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Verfolgung

1229: Marburg

Graf Paviam(1) war schockiert von der zermürbenden Arbeit im Hospital(1). Jeden Tag kümmerten sich in grobe graue Kittel gekleidete Frauen um die Kranken: badeten sie, wechselten ihre Betttücher, reinigten ihre Wunden. Eine(1) von ihnen, die sich um einen gelähmten Jungen kümmerte, der unter Durchfall litt, ging sogar so weit, ihn in ihr eigenes Bett zu legen und jedes Mal herauszutragen, wenn seine Bauchkrämpfe wieder anfingen. Da das bis zu sechs Mal jede Nacht passierte, wurde ihr Schlaf ständig unterbrochen, doch sie war zeitlich viel zu beansprucht, als dass sie hätte hoffen können, den Nachtschlaf tagsüber nachholen zu können. Wenn sie nicht im Hospital arbeitete, musste sie in der Küche schuften, Gemüse vorbereiten, Geschirr waschen, sich von einer schwerhörigen, übergenauen Haushälterin anherrschen lassen. Wenn es in der Spülküche nichts zu tun gab, saß sie an einem Rad und spann Wolle: ihre einzige Einkommensquelle. Selbst wenn sie selbst krank war und das Bett hüten musste, wickelte sie immer noch mit ihren bloßen Händen Wolle auf. Als der Graf ihre Unterkunft(2) betrat, war er vor Bewunderung außer sich. »Noch nie«, rief er aus, »hat man eine Königstochter Wolle spinnen sehen!«[1]

Elisabeth(2) war von Geburt an zu Großem bestimmt. Sie stammte von einem Vetter Stephans ab, des ersten wahrhaft christlichen Königs von Ungarn(10). Als Kind wurde sie an den Thüringer(2) Hof geschickt und dort auf eine Eheschließung vorbereitet. Im Alter von vierzehn Jahren wurde sie mit Ludwig(1), dem 20-jährigen Herrscher, vermählt und saß nun neben ihm auf dem Thron. Das Paar war sehr glücklich. Elisabeth gebar ihrem Ehemann drei Kinder; Ludwig war voller Bewunderung für die offenkundige Nähe seiner Frau zu Gott. Auch wenn er nachts aufgeweckt wurde, weil eine Magd an seinen Zehen zupfte, nahm er das geduldig hin – er wusste, dass die Dienerin ihn mit seiner Frau verwechselte, die in den frühen Morgenstunden zum Gebet aufzustehen pflegte. Elisabeths Beharren darauf, ihre Juwelen den Armen zu geben; den Kranken Schleim und Speichel aus dem Gesicht zu wischen; ihre feinsten Leinenschleier zu Laken für die Armen zu verarbeiten: All diese Gesten nahmen ihre noch viel weitergehende Selbsterniedrigung nach dem Tod ihres Ehemanns(2) vorweg. Sie bedauerte nur, dass sie nicht weit genug ging. »Aber wenn es ein noch verachteteres Leben gäbe, hätte ich es gewählt.«[2] Als Graf Paviam(2) Elisabeth(3) dringlich aufforderte, die Härten und Erniedrigungen ihres Lebens in Marburg(3) hinter sich zu lassen und mit ihm an den Hof ihres Vaters zurückzukehren, lehnte sie das rundweg ab.

Natürlich war sie(4) Erbin einer langen Tradition: der Tradition eines Basilius, einer Macrina, eines Paulinus. Auch Thüringen(3) bot ihr ein Vorbild, sogar ein königliches: Radegundis(1), eine Königin, die zur Zeit Chlodwigs Abtritte gereinigt und Bettler entlaust hatte. Doch Elisabeth hatte noch eine sehr viel unmittelbarere Inspirationsquelle zur Hand. Sie lebte in einer Welt, die von Reformern auf den Kopf gestellt worden war, die mehr als ein Jahrhundert lang damit beschäftigt gewesen waren, die Christenheit von ihrem Schmutz zu reinigen, ihre leprösen Wunden auszuwaschen und zu versorgen. Das nachdrücklichste Beispiel war für Elisabeth nicht ein Heiliger, sondern eine Institution: die Kirche selbst. Wie Elisabeth, so war auch die Kirche der Umarmung von Fürsten entkommen. Wie Elisabeth hatte sie sich auf immerwährende Keuschheit verpflichtet. Wie Elisabeth, so hatte auch die Kirche Armut zu einem Ideal verklärt. »Nur Männer, die nicht über irdische Güter verfügen, taugen zum Predigtdienst, weil sie, die nichts Eigenes besitzen, alles gemeinsam haben.«[3] So lautete der Schlachtruf, der zur Zeit Gregors VII. mit dazu beigetragen hatte, das gewaltige Erdbeben der reformatio auszulösen. Und ebendiesen Schlachtruf stieß auch Elisabeth(5) aus, indem sie all ihren Reichtum weggab und sich in die Gemeinschaft von Pförtnern und Küchenmädchen begab.

