die älteste von neun Geschwistern, war in vielerlei Hinsicht auch die einflussreichste. Sie war es gewesen, die ihren Bruder davon überzeugt hatte, sich von der Juristerei abzuwenden und Christus zu weihen; in ähnlicher Weise konnte sie von Gregor als seine brillanteste Lehrperson gepriesen werden. Die gebildete, charismatische und außerordentlich asketische Macrina entsagte den Freuden der Welt so umfassend, dass es ihre Zeitgenossen mit Ehrfurcht erfüllte, doch wandte sie sich nicht vollständig von der Welt ab. Als in Kappadokien(4) eine schreckliche Hungersnot wütete und »den Armen das Fleisch wie Spinnweben von den Knochen hing«,[11] unternahm Macrina einen Ausflug zu den Müllhalden. Die neugeborenen Mädchen, die sie rettete, nahm sie mit nach Hause und zog sie als ihre eigenen Kinder auf.

Ob Macrina(2) Gregor(9) unterrichtet hatte oder umgekehrt – jedenfalls waren beide davon überzeugt, dass selbst im schutzlosesten Neugeborenen das Wirken Gottes zu erkennen war. Vielleicht war es kein Zufall, dass aus Kappadokien(5) und seinen Nachbarregionen, wo – sogar nach den Maßstäben anderer Länder – die Aussetzung von Säuglingen besonders verbreitet war, seit kurzem die ersten Berichte über Visionen von der Gottesmutter berichtet wurden. Maria(1), die jungfräuliche Theotokos, »die Gottesgebärerin«, wusste selbst, wie es war, ein Kind zu bekommen, wenn man arm, obdachlos und verängstigt war. So wurde es in den Evangelien von Matthäus und Lukas dargestellt. Maria(2) war aufgrund einer römischen Steuerforderung gezwungen gewesen, aus ihrem heimatlichen Galilaea nach Bethlehem zu reisen. Dort hatte sie Christus in einem Stall zur Welt gebracht und auf Stroh gebettet. Wenn Macrina die schmächtige Gestalt eines hungernden Babys in ihre Arme nahm, dann konnte sie ganz sicher sein, dass sie Gottes Werk tat.

Als Gregor(10) jedoch nach ihrem Tod einen Lobpreis auf seine Schwester verfasste, verglich er sie nicht mit Maria. Obwohl Macrina(3) aus einer angesehenen, reichen Familie kam, hatte sie nachts immer auf Brettern geschlafen, wie auf einem Kreuz; und so betete sie auch auf dem Sterbebett zu Gott, er möge sie in sein Königreich aufnehmen, »weil ich mit dir gekreuzigt worden bin«.[12] Nicht seinen Bruder(10), den gefeierten Bischof, den Gründer der Basileias, verglich Gregor mit Christus, sondern seine Schwester(4). Hier, in einer Welt, wo Aussätzige eine würdevolle Behandlung erfuhren und den Reichen die Abschaffung der Sklaverei nahegelegt wurde, kam es noch zu einer weiteren Verkehrung der traditionellen Art, die Dinge zu ordnen. So stabil, uralt und tief gegründet, wie diese Hierarchien waren, waren sie nicht so leicht umzustürzen, wie Gregor vielleicht gehofft hatte; trotzdem fand sich in seinen Predigten eine Ahnung von Auswirkungen, die noch weit in der Zukunft lagen. Zu dem neuen Glauben, den die römischen Herrscherschichten ins Herz schlossen, gehörte vieles, das sie noch kaum verstanden. »Gib den Hungernden, was du deinem eigenen Appetit verweigerst.«[13] Mit Aufforderungen wie diesem Appell Gregors(11), der auf frühere Generationen wie Irrsinn gewirkt hätte, hatten die Reichen zunehmend zu kämpfen.

Teilen und Umsorgen

Im Jahr 397 versammelten sich in einem Dorf an der Loire(1) zwei rivalisierende Banden vor einer kargen Steinkammer, in der ein alter Mann(1) im Sterben lag. Am späten Nachmittag tat er seinen letzten Atemzug, und sofort brach ein heftiger Streit über die Frage aus, wohin der Leichnam gebracht werden sollte. Die beiden Gruppen – eine kam aus Poitiers(1), die andere aus Tours(1) – setzten sich jeweils für ihre Stadt ein. Die Schatten wurden länger, die Sonne ging unter, und noch immer war der Streit nicht zu Ende. Die Männer aus Poitiers kamen für sich überein, dass sie den Leichnam in der ersten Morgendämmerung verschwinden lassen wollten, und sie ließen sich nieder, um Wache zu halten; doch einer nach dem anderen schlief ein. Die Männer aus Tours nutzten ihre Chance und schlichen sich in die Zelle. Sie hoben den Leichnam aus der Asche empor, in der er gelegen hatte, schmuggelten ihn durch ein Fenster heraus und machten sich flussaufwärts davon. Bei ihrer Ankunft in Tours(2) wurden sie von begeisterten Menschenmengen empfangen. Die Beisetzung des alten Mannes(2) in einem Grabmal vor den Stadtmauern besiegelte einen triumphalen Beutezug.

Geschichten wie diese, erzählt von Menschen, die stolz waren auf die Macht der Toten in ihrer Mitte, hatten einen ehrwürdigen Stammbaum.23 In Griechenland waren die Gebeine der Helden – leicht erkennbar aufgrund ihrer Übergröße – schon seit je als Trophäen hoch geschätzt. Es kam durchaus vor, dass ganze Skelette aus dem Fels gemeißelt und weggeschafft wurden. Auch Grabmäler, häufig in Form großer Erdhügel, die über der Asche gefallener Helden aufgeschüttet wurden, waren seit einem Jahrtausend Pilgerorte. Bevor Julian(13) Kaiser wurde und seine Verehrung der alten Götter öffentlich machte, hatte er Wert darauf gelegt, Troja(6) zu besuchen. Dort wurden ihm die Gräber der homerischen Helden gezeigt und die für sie gebauten Tempel – und zwar ausgerechnet vom Ortsbischof. Als dieser sah, wie Julian die Stirn runzelte, zuckte er nur mit den Schultern. »Ist es nicht normal, dass die Leute einen tapferen Mann verehren, der ihr Mitbürger war?«[14] Der Stolz auf kriegerische Vorfahren saß sehr tief.