Aber dabei musste sie(6) – wie überhaupt alle, die den Weg freiwilliger Armut wählten – vorsichtig vorgehen. Die brodelnde Lavaflut der reformatio, die über Jahrzehnte hinweg alles erfasst hatte, was auf ihrem Weg lag, begann abzukühlen und fest zu werden. Ihre größte Leistung – die Einrichtung einer einzigen, obersten Hierarchie in der gesamten Christenheit – wurde nun nicht länger durch revolutionären Eifer unterstützt. Ihre Anführer hatten von der Bewegung zu sehr profitiert, als dass sie weitere Umwälzungen hätten begrüßen können. Jetzt brauchten sie Stabilität. Beamte im Dienst der päpstlichen Bürokratie und Spezialisten des Kirchenrechts hatten sich lange abgemüht, die Grundlagen kirchlicher Autorität zu verstärken. Sie wussten um die ehrfurchtgebietende Verantwortung, die auf ihren Schultern lastete. Sie hatten den Auftrag, das christliche Volk zu Gott zu bringen. »Es gibt eine einzige katholische Kirche(11) der Gläubigen, und außerhalb ihrer gibt es durchaus kein Heil.«[4] So war es offiziell formuliert worden, als Elisabeth(7) noch ein Kind war: im Jahr 1215, beim vierten einer Reihe von im Lateran(3) abgehaltenen Konzilien. Wer diesem Kanon zuwiderhandelte, wer die Autoritätsstrukturen ablehnte, die seiner Aufrechterhaltung dienten, wer den Klerikern nicht gehorchte, deren ehrwürdiges Privileg es war, die Seelen zu führen, der befand sich auf dem Weg zur Hölle.

Dass dies jedoch überhaupt einer Erwähnung bedurfte – darüber hinaus durch eine Versammlung aus Bischöfen und Äbten »von jeder Nation unter dem Himmel«[5] –, war lediglich Ausdruck der fatalen Wahrheit, dass die Autorität der Kirche nicht allgemein anerkannt war. Es gab im Lauf des Jahrhunderts, das auf die Amtszeit Gregors VII. folgte, viele, die den Eindruck hatten, dass das Potential der reformatio noch nicht voll ausgeschöpft war. Revolutionäre Leidenschaften waren nicht so einfach zu bändigen. Je nachdrücklicher sich Reformer, die in der Kirche zu hohen Ämtern gekommen waren, darum bemühten, den Zustand der Christenheit zu stabilisieren, desto lautstärker wurden sie von denen an den extremen Rändern der reformatio des Verrats beschuldigt. Hier zeichnete sich ein folgenschweres Muster ab: Die Revolution hatte eine Elite hervorgebracht – und diese Elite erzeugte ihrerseits die Notwendigkeit für eine Revolution.

Die meisten Aufrührer – Prediger, die sich am Ideal des Lebensstils der Apostel orientierten, die sich in allem Besitz teilten und alles verachteten, was einen Beigeschmack von Weltlichkeit hatte – schimpften auf das neue Modell von Kirche auf ganz ähnliche Weise, wie es Gregor auf das alte Modell getan hatte. Barfuß durchzogen sie ländliche Gegenden, trugen Kreuze aus nacktem, ungeschmücktem Eisen und warfen den Klerikern vor, nicht gemäß der Praxis zu leben, die sie predigten: dem Aussatz der Lüsternheit, des Hochmuts und des Geizes verfallen zu sein. Die radikalsten Vertreter dieser Richtung gingen sogar noch weiter. Statt auf weitergehende Reformen zu hoffen, waren sie an der Institution Kirche insgesamt verzweifelt. Die Kirche war von Päpsten und Bischöfen aus Blut erbaut worden, sie war nicht mehr zu retten. Ihre gesamte Struktur war verderbt. Es gab keine andere Möglichkeit, als sie komplett einzureißen. Prälaten, die sich vor der Ausbreitung solcher Lehren fürchteten, verdammten sie natürlich als Häresie. Als Elisabeth(8) zur Welt kam, hatte die Panik in päpstlichen Kreisen einen Höhepunkt erreicht. Überall witterte man Häretiker. Im Jahr 1215 wurde beim Vierten Laterankonzil ein als detaillierter Kanon angelegtes Programm erarbeitet, mit dem ihre Ausbreitung bekämpft werden sollte. »Jede Häresie, die sich gegen den heiligen, rechten katholischen Glauben erhebt, exkommunizieren wir und belegen sie mit dem Kirchenbann. Sämtliche Häretiker verurteilen wir, gleichgültig, unter welchem Namen sie auftreten.«[6]

Unter Umständen war jedoch die Grenzlinie zwischen Häresie und Heiligkeit nur dünn. Die edle Elisabeth(9) hatte sich, während sie noch am Hof lebte, zusammen mit ihren Zofen ausgemalt, wie es wäre, eine Bettlerin zu sein. Mit deren Hilfe hatte sie sich in ihren Privatgemächern sogar in Lumpen gekleidet. Doch blieb das ihr Geheimnis. Elisabeth wollte ihren Gatten nicht in Verlegenheit bringen. Sie riskierte, nicht nur bei seinen Höflingen Anstoß zu erregen. Auf den Straßen, draußen vor der gewaltigen Wartburg(1), wo Ludwig(3) Hof hielt, wanderten Prediger umher, welche die Reichen aufforderten, es ihnen gleichzutun und alle ihre Reichtümer den Armen zu geben. Obwohl sich auch Predigerinnen in ihren Reihen befanden, war Elisabeth(10) klug genug, sich ihnen nicht anzuschließen. Wer Waldenser(1) wurde, riskierte die ewige Verdammnis.

Ihren Namen hatten die Waldenser(2) von Waldes(1), einem reichen Kaufmann aus Lyon(10), der im Jahr 1173, inspiriert von den Lehren Christi, all seine Besitztümer verkauft hatte. Wiederholt war ihnen die Erlaubnis, ihre Lehren zu verkünden, verweigert worden. Als sie sich an den Papst selbst wandten, hatte man sie ausgelacht. Kleriker hatten sich ja nicht einer jahrelangen zermürbenden Universitätsausbildung unterzogen, um dann hinterher Laien – idiotae – zu erlauben, sie über den Sinn des Evangeliums aufzuklären. »Wirft man also etwa Perlen vor die Schweine hin?«[7] Statt sich nun aber gehorsam diesem Urteil zu unterwerfen, reagierten die Waldenser, indem sie ihrerseits die Männer angriffen, die sich angemaßt hatten, über sie zu Gericht zu sitzen. Sie brandmarkten den Stolz und die Korruption des Klerus derart ätzend, dass es den Donatisten(9) alle Ehre gemacht hätte, und schließlich verkündeten sie ihre Verachtung für die Vorstellung des Priestertums selbst. Nur Christus war ihr Bischof. Diese unverschämte, massive Häresie lieferte Elisabeth(11) ein abschreckendes Exempel dafür, wie weit Ungehorsam gegenüber der Kirche gehen konnte. Dass die Waldenser(3) eben genau den Lebensstil pflegten, nach welchem sie sich sehnte, indem sie alles gemeinsam besaßen und von Almosen lebten, machte sie zu einer um so heilsameren Warnung.

Waldes(2) war nun aber nicht der einzige Kaufmann, der sich im Namen Christi für Armut entschieden hatte. Im Jahr 1206 hatte ein ehemaliger Playboy namens Franziskus(1), geboren in der italienischen Stadt Assisi(1), auf spektakuläre Weise auf sein väterliches Erbe verzichtet. Er entledigte sich seiner Kleider und übergab sie seinem Vater. »Nicht einmal die Hose behielt er zurück, vollständig entblößte er sich angesichts aller.«[8] Der Bischof der Diözese war von dieser Vorführung nicht befremdet, sondern beeindruckt; er legte Franziskus liebevoll seinen eigenen Umhang um und schickte ihn mit einem Segen seines Wegs. Diese Episode gab das Muster für den weiteren von Franziskus beschrittenen Weg ab. Die Genialität, mit der er die Lehren Christi wörtlich nahm, ihre Paradoxien und Komplexitäten dramatisierte, Einfachheit und Tiefe in einer einzigen denkwürdigen Geste verband, sollte ihn nie verlassen. Er diente Aussätzigen; er predigte den Vögeln; er rettete Lämmer vor den Schlachtern. Kaum jemand konnte seinem Charisma widerstehen. Die Bewunderung für seine(2) Mission reichte in der kirchlichen Hierarchie bis ganz nach oben.