Der alte Mann(3), dessen Begräbnis die Männer aus Tours(4) erfolgreich für sich beansprucht hatten, war früher einmal Soldat gewesen. Er hatte sogar unter Julian(14) in der Reiterei gedient. Allerdings wurde Martin(4) von seinen Anhängern nicht für seine Taten auf dem Schlachtfeld bewundert – und ebensowenig für seine Abstammung, für seine Schönheit, für seine Brillanz oder irgendeine andere der Qualitäten, die traditionellerweise einem Helden zugeschrieben wurden. Unter den notorisch hochmütigen Adligen Galliens hatte Martin häufig empörtes Stirnrunzeln ausgelöst. »Er sah aus wie ein Bauer, seine Kleidung war armselig, sein Haar ungepflegt.«[15] Aber er verfügte über ein solches Charisma, dass mehrere Adlige ihn nicht nur nicht verachteten, sondern, inspiriert von seinem(5) Beispiel, ihre Anwesen verließen und nach seinem Vorbild lebten. Viereinhalb Kilometer flussabwärts von Tours, auf einer grasbewachsenen Ebene namens Marmoutier(1), fand sich eine ganze Gemeinschaft von ihnen; sie kampierten in hölzernen Hütten oder in den Höhlen, die sich in einer gegenüberliegenden Felswand auftaten.

Es war ein Unternehmen, mit dem ein Hauch des fernen Ägypten(8) an die Ufer der Loire(2) kam. Dort, draußen in der Wüste, umgeben von Banditen und wilden Tieren, lebten Männer und Frauen schon seit vielen Jahren. Sie wollten die Trugbilder der Zivilisation hinter sich lassen, sich einem Leben der Keuschheit und Selbstverleugnung weihen, als monachoi leben: »Alleinlebende«. Nun war das Tal der Loire natürlich keine Wüste. Die monachoi – die »Mönche« –, die sich dort(3) ansiedelten, hatten nicht die Absicht, alles aufzuopfern. Sie behielten ihre Ländereien. Nach wie vor bearbeiteten Bauern die Felder für sie. Sie taten, was sie wohl auch in ihrer freien Zeit in ihren Herrenhäusern getan hatten: Sie verbrachten ihre Zeit mit Lesen, Gesprächen, Fischen. Doch trotz allem war ihr jetziger Lebensstil, nachdem ihnen aufgrund ihrer Geburt Größe, Glanz und Ruhm verheißen war, zweifellos ein Opfer. Aus einer bestimmten Perspektive konnte man es sogar fast heroisch nennen.

Und wenn das so war, dann stand Martin(6) – wenn man ihn nach den altehrwürdigen Maßstäben der gallischen Aristokratie beurteilte – für eine neue, verwirrende Sorte von Held: einen christlichen Helden. Darin lag die Quintessenz seiner magnetischen Anziehungskraft. Er wurde von seinen Anhängern nicht trotz, sondern wegen seiner Abwendung von weltlichen Normen bewundert. Statt von Julian(15) ein Geldgeschenk anzunehmen, hatte er öffentlich seine Entlassung aus der Armee gefordert. »Bis jetzt habe ich Dir gedient; von diesem Augenblick an bin ich ein Diener Christi.«[16] Dass Martin so etwas tatsächlich gesagt hatte, fanden seine Anhänger vollkommen glaubwürdig. Dass er auf nacktem Boden lag, als er seinen letzten Atemzug tat, mit einem Stein, der seinen Kopf stützte, gab Auskunft über seine Lebensweise. Nicht einmal die strengsten Regeln militärischer Disziplin ließen sich mit den Entbehrungen messen, denen er sich beständig unterwarf.

In einer Zeit, da die Reichen, gewandet in Gold und Seide, wie Pfauen einherstolzierten, sahen die Anhänger Martins(7), die draußen in der Wildnis, gekleidet nur in gröbste Stoffe, in seinem Umkreis lebten, zu ihm auf wie blutige Anfänger, die bewundernd einen schlachterprobten Feldherrn anstarren. Mit seinem Entschluss, als Bettler zu leben, hatte er größeren Ruhm errungen als irgendein anderer Christ in Gallien(5). Im Jahr 371 wurde er sogar zum Bischof von Tours(5) gewählt. Der Schock war immens, sowohl für die standesbewusste Oberschicht der Stadt als auch für Martin selbst. Überrumpelt von denjenigen, die ihm die Nachricht von seiner Ernennung überbringen wollten, lief er davon und versteckte sich in einer Scheune, bis er von Gänsen verraten wurde – so jedenfalls die Legende. Es war ein Beweis für Martins(8) Ruhm, dass von ihm viele solcher Geschichten erzählt wurden. Als erster Mönch Galliens, der Bischof wurde, war er eine Gestalt seltener Autorität: gerade deshalb zu höchsten Würden gelangt, weil er das nicht wollte.