Innozenz(1) III., der Papst, der im Jahr 1215 das Vierte Laterankonzil einberufen hatte, war nicht leicht zu beeindrucken. Der herrische, mutige, brillante Mann gab niemandem nach, er setzte Kaiser ab und exkommunizierte Könige. Es überraschte also nicht, dass Innozenz, als Franziskus(3) an der Spitze von zwölf zerlumpten »Brüdern« erstmals in Rom(53) eintraf, sich weigerte, ihn zu treffen. Der Geruch von Häresie, von Blasphemie ganz zu schweigen, schien zu offensichtlich. Franziskus ließ es allerdings im Unterschied zu Waldes(3) nie an Respekt vor der Kirche und am Gehorsam ihrer Autorität gegenüber fehlen. Die Zweifel von Innozenz wurden beschwichtigt. Da er ebenso fantasievoll wie dominant war, erkannte er schließlich in Franziskus und seinen Anhängern keine Gefahr, sondern eine Gelegenheit. Statt sie so zu behandeln, wie das seine Vorgänger mit den Waldensern(4) getan hatten, setzte er sie als rechtlich verfassten kirchlichen Orden ein. »Brüder, gehet mit dem Herrn und, wie es euch der Herr einzugeben sich würdigte, predigt allen Buße.«[9]

Weniger als ein Jahrzehnt später, im Jahr 1217, traf eine franziskanische Abordnung in Deutschland(2) ein. Elisabeth(12) sollte in ihrer Jugend von ihrem Beispiel tief inspiriert werden. Indem sie sich heimlich als Bettlerin verkleidete, zollte sie Franziskus(4) ihre Anerkennung. Andere Demonstrationen der Begeisterung für seine Lehren fielen öffentlicher aus. 1225 stellte sie den Franziskanern(1) am Fuß der Wartburg(2) in der Stadt Eisenach(1) einen Standort zur Verfügung. Drei Jahre später, nach dem Tod ihres Mannes, begab sie sich dorthin und entsagte offiziell ihren Bindungen an die Welt. Doch obwohl sie sich verzweifelt danach sehnte, ging sie anschließend nicht bettelnd von Tür zu Tür. Elisabeth(13) hatte die Lehren verstanden, die Franziskus beispielhaft vorlebte. Ihr war klar, dass ihr mit einem Leben in Armut ohne Gehorsam das Schicksal von Waldes(4) drohte. Keine Selbstkasteiung, keine Geste der Erniedrigung durfte unternommen werden, ohne dass ein Oberer es befahl. Diese Erkenntnis war für eine Fürstin und Herrin über viele Diener bereits selbst eine Form von Unterwerfung. Daher hatte Elisabeth(14) schon zu der Zeit, als sie noch neben ihrem Ehemann thronte, einen(1) magister disciplinae spiritualis engagiert: einen »Lehrer der geistlichen Zucht«. Und es handelte sich dabei nicht um irgendeinen Lehrer. »Ich hätte allerdings irgendeinem reichen Bischof oder Abt Gehorsam geloben können; doch hielt ich es für besser, jemandem Gehorsam zu geloben, der nichts hat und nur vom Betteln lebt. Daher unterwarf ich mich Meister Konrad.«[10]