Das war an sich schon für jeden erschütternd genug, der mit dem seit je für die römische Gesellschaft typischen Snobismus aufgewachsen war. Doch nicht nur der Anblick eines übelriechenden, schäbig gekleideten ehemaligen Soldaten, der zum mächtigsten Mann von Tours(6) geworden war, führte zum Eindruck einer auf den Kopf gestellten Welt, in der die Letzten die Ersten sein werden. Martins(9) Geringschätzung für die Accessoires der Macht – einen Palast, Diener oder feine Gewänder – war mehr als nur ein Schlag ins Gesicht jener, die Status am Besitz dieser Dinge ablasen. Sie hatte ihn vielmehr mit einer Wirkungsmacht begabt, die nach Meinung seiner Bewunderer mit menschlichem Wirken nichts mehr zu tun hatte. Fabelhafte Geschichten wurden von seinen Taten erzählt: wie ein Feuer sich auf seinen Befehl hin zurückzog; wie Wasservögel, wenn sie ihn ärgerten, weil sie zu viele Fische fraßen, von ihm den Befehl bekamen, sich davonzumachen, und das auch taten. Keiner seiner Anhänger hatte Zweifel an der Quelle dieser Autorität. Sie waren sicher, dass Martin(10) von Christus selbst berührt war.

»Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen; so wirst du einen Schatz im Himmel haben.«[17] Das hatte Jesus auf die Frage eines reichen Jünglings geantwortet, der fragte, wie er das ewige Leben erlangen könne. Der junge Mann hatte tief betrübt den Rückzug angetreten, Martin(11) hingegen hatte das nicht getan. Selbst als Bischof befolgte er den Rat seines Heilands in vollem Umfang – er mied den Palast, der ihm von Amts wegen zustand, und lebte stattdessen in einer Hütte draußen in Marmoutier(2). Dass er tatsächlich für sich einen Schatz im Himmel erworben hatte, erwies sich deutlich an dem Psalmengesang, der, während er im Sterben lag, vom Himmel herab erklang; doch auch an den wunderbaren Diensten, die er zu seinen Lebzeiten an den Kranken und Armen vollbracht hatte.

Berichte von seinen Taten wurden liebevoll bewahrt: wie ein Gelähmter wieder gehen konnte, nachdem Martin(12) ihn berührt hatte; wie Aussätzige von seinem Kuss geheilt wurden; wie sogar ein Selbstmörder, der sich erhängt hatte, von den Toten zurückgeholt worden war. Diese Episoden vermittelten eine Herausforderung an die Reichen, die mit jedem Erzählen akuter wurde. Geschichten konnten ebensogut wie Predigten dazu dienen, die Gläubigen zu belehren. Martin war kein großer Gelehrter, wie Gregor von Nyssa es gewesen war. Seine Schüler bewunderten mehr seine Taten als seine Worte. Im Unterschied zu Gregor(12), dessen Vision von Gott als »dem Helfer der Geringsten, dem Beschützer der Schwachen, der Zuflucht der Hoffnungslosen, dem Retter der Verworfenen«[18] stark von Origenes beeinflusst war, lag die Genialität Martins(13) in der einprägsamen Geste. Sein authentischstes und einflussreichstes Vermächtnis waren die Geschichten, die über ihn erzählt wurden.

Von einer Geschichte galt das in besonderem Maße. Die Szene spielte sich mitten im Winter ab, damals in den Tagen von Martins(14) Jugend, und vor seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst. Die Kälte war in diesem Jahr besonders schneidend. Ein Bettler in Lumpen stand zitternd am Stadttor von Amiens(1), einer Stadt im nördlichen Gallien(6). Die warm vermummten Stadtleute liefen durch den knirschenden Schnee an ihm vorbei und gaben ihm nichts. Dann kam Martin. Er war in seiner Dienstkleidung und hatte kein Geld, sondern nur seine Waffen bei sich. Als Soldat hatte er aber immerhin seinen schweren Militärmantel. Also zog er sein Schwert, teilte den Mantel in zwei Teile und gab eine Hälfte dem Bettler. Keine andere Geschichte über Martin(15) war beliebter, keine andere wurde öfter wiederholt. Das war nicht überraschend. Sie erinnerte an ein Gleichnis, das Jesus erzählt hatte. Dieses hatte sich nach der Darstellung von Lukas(5) an einer Straße abgespielt, die von Jerusalem aus in Richtung Osten verlief. Zwei Reisende, ein Priester und ein Tempeldiener, gingen an einem jüdischen Glaubensgenossen vorbei, der von Dieben überfallen und halb tot an der Straße liegengelassen worden war. Dann kam ein Samariter(1); dieser kümmerte sich um den Verletzten, brachte ihn in ein Wirtshaus und gab dem Wirt Geld, dass er sich um das Opfer kümmerte. Für das Empfinden der damaligen Zuhörer Jesu war das schockierend, da jeder um die Verächtlichkeit der Samariter(16) wusste; und es war ebenfalls schockierend für diejenigen im fernen Gallien.

Zu dem tief verwurzelten gallischen(7) Stammesbewusstsein hatte die römische Stadtmentalität noch eine eigene Komponente hinzugefügt: dass sich die Reichen, sofern sie sich überhaupt für die Armen verantwortlich fühlten, nur um die Armen ihrer Stadt kümmern mussten. Martin(17) aber stammte nicht aus Amiens(2). Er war in den östlichen Ausläufern der Alpen geboren und in Italien aufgewachsen, also war er nicht einmal ein Gallier(8). Mehr als jede Rechtsvorschrift es vermocht hätte, mehr als jede Predigt, veranschaulichte das Mitleid, mit dem er einem zitternden Fremden im gallischen Schnee begegnet war, die Prinzipien, denen er sein Leben geweiht hatte: dass die Besitzenden gegenüber denen, die nichts hatten, in der Pflicht waren; und dass es für diese Wohltätigkeitspflicht keine Begrenzungen gab. Es hieß, in der Nacht nach seiner Begegnung mit dem Bettler habe Martin geträumt; und in seinem Traum habe er Christus gesehen, der in eben jenes Mantelstück gekleidet war, das Martin am Tag zuvor weggegeben hatte. »Und der Herr sagte zu ihm, was er schon auf Erden gesagt hatte: ›Was immer ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‹«[19]

Die Wirksamkeit von Martins(18) Ruf war also nicht zu bestreiten, ebensowenig der Preis, den jene, die seinen Leichnam von seinem Sterbebett entführten, für Tours(7) damit errungen hatten. Die Wunder, die er zu Lebzeiten vollbracht hatte, hörten nun, da er tot war, nicht auf. In Träumen erschien er den Kranken und Benachteiligten, richtete verrenkte Glieder wieder ein, gab Stummen die Sprache zurück. Nun rief das zwar einerseits bewunderndes Staunen hervor, provozierte bei den führenden Familien von Tours(8) allerdings auch ein gewisses Unbehagen. In Marmoutier(3) stellten die Mönche Wegzeichen auf, die darauf hinwiesen, wo Martin gebetet, wo er gesessen, wo er geschlafen hatte; in Tours hingegen erinnerte man sich mit weniger Zuneigung an ihn. Sein Nachfolger im Bischofsamt ließ zwar eine kleine Pilgerstätte über Martins Grab errichten, er tat jedoch nichts, um seinen Ruhm zu mehren.

In den oberen Rängen einer von der städtischen Oberschicht dominierten Kirche war Martin(19) eine Peinlichkeit. Sein schäbiges Aussehen, seine niedere Herkunft, seine Forderung, dass die Lücke zwischen Reich und Arm geschlossen werden musste: nichts davon wurde gern gesehen. Das lag daran, so die Anhänger Martins(20) vorwurfsvoll, dass er die anderen Bischöfe beschämte, indem er für sie einen lebenden Tadel darstellte. Die Bischöfe waren natürlich anderer Meinung. Sie hatten eine erhabenere Vorstellung von ihrer Aufgabe: als Verteidiger der natürlichen Ordnung der Dinge. Wenn sie tatsächlich all ihre Habe den Armen gaben – wie sollten sie dann ihre Autorität aufrecht erhalten? Warum sollte Gott es wünschen, dass das Gefüge der Gesellschaft sich auflöste? Wenn es keine Reichen mehr gab – wo wäre dann die Quelle der Nächstenliebe zu finden?

In einer Welt, in der die Reichen immer christlicher wurden, waren dies Fragen, die Bestand haben sollten.

Ein Schatz im Himmel

Weit jenseits der Horizonte eines Provinzstädtchens wie Tours, in Villen, die vom Wohlgeruch teurer Duftstoffe erfüllt waren, geschmückt mit Marmor in allen Farben, prunkend mit goldenen und silbernen Einrichtungsgegenständen, schimmerte die Dimension der Superreichen. Die wohlhabendsten Familien besaßen Anwesen, die sich seit Jahrhunderten in Familienbesitz befanden und über die gesamte römische Welt verstreut lagen. Aufgrund ihres Stammbaums und ihres Einkommens waren die Herren, die diesen Familien vorstanden, Mitglieder im exklusivsten Club des Imperiums. Der Senat, eine Versammlung, die ihre Ursprünge bis auf die ersten Anfänge Roms zurückverfolgen konnte, bildete den Gipfel einer strikt stratifizierten Gesellschaft. Seine Mitglieder rümpften unter Umständen – wenn auch nicht öffentlich – über Kaiser als Emporkömmlinge die Nase. Ein snobistischerer Snob als ein senatorischer Snob war nicht vorstellbar.

Doch wie war für christliche Plutokraten all das mit einer der eindringlichsten Warnungen ihres Erlösers vereinbar: dass es für ein Kamel einfacher war, durch ein Nadelöhr hindurchzukommen, als dass es ein Reicher in das Himmelreich schaffte? Im Jahr 394 wurde darauf eine so radikale Antwort gegeben, dass durch die gesamte Elite des römischen Reichs Schockwellen gingen, die bei manchen Begeisterung, bei vielen anderen jedoch Entsetzen auslösten. Meropius Pontius Paulinus(1) war der Inbegriff des Privilegierten. Fabelhaft gut vernetzt und im Besitz zahlreicher Anwesen in Italien, Gallien und Spanien, hatte er jeden Vorteil genossen, den Hochwohlgeborenheit mit sich brachte. Außerdem war er talentiert. Sowohl in der Curia, dem ehrwürdigen Gebäude im Herzen Roms(32), wo der Senat zusammentraf, als auch als Administrator hatte sich Paulinus bereits in jungen Jahren einen hervorragenden Ruf erworben. Doch trotz alledem quälten ihn Selbstzweifel.

Er war ein begeisterter Bewunderer Martins, der ihn auf wunderbare Weise von einem Augenleiden befreit hatte, und Paulinus(2) war zu der Überzeugung gelangt, dass die schlimmste Blindheit diejenige war, die von weltlichen Gütern verursacht wurde. Unterstützt von seiner Ehefrau Therasia(1), begann er über eine spektakuläre Verzichtsgeste nachzudenken. Als nach vielen Jahren vergeblicher Versuche das Paar endlich einen Sohn bekam, nur um ihn acht Tage später wieder zu verlieren, stand ihr Entschluss fest. Sie hatten die Absicht, »das Himmelreich und Christus zum Preis zerbrechlicher Reichtümer zu erwerben«.[20] Paulinus kündigte an, dass sie alles, was sie besaßen, verkaufen und den Erlös den Armen geben würden. Und um das Maß voll zu machen, verzichtete er auf seinen Senatorenrang und auf den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau. Als Paar, das Armut gelobt hatte, verließen sie zusammen Therasias(2) Heimat Spanien(1) und zogen nach Italien(2). »Die todbringenden Ketten von Fleisch und Blut wurden zerbrochen.«[21]