Persönliche Askese war jedoch nicht das, wofür Meister Konrad(2) in erster Linie berühmt war. In ganz Deutschland(3), ja sogar im fernen Rom wurde er vor allem als »unerbittlicher Ankläger von Lastern« gerühmt.[11] Aus niedrigen Verhältnissen stammend und mit einer mächtigen Redegabe ausgestattet, verteidigte er unermüdlich die Kirche und ihre Autorität. Talentsucher aus der Umgebung des Papstes hatten bereits ein Auge auf ihn geworfen. Im Jahr 1213 unternahm Konrad, ausgestattet mit einem persönlichen Auftrag von Innozenz(2), eine Predigtreise durch Deutschland. Er ritt auf einem kleinen Maultier von Ort zu Ort und trat als Prediger auf. »Unzählbare Menschenmengen beiderlei Geschlechts aus verschiedenen Provinzen folgten ihm, angezogen durch die Worte seiner Lehre.«[12] Als Elisabeth(15) ihn 1225 als ihren Lehrmeister einstellte, hatte er bereits Jahre der Erfahrung in der Unterrichtung von Häretikern hinter sich. Nun, mit einer Fürstin zur Disziplinierung, zögerte er nicht, die Rute zu schwingen. Bereits vor dem Tod Ludwigs hatte er sie dafür, dass sie eine seiner Predigten versäumt hatte, mit so heftigen Schlägen bestraft, dass die Striemen noch drei Wochen später sichtbar waren. Auf den Befehl ihres Meisters begab sich Elisabeth(16) nach ihrer Weltentsagung nach Marburg(4), der Heimatstadt Konrads, um dort ein Hospital zu gründen. Zunächst wurde sie von ihren Kindern getrennt, dann ihrer vielgeliebten Dienerinnen beraubt, doch sie ertrug geduldig jeden seiner Versuche, sie zu brechen. Sogar dann, wenn er sie für Vergehen bestrafte, die sie gar nicht begangen hatte, freute sie sich in ihrer Unterordnung. »Bereitwillig ertrug sie wiederholt Peitschenhiebe und Schläge von Meister Konrad, stets eingedenk der Prügel, die der Herr erduldet hatte.«[13]

Mit Leiden verdiente man sich die Erlösung. Als Elisabeth(17) im Jahr 1231 im zarten Alter von 24 Jahren an ihren Entbehrungen starb, zögerte Konrad(3) nicht, sie als Heilige zu preisen. Wie Gold im Feuer geläutert wird, so war sie von der Sünde gereinigt worden. Dieselbe Strenge, die sie so früh ins Grab gebracht hatte, hatte ihr auch den Himmel geöffnet. Beweis dafür waren die zahlreichen Wunder, die sich Berichten zufolge an ihrem Grab ereigneten. Eine Frau, die sich als kleines Mädchen eine Erbse ins Ohr gesteckt hatte, gewann ihr Hörvermögen zurück; zahlreiche Bucklige wurden geheilt. Am vielsagendsten von allen Wundern, zumindest aus der Sicht Konrads, war die Geschichte einer Waldenser(5)-Witwe, deren schlimm deformierte Nase aufgrund einer Anrufung der edlen Elisabeth(18) schön wurde. Die Lehre, die dieser erbauliche Bericht vermittelte, gab Konrad die Gewissheit, dass all seine Strenge, all seine Härte gerechtfertigt waren. Sechs Jahre zuvor war beim Vierten Laterankonzil erstmals vorgeschrieben worden, dass sämtliche Christen einmal jährlich eine persönliche Beichte ihrer Sünden ablegen sollten. Die Zusicherung des ehrwürdigen Columban, dass jeder Fehltritt vergeben werden konnte, hatte das offizielle Siegel kirchlicher Zustimmung erhalten. Gottes Barmherzigkeit galt jedem. Erforderlich war einzig echte Reue. Selbst die halsstarrigsten Häretiker konnten letztlich noch in den Himmel kommen.

Daher machte sich Konrad(4) mit einem erneuerten Bewusstsein von Dringlichkeit nach Elisabeths Tod auf eine neue Predigtreise, um diese Häretiker für Christus zurückzugewinnen. Er tat das mit einem neuen Aufgebot an Vollmachten. Jahrzehntelang hatten mehrere Päpste hintereinander daran gearbeitet, die im Kampf gegen die Häresie zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuweiten. Ungeduldig mit einer Tradition, die seit je dazu tendierte, Nächstenliebe höher zu bewerten als Verfolgung, hatten sie eine eskalierende Reihe von Strafmaßnahmen eingeführt. Im Jahr 1184 wurden Bischöfe, die zuvor schlafende Häretiker lieber nicht wecken wollten, angewiesen, sich aktiv auf die Suche nach ihnen zu begeben. Dann wurden im Rahmen des großen Laterankonzils unter dem Vorsitz von Innozenz(3) III. im Jahr 1215 der Kirche ausdrücklich Sanktionen in Verbindung mit einer umfassenden Verfolgungsmaschinerie vorgeschrieben. Und nun, im Jahr 1231, wurde noch einmal nachgelegt.