Den Rest seines Lebens verbrachte Paulinus(3) in einer einfachen Hütte in Nola(1), einer Stadt im Hinterland des Golfs von Neapel. Hier, wo er als junger Mann eine Zeitlang als Statthalter tätig gewesen war, gab er sich dem Gebet, Nachtwachen und dem Verteilen von Almosen hin. Gold, das er früher für Seiden oder Gewürze verschwendet hätte, wurde nun für Kleidung und Brot für die Armen ausgegeben. Wenn begüterte Gaffer anreisten, »im Glanz ihrer schwankenden Kutschen, die Pferde reich herausgeputzt, die Wagen der Frauen vergoldet«,[22] präsentierte sich Paulinus als sichtbaren Vorwurf ihrer Verschwendungssucht. Sein Auftreten – bleich von der kargen Bohnendiät, die Haare grob geschnitten wie die eines Sklaven – zielte darauf ab zu schockieren, wozu auch sein Körpergeruch beitrug. In einem Zeitalter, als es kein zuverlässigeres Statussymbol gab, als frisch gebadet und parfümiert zu sein, pries Paulinus den Gestank der Ungewaschenen als »den Geruch Christi«.[23]

Zu stinken war jedoch für einen Milliardär ebensosehr eine Angelegenheit der freien Wahl wie die Entscheidung für ein teures Parfum. Jahrzehnte nach seiner Erklärung, er werde sich seines gesamten Besitzes entledigen, und trotz seiner unbezweifelbaren Bereitschaft, das auch zu tun, blieben die Einzelheiten der finanziellen Aktivitäten des Paulinus(4) undurchsichtig. Offensichtlich war jedenfalls, dass es ihm nie an Geld für seine auserlesenen Projekte fehlte. Seine Ambitionen richteten sich nicht nur auf die Armen. In der protzigsten Tradition der römischen Superreichen hegte er eine Vorliebe für grands projets. Dass er nicht den Bau von Tempeln, sondern von Kirchen finanzierte, tat der spektakulären Aufwendigkeit ihrer Ausstattungen keinen Abbruch. Trotz seiner expliziten Zurückweisung der Rechte, die ihm als Senator zugestanden waren, blieb Paulinus tief in seinem Herzen eine unverkennbar patrizische Gestalt: ein hoher Herr, der verschwenderisch Gaben verteilte. Vielleicht erwähnte er deshalb, obwohl er als Kamel bekannt war, das es geschafft hatte, durch ein Nadelöhr zu kommen, das berühmte Sprichwort nur selten.

Stattdessen bevorzugte er entschieden einen anderen Abschnitt aus den Evangelien: eine Geschichte, die Jesus von einem reichen Mann erzählte, der sich weigerte, einem Bettler – Lazarus(1) – vor seinen Toren etwas zu essen zu geben. Beide Männer starben. Der Reiche fand sich im Feuer wieder, während Lazarus weit entfernt von ihm in Abrahams(5) Schoß saß. Der Reiche appellierte an Abraham: »Hab Mitleid mit mir, und schicke Lazarus, dass er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt, denn ich leide in diesem Feuer große Pein.« Abraham(6) aber lehnte ab. »Mein Sohn, denk daran, dass du dein Gutes schon in deinem Leben empfangen hast, Lazarus hingegen nur das Schlechte. Jetzt wird er hier dafür getröstet, du aber wirst gepeinigt.«[24] So sah das Schicksal aus, das Paulinus(5) mit Grauen erfüllte – und er war entschlossen, es zu vermeiden, koste es, was es wolle. Jeder Akt der Nächstenliebe, jede gespendete Goldmünze verhieß einen Tropfen kühlen Wassers auf seiner Zunge. Wenn Reichtum an die Bedürftigen verteilt wurde, dann konnte er vielleicht dazu dienen, die Flammen des Lebens im Jenseits auszulöschen. An diesen Trost klammerte sich Paulinus. »Nicht Reichtümer an sich sind es, die Gott beleidigen oder ihm wohlgefällig sind, sondern nur der Gebrauch, den die Menschen von ihnen machen.«[25]

Als Mittel, um die Ängste wohlhabender Christen zu beheben, war das eine Aussage, die für jeden etwas zu enthalten schien. Die Armen profitierten von der Großzügigkeit der Reichen; die Reichen sammelten für sich selbst einen Schatz im Himmel, indem sie den Armen gegenüber Nächstenliebe praktizierten. Je mehr ein Mann geben konnte, desto größer würde letztlich seine Belohnung sein. Auf diese Weise konnten – ungeachtet unbequemer Grübeleien über Kamele und Nadelöhre – die angestammten Umgangsformen gewahrt werden. Gesellschaftlicher Status konnte selbst unter Christen, welche die Evangelien so wörtlich nahmen wie Paulinus(6), nach wie vor etwas wert sein. Aber nicht alle waren sich in dieser Hinsicht so völlig sicher. Die feste Ordnung der Dinge war ins Wanken geraten. Alte Gewissheiten befanden sich buchstäblich im Belagerungszustand.

Im Jahr 410, eineinhalb Jahrzehnte, nachdem Paulinus(7) sich von seinem Reichtum abgekehrt hatte, wurde die Welt durch ein sehr viel weitreichenderes Erniedrigungsspektakel erschüttert. Rom(33) selbst, die altehrwürdige Herrin des Reichs, wurde von einem barbarischen Volk, den Goten(1), durch Hunger in die Unterwerfung gezwungen und seines Goldes beraubt. Senatoren mussten ihre gesamte Barschaft opfern, um das für die Stadt geforderte Lösegeld zu bezahlen. Der Schock war im gesamten Mittelmeerraum spürbar. Allerdings gab es einige Christen, die sich der allgemeinen Empörung nicht anschlossen, sondern in der Plünderung Roms(34) lediglich den definitiven Gipfel einer urtümlichen Gier nach Reichtümern sahen. »Piraten auf den Meeren, Banditen auf den Straßen, Diebe in Städten und Dörfern, Plünderer allenthalben: Sie alle sind angetrieben von Habgier.«[26] Was auf den König der Goten zutraf, galt genauso für Senatoren. Es gab kaum ein Vermögen, das nicht auf dem Rücken von Witwen und Waisen erwirtschaftet war. Allein die Existenz von Reichtum war eine Verschwörung gegen die Armen. Gleichgültig, was christliche Plutokraten hoffen mochten – Almosengeben war kein Mittel, das zu rechtfertigen. Das Feuer wartete schon. Die Reichen würden es nie in Abrahams Schoß schaffen.