Ein neuer Papst, Gregor IX.(1), gab Konrad(5) nicht nur den Auftrag, gegen die Häresie zu predigen, sondern sich der aktiven Suche danach zu verschreiben – der inquisitio. Es lag nun nicht mehr im Verantwortungsbereich eines Bischofs, Häretiker vor Gericht zu bringen und über sie zu befinden, sondern es war die Aufgabe eines eigens dafür eingesetzten Klerikers. Obwohl Konrad als Priester nicht selbst »ein Urteil verfügen oder verkünden durfte, das mit dem Vergießen von Blut verbunden ist«,[14] erhielt er von Gregor(2) die Erlaubnis, weltliche Autoritäten dazu zu verpflichten, ein solches Urteil zu verhängen. Nie zuvor war einem Kämpfer gegen die Häresie eine derartige Macht gegeben worden. Wenn Konrad nun auf seinem Maultier von Dorf zu Dorf ritt und die Bewohner zusammenrief, auf dass sie seine Fragen zu ihrem Glauben beantworteten, dann tat er das nicht nur als Prediger, sondern als eine ganz neue Art von Beamtem: als Inquisitor.

Als Elisabeths(19) spiritueller Lehrer hatte Konrad(6) ihren Willen zu brechen versucht, um sicherzustellen, dass das Verdienst ihres ihm entgegengebrachten Gehorsams zunehmen möge. So zumindest hatte er seine Art des Umgangs mit ihr gerechtfertigt. Nun, da ihm ganz Deutschland(4) zur Disziplinierung überlassen war, konnte er es sich nicht leisten, in seinen Bemühungen nachzulassen. Die wahre Freundlichkeit war Grausamkeit; die wahre Barmherzigkeit Strenge. Der Schwarm an Häretikern, mit denen Konrad sich konfrontiert sah, konnte nicht so ohne Weiteres vor der Verdammung bewahrt werden. Nur Feuer konnte sie ausräuchern. Scheiterhaufen mussten aufgeschichtet werden, in einem Ausmaß, wie das nie zuvor geschehen war.

Die Verbrennung von Häretikern – bislang ein seltener, sporadischer Ausweg, der, wenn überhaupt, nur ungern zugelassen wurde – war das eigentliche Charakteristikum von Konrads(7) Inquisition. In Städten und Dörfern am Rhein hing der Gestank geschwärzten Fleisches in der Luft. »In ganz Deutschland(5) wurden so viele Häretiker verbrannt, dass ihre Zahl nicht zu überschauen war.«[15] Natürlich warfen Konrads Kritiker ihm vor, einem Tötungsrausch verfallen zu sein. Sie beschuldigten ihn, jede Anklage zu glauben, die ihm vorgelegt wurde; die Gerichtsverfahren zu beschleunigen; Unschuldige zum Tod in den Flammen zu verurteilen. Aber unschuldig war ja keiner. Alle waren Gefallene. Es war besser zu leiden, wie Christus gelitten hatte – für ein Verbrechen, das man nicht begangen hatte, an einem Ort öffentlicher Hinrichtung gemartert zu werden –, als der ewigen Verdammnis anheimzufallen. Es war besser, ein paar flüchtige Augenblicke zu leiden, als in alle Ewigkeit zu brennen.

Mit Meister Konrad(8) hatte die Sehnsucht danach, die Welt von der Sünde zu reinigen, sie von ihrem Aussatz zu heilen, mörderische Züge angenommen. Das machte sie nicht weniger revolutionär. Das Misstrauen gegenüber der weltlichen Ordnung, das Gregor VII. dazu motiviert hatte, einen gesalbten König vor den Toren von Canossa zu demütigen, teilte Konrad voll und ganz. Als Elisabeths Lehrmeister hatte er ihr verboten, Mahlzeiten zu sich zu nehmen, »bei denen sie nicht ein reines Gewissen hatte«. Alles, was auf dem Tisch ihres Ehemanns vorgelegt wurde und möglicherweise mit der Ausbeutung der Armen zusammenhing, alles, was von Bauern als Tribut oder Steuer eingezogen wurde, hatte sie pflichtbewusst verschmäht. »Das hatte zur Folge, dass sie häufig große Not litt und nichts als mit Honig bestrichene Brötchen aß.«[16]

Die edle Elisabeth war eine Heilige gewesen. Für ihre Standesgenossen galt das nicht. Im Sommer des Jahres 1233 wagte es Konrad(9), einen von ihnen, den Grafen von Sayn, der Häresie zu bezichtigen. Eine umgehend einberufene Bischofssynode, bei der auch der deutsche König zugegen war, schmetterte den Fall ab. Konrad ließ sich davon nicht entmutigen und bereitete Anklagen gegen weitere Adlige vor. Dann, am 30. Juli, als er vom Rhein nach Marburg zurückkehrte, wurde er von einer Gruppe von Rittern überfallen und erschlagen. Die Nachricht von seinem Tod wurde in ganz Deutschland(6) freudig begrüßt. Im Lateran(4) hingegen war man empört. Als Konrad(10) in Marburg(5) neben der Fürstin Elisabeth beigesetzt wurde, betrauerte Gregor(3) ihn mit düsteren Formulierungen. Der Papst wies warnend darauf hin, dass die Mörder Vorboten einer anwachsenden Finsternis seien. Der ganze Himmel, die ganze Erde war wegen ihres Verbrechens erschauert. Ihr Oberherr war buchstäblich höllisch: kein anderer als der Teufel selbst.