Auch wenn diese Interpretation der Absichten Gottes auf (8)Paulinus finster wirken mochte, war sie doch nicht weniger aus einer aufmerksamen Lektüre der Evangelien abgeleitet als die seine. Diejenigen, die sie vertraten, stellten sicher, dass sie Worte ihres Erlösers zitierten. »Christus sagte nicht ›Weh euch, ihr bösen Reichen‹, sondern einfach nur ›Weh euch, ihr Reichen‹.«[27] Radikale jedoch beschränkten sich in dem schlimmen Jahrzehnt nach der Plünderung Roms nicht darauf, die Heilige Schrift zu zitieren. In ihrem Ehrgeiz, zu ergründen, was die Lehren Christi über Reichtum und Armut für eine Gesellschaft bedeuten könnte, die von Milliardären beherrscht wurde, und wie die Unterschiede zwischen Reichen und Armen ausgetilgt werden konnten, wandten sie sich inspirationsheischend an den angesagtesten Asketen ihrer Zeit. Pelagius(1), ein stämmiger, intellektuell brillanter Brite, hatte sich, nachdem er sich in Rom(35) angesiedelt hatte, einen solchen Namen gemacht, dass er zum Star der High Society geworden war. Seine Lehren hatten jedoch eine Anziehungskraft, die weit über die exklusiven Salons hinausreichte. Pelagius war überzeugt, dass der Mensch frei geschaffen worden war. Ob er Gottes Anweisungen gehorchte oder nicht, war seine eigene Entscheidung. Die Sünde war lediglich eine Gewohnheit – das bedeutete, Vollkommenheit war erreichbar. »Es gibt keinen Grund, warum wir nicht das Gute tun sollten, außer dass uns seit unserer Kindheit angewöhnt wurden, das Schlechte zu tun.«[28]

Als Pelagius(2) diese Maxime formulierte, dachte er an das Leben des einzelnen Christen; doch es gab unter seinen Anhängern einige, die sie auf den gesamten Verlauf der Geschichte anwandten. Sie argumentierten, die Menschheit sei, nachdem sie aus Eden vertrieben worden war, in die verhängnisvolle Gewohnheit der Gier verfallen. Die Starken beraubten die Schwachen und hatten die Quellen des Reichtums monopolisiert. Land, Vieh und Gold waren das Eigentum Weniger, nicht der Vielen geworden. Die Möglichkeit, dass Reichtümer je ein von Gott gespendeter Segen gewesen sein könnten, unbefleckt von Ausbeutung, war eine groteske Selbsttäuschung. Es gab keine Münze, die in die verschrumpelte Handfläche eines Bettlers geworfen wurde, die nicht letztlich durch kriminelle Mittel erworben worden war: mit Blei bestückte Peitschen, Knüppel und Brenneisen. Wenn nun aber, wie Pelagius argumentierte, einzelne Sünder sich von ihren Sünden reinigen und durch Gehorsam gegenüber Gottes Geboten Vollkommenheit erlangen konnten, dann konnte das die Menschheit insgesamt auch.

Ein Beleg dafür, was das in praktischer Hinsicht bedeuten konnte, fand sich in der Apostelgeschichte, jenem von Lukas(6) verfassten Buch, in dem er die Vision des Paulus auf der Straße nach Damaskus beschrieben hatte und das in das Neue Testament aufgenommen worden war. Dort war zur Erbauung aller festgehalten, dass die Anhänger Christi der ersten Generation alles gemeinsam besaßen. »Sie verkauften ihr Hab und Gut und verteilten davon an alle, je nachdem einer bedürftig war.«[29] Eine gerechte Gesellschaft von Ebenbürtigen war also ein Ziel, für das es in der heiligen Schrift selbst eine unmittelbare Bestätigung gab. Wenn man nur erst so weit war, dann war Nächstenliebe nicht mehr nötig. Philanthropische Selbstdarsteller wie Paulinus stünden dann auf einer Stufe mit den Bettlern, die sich um seine Kirchen drängten. »Entledigt euch der Reichen – und wo werden dann die Armen sein?«[30]

Als Manifest war das natürlich kaum weniger verstiegen als der dringliche Aufruf Gregors von Nyssa zur Abschaffung der Sklaverei. Faktisch wurde die westliche Hälfte des Reichs in den Jahren nach der Plünderung Roms zunehmend zu einem Tummelplatz für die Starken. Die Sehnen, die das Reich lange zusammengehalten hatten, begannen zu reißen. Der massive Machtkomplex löste sich auf. Ein Jahrhundert nach der pompösen Verzichtsgeste des Paulinus war die komplexe Infrastruktur, auf die sich die Existenz der Superreichen gestützt hatte, endgültig verschwunden. Statt einer einzigen römischen Ordnung, die sich von der Sahara bis ins nördliche Britannien erstreckte, gab es jetzt einen Flickenteppich rivalisierender Königreiche, von einer Reihe von Barbarenvölker mit Waffengewalt erobert: Westgoten(1), Vandalen(1), Franken(1).