Ein großer und heiliger Krieg

Wenn Kleriker über das mysteriöse Aufkommen von Häresie nachdachten, dann neigten sie dazu, an deren schattenhaftem Umriss etwas wahrzunehmen, das sie als umso verstörender empfanden, als es ihnen nicht gänzlich unvertraut war. Als Konrad(11) die Waldenser(6) verhörte, weigerte er sich anzuerkennen, dass er es mit einer unbedeutenden, nur gerade im Entstehen begriffenen Sekte zu tun hatte. Stattdessen machte er etwas sehr viel Bedrohlicheres aus. Sie gehörten, so seine Überzeugung, einer Einrichtung an, die fast ein Spiegel der Kirche war: hierarchisch aufgebaut, mit universalem Anspruch. In einem Schreiben an Gregor IX.(4) wies Konrad warnend darauf hin, dass die eigentliche Treue der Häretiker dem Teufel(6) galt, »der, wie sie behaupten, der Schöpfer der himmlischen Leiber ist, und der letztendlich zur Herrlichkeit zurückkehren wird, wenn Gott der Herr entmachtet ist«.[17] Unheilvolle Rituale parodierten diejenigen der Kirche. Jene, die in die Reihen der Anhänger Satans(15) aufgenommen werden wollten, mussten an der Zunge einer gigantischen Kröte saugen. Der Glaube an Christus wurde durch den Kuss eines leichenblassen Mannes vertrieben, dessen Lippen eiskalt waren. Bei einem rituellen Mahl leckten Anhänger den Anus einer schwarzen Katze, die groß war wie ein Hund. Die ganze Versammlung grüßte sodann Satan als Herrn.

Als Gregor IX.(5) diesen sensationellen Bericht las, tat er einen noch nie dagewesenen Schritt: Er stellte sich voll und ganz dahinter. Ähnliche Geschichten waren schon lange im Umlauf, doch hatten sie nie zuvor Bestätigung durch einen Papst erhalten. Christliche Gelehrte taten traditionellerweise Gerede über Teufelsverehrung(7) als abergläubische Torheit ab. Kein vernünftiger oder gebildeter Mensch konnte dergleichen ernstnehmen. Es roch einfach zu sehr nach Heidentum. Nur leichtgläubige Bauern und Novizen, die Angst vor ihrem eigenen Schatten hatten, befürchteten, dass Dämonen auf der Erde unterwegs waren, Anhänger anwarben und Hexensabbate abhielten. Der Glaube an solchen Unsinn war in sich das Werk des Teufels. So lautete das hochoffizielle Urteil Gratians(6) und anderer Kirchenrechtler. »Gibt es irgendjemanden, der nicht durch Träume und nächtliche Gesichte von sich selbst entfernt wird, und vieles sieht im Schlaf, das er mit wachen Augen nie erblickt hat?«[18]

Allerdings hielt dieser erfrischende Skeptizismus die Gebildeten nicht davon ab, sich vor der Existenz einer von der Hölle inspirierten Verschwörung zu fürchten. Die Waldenser(7) waren nicht die einzigen Häretiker im Rheinland(1), die in den Jahrzehnten vor Konrads Tätigkeit als Angehörige einer markanten und verderblichen Sekte identifiziert wurden. 1163 wurden sechs Männer und zwei Frauen in Köln(2) verbrannt, weil sie angeblich einer obskuren Gruppe angehörten, die Cathari genannt wurde – die »Reinen«. An vereinzelten Orten folgten weitere Hinrichtungen von Katharern(1), wenn auch nie in größerer Anzahl. Was diese Katharer genau glaubten, blieb undurchsichtig. Einige identifizierten sie in Konrads Manier als Teufelsanbeter(8) und behaupteten, ihr Name leite sich von der Katze ab, deren Anus Anhänger Satans(16) angeblich küssen mussten. Einige verwechselten sie mit den Waldensern(8). Einige stellten eine Verbindung zu anderen, gleichermaßen rätselhaften Gruppen von Häretikern her: »zu jenen, die manche Patarener nannten, andere Publikaner, und wieder andere bei wieder anderen Namen.«[19] Nur Spezialisten, die sich in der Geschichte der Kirche genau auskannten, wussten, wer die Katharer ursprünglich gewesen waren: Schismatiker, die zur Zeit Konstantins mit einer abweisenden Bemerkung im Kanon des Konzils von Nicaea herausgehoben worden waren. Dass sie jetzt, fast tausend Jahre später, plötzlich im Rheinland(2) wieder auftauchten, zeigte nur, wie gefährlich, wie untot Häresie sein konnte. Stets lauerte sie in den Schatten als konstante, Raum und Zeit übergreifende Gefahr.