In dieser neuen Welt waren diejenigen aus der Gruppe christlicher Adliger, die es geschafft hatten, die extreme Verarmung zu vermeiden, kaum geneigt, sich deswegen schuldig zu fühlen. Die Armut, die Martin und Paulinus gepriesen hatten, erschien ihnen nun eher als ein unter allen Umständen zu vermeidendes Schicksal denn als ein nacheifernswertes Beispiel. Was sie sich von ihren Bischöfen und heiligen Männern erhofften, waren keine Ermahnungen über das dem Reichtum innewohnende Böse, sondern im Gegenteil die Versicherung, dass Reichtum tatsächlich auch eine Gabe Gottes sein konnte. Und in den diversen Königreichen der Barbaren im Westen war es auch genau das, was Kirchenmänner nun lieferten.

Ihnen wurde der Rücken gestärkt durch die massive Autorität eines Mannes, der damals, als man im Reich noch über Paulinus diskutierte und Pelagius in Rom hochgejubelt wurde, als Bischof eines abgelegenen Hafenorts an der afrikanischen Küste wirkte, dessen Einfluss jedoch den von Paulinus und Pelagius bei Weitem übertraf. Für Augustinus(1) von Hippo war es eben die Vielfältigkeit des christlichen Volks, die Zusammenführung aller gesellschaftlichen Klassen, die den größten Ruhm dieses Volkes ausmachten. »Alle beobachten erstaunt, dass sich die ganze Menschheit um den Gekreuzigten versammelt, von den Kaisern bis hinunter zu den Bettlern in ihren Lumpen.«[31]

Augustinus(2) wusste aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, zu Christus zu finden. Seine Bekehrung hatte stattgefunden, als er bereits über dreißig war. Hätte er nicht einen Abschnitt der Paulus-Briefe aufgeschlagen, nachdem er wie in einer Halluzination ein Kind in einem Nachbargarten hatte singen hören: »Nimm und lies«, dann wäre er womöglich überhaupt kein Christ geworden. Augustinus hatte ein unstetes Leben geführt. Vor seiner Taufe hatte er sich seinen Weg aus dem provinziellen Nichts bis an die Ränder des Kaiserhofs erkämpft; er war von Stadt zu Stadt gezogen, von Karthago(8) über Rom(36) nach Mailand(1); er hatte eine ganze Reihe von Kulten und Philosophien ausprobiert; er hatte in Kirchen Frauen angemacht. Ein solcher Mann wusste genau, wie unterschiedlich die Menschen waren. Nachdem er jedoch aus Italien in seine Heimat Afrika zurückkehrt und schließlich zum Bischof von Hippo(1) gewählt worden war, wagte er es trotzdem, von einer Christenheit zu träumen, die – sowohl konkret als auch dem Namen nach – wahrhaftig katholisch(8), universell war. »Es ist höchste Zeit, dass sich alle Welt in der Kirche vereine.«[32]

Für Augustinus(3) folgte aus dieser Überzeugung jedoch nicht – wie für die radikaleren Anhänger des Pelagius –, dass er behauptete, die Trennungen aufgrund Klasse und Wohlstand könnten aufgehoben werden und sämtliche Güter sich in gemeinsamem Besitz befinden. Ganz im Gegenteil. Der Bischof von Hippo(2) war viel zu nüchtern, viel zu pessimistisch in seiner Auffassung von der menschlichen Natur, als dass er sich hätte vorstellen können, dass Wohltätigkeit je einmal überflüssig werden könnte. »Arme habt ihr allezeit bei euch.«[33] Das hatte Christus selbst gesagt. Die Reichen und die Armen: Solange die Welt bestand, würde es beide geben.

Die Skepsis des Augustinus(4) hinsichtlich der Auswirkungen gesellschaftlicher Umwälzungen ging zum Teil auf persönliche Erfahrung zurück. In Hippo(3), wie in Afrika überhaupt, war das Schisma in der Kirche immer noch von roher Brutalität geprägt. Überfälle auf Landstraßen waren eine ständige Gefahr, Säureangriffe ein besonderes Risiko. Augustinus war sich immer darüber im Klaren, dass er als katholischer(9) Bischof ein potentielles Angriffsziel war. Er warf den radikalen Donatisten(8) vor, nicht nur gegen seine Autorität zu rebellieren, sondern gegen alles, was der Ordnung diente. Wenn sie Villen überfielen, ergriffen sie die Besitzer, »gebildete Männer gehobenen Standes«, ketteten sie an Getreidemühlen, »und zwangen sie mit der Peitsche, die Mühle im Kreis zu drehen, als wären sie niedrigste Zugtiere«.[34]

Die Überzeugung, die Armen seien reineren Herzens als die Reichen, konnte Augustinus(5) nicht teilen. Alle waren gleichermaßen gefallen. Klassenunterschiede waren unbedeutend verglichen mit dem Zustand der Sündhaftigkeit, in dem sich die gesamte Menschheit befand. Das bedeutete, dass ein Milliardär, der wie Paulinus sein gesamtes Vermögen weggab, nicht sicherer mit seiner Erlösung rechnen durfte als die bettelarme Witwe, die, wie in den Evangelien geschildert, von Jesus(19) beobachtet wurde, als sie dem Tempelschatz alles übergab, was sie hatte: zwei winzige Kupfermünzen. Es bedeutete aber auch, dass jeder Traum, auf Erden eine Gesellschaft zu errichten, aus der die Extreme des Reichtums und der Armut verbannt wurden und in der alle gleich waren, eben auch weiter nichts war als das: ein Traum.

Tatsächlich war für Augustinus(6) die Lehre des Pelagius, Christen könnten ein sündloses Leben führen, nicht nur ein Hirngespinst, sondern eine verderbliche Irrlehre. Alle, die daran glaubten, riskierten die ewige Verdammnis. Männer und Frauen konnten in einer gefallenen Welt unmöglich Vollkommenheit erlangen. Die Jahrhunderte zuvor von Jesus Ben Sirach(2) formulierte Lehrmeinung, dass Evas Ungehorsam im Garten Eden all ihre Nachkommen dazu verdammt hatte, Anteil an ihrer Sünde zu haben, war von jüdischen Gelehrten weitgehend vergessen worden; nicht aber von Augustinus. Jeder Tag war ein Tag, an dem es galt, Buße zu tun: und zwar nicht nur um Vergebung zu beten, sondern Almosen zu geben. Dies war für jeden, dem das möglich war, von der ärmsten Witwe bis zum wohlhabendsten Senator, der sicherste Weg, den fatalen Makel der Erbsünde zu sühnen. Status und Wohlstand waren nichts an sich Böses, solange diejenigen, denen sie vergönnt waren, damit Gutes taten. Die verstiegenen Forderungen der radikaleren Pelagianer(1), dass sämtliche Besitztümer allen gehören sollten, mussten als Torheit und Irrglaube abgelehnt werden.

»Legt euren Hochmut ab, dann werden euch Reichtümer nicht schaden.«[35] Die Botschaft des Augustinus(7) stieß in den Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Roms im Westen bei vielen auf offene Ohren. In den Trümmern der gestürzten imperialen Ordnung bot sie sowohl den Aristokraten vor Ort als auch den Warlords der Barbaren eine Ahnung davon, wie es möglich war, ihre Autorität auf neue, sichere Fundamente zu gründen. Wenn die alten Tage marmorverkleideter Villen auf immer vergangen waren, dann gab es jetzt einen anderen Index für Größe, mit dem Gottes Segen leichter zu gewinnen war: die Fähigkeit, Abhängige zu verteidigen und ihnen nicht nur Almosen zu geben, sondern auch bewaffneten Schutz. Wenn Macht dazu eingesetzt wurde, die Ohnmächtigen zu verteidigen, dann ließ sich damit die Gunst des Himmels gewinnen.

Der schlagendste Beweis dafür fand sich vielleicht in Tours(9). Dort bildete über ein Jahrhundert nach Martins Tod nicht mehr seine Zelle in Marmoutier(4) den Anziehungspunkt für die Verehrung der Pilger, sondern sein Grabmal. Sämtliche Vorbehalte gegen die Erinnerung an ihn waren längst hinweggefegt. Mehrere ehrgeizige Bischöfe in Folge hatten den Ort seines Begräbnisses mit einem Komplex aus Kirchen, Höfen und Türmen geschmückt. Über dem Grab selbst glänzte eine vergoldete Kuppel.24 Näherte man sich Tours, dann dominierte dieser Komplex den gesamten Eindruck und bildete ein Denkmal, das von einem ehrfurchtgebietenden Grad an Autorität kündete. Martin(21), der zu Lebzeiten die Insignien weltlicher Macht abgelehnt hatte, wurde im Tod zum Inbegriff eines mächtigen Herrn. Wie es schon immer seine Art gewesen war, so sorgte er auch weiterhin mit vielfältigen Akten der Nächstenliebe für die Kranken, für die Leidenden, für die Armen; Chronisten seiner Wunder hielten liebevoll fest, wie er Kinder geheilt und sich um verarmte Witwen gekümmert hatte. Martin wusste also genau wie ein Herr in den Jahren der Heimsuchung, die auf den Zusammenbruch der römischen Ordnung folgten, wie er sich der Seinen annehmen musste. Selbst die habgierigsten Könige stellten aus Angst vor seiner Macht sicher, dass sie Tours einen gewissen zähneknirschenden Respekt entgegenbrachten.

Chlodwig(1), der fränkische Warlord, dem es in den letzten Jahren des 5. Jahrhunderts gelungen war, seine Herrschaft über einen Großteil Galliens zu befestigen, betete ostentativ zu Martin(22) um dessen Unterstützung in der Schlacht – und nachdem er sie erhalten hatte, schickte er ihm entsprechend prächtige Geschenke. Die Erben Chlodwigs, Herrscher über ein Königreich, das später als Frankenreich(1) bezeichnet werden sollte, neigten – aus gutem Grund – eher dazu, um Tours(10) einen Bogen zu machen. Sie waren sich über den Ruch des Aufsteigertums, der ihrer Dynastie anhaftete, im Klaren und hüteten sich daher, mit dem Glanz des Schutzheiligen von Tours in Konkurrenz zu treten. Als dann später einer von ihnen die capella erhielt, eben jenen Mantel, den Martin(23) für den Bettler vor Amiens(3) geteilt hatte, wurde das Stück schnell zum Ausweis fränkischer Größe. Es wurde von einer besonderen Priesterklasse bewacht, den capellani oder »Kaplänen«, und in Kriegszeiten im königlichen Tross mitgeführt, womit es einschüchternd von dem Ausmaß Zeugnis ablegte, in dem Heiligkeit zu einer Machtquelle geworden war. Martins(24) Tod hatte seine Autorität nicht eingeschränkt, sondern ganz im Gegenteil stark ausgeweitet. Nun waren nicht mehr wie einst zu Lebzeiten des Paulus die lebenden Gläubigen die »Heiligen«. Nun wurde der Titel jenen beigelegt, die wie Martin gestorben waren und sich ihrem Erlöser beigesellt hatten. Sie wurden mehr als je ein Caesar geliebt, angefleht und gefürchtet. Inmitten der Schatten eines gewalttätigen und verarmten Zeitalters bot ihr Ruhm sowohl dem König wie dem Sklaven, dem Ehrgeizigen wie dem Demütigen, dem Krieger wie dem Aussätzigen Hilfe und Unterstützung.

Es gab offenbar keinen Bereich in der gefallenen Welt, der so dunkel gewesen wäre, dass er nicht durch himmlisches Licht hätte erhellt werden können.