Allerdings sahen sich die meisten Christen, die von nervösen Kirchenfunktionären als »Katharer(2)« bezeichnet wurden, selbst auch nicht im Entferntesten als Häretiker – und als Katharer übrigens auch nicht. So wie das Grauen vor Teufelsanbetung sich von den Phantasien der Ungebildeten nährte, so wurde die Angst vor einer wiederkehrenden, aus ihrem Grab heraufbeschworenen Häresie von Gelehrsamkeit genährt. Die Kleriker, die das Personal der Kurie bildeten und den gewaltigen Apparat der katholischen Kirche(12) mit Bürokraten, Rechtsgelehrten und Lehrern versorgten, hatten zu schnell vergessen, dass sie selbst die Neuerer waren. Den Radikalen, die sie dafür kritisierten, dass sie die Sache der reformatio verrieten, standen auf der anderen Seite große Zahlen von Christen gegenüber, die noch immer die Ansprüche der reformatio nicht kannten – oder sie ablehnten.

An Orten, die von Kathedralen und Universitäten weit entfernt waren, hielten sich alte Anbetungsgewohnheiten lange. Das traf vor allem auf jene Regionen der Christenheit zu, wo es kaum eine zentrale Autorität gab und wo die Erlasse von Königen wie auch von Bischöfen wenig Beachtung fanden. Kleriker, die in den Hörsälen von Paris oder Bologna ausgebildet waren und es wagten, die ausgetretenen Pfade auch einmal zu verlassen, sahen sich womöglich mit ganzen Bevölkerungsgruppen konfrontiert, denen reformatio gar nichts bedeutete und die für jene, die sie an die Macht gebracht hatte, nur Verachtung empfanden. Diese Beklagenswerten als »Katharer(3)« zu bezeichnen hieß, bewusst zu ignorieren, was sie eigentlich waren: Christen, die von den neuen Rechtgläubigkeiten des Zeitalters schlicht außen vor gelassen worden waren.

Nirgends waren die daraus sich ergebenden Spannungen so offensichtlich wie in Südfrankreich. Hier, wo lokale Treuebindungen ebenso intensiv wie aufgesplittert waren, hatte man den Eindruck, dass Paris wirklich sehr weit entfernt war. Im Jahr 1179 bezeichnete ein vom Papst einberufenes Konzil »die Gegenden um Albi(1) und Toulouse(1) herum«[20] als einen ganz besonders üblen Nährboden der Häresie. Päpstliche Legaten, welche die Region besuchten, trafen dort auf einen widerspenstigen, streitsüchtigen Menschenschlag, der viele Gründungsideale der reformatio ablehnte: den Autoritätsanspruch der internationalen Kirchenhierarchie; das Gehorsams- und Ehrfurchtsgebot; den Anspruch auf Abgaben; das Beharren darauf, dass es eine unüberwindliche Kluft zwischen den Klerikern und jenen zu geben hatte, denen ihre Sorge galt.

Sakrale Autorität galt unter denen, die von den päpstlichen Beamten abschätzig als »Albigenser(1)« bezeichnet wurden, nicht als Vorrecht von Priestern. Jeder konnte sie beanspruchen. Draußen in den Feldern, die Albi(2) und Toulouse(2) umgaben, wurde ein Bauer womöglich höher geachtet als ein Bischof. Ein Witwer, der einen Ruf als Vorbild an Höflichkeit und Selbstbeherrschung hatte; eine Matrone, die abgeschieden von der Welt lebte: Menschen wie diese wurden als boni homines, »gute Männer«, »gute Frauen« geehrt. Die Allerheiligsten, so glaubte man, näherten sich der Vollkommenheit Christi selbst an: Sie wurden »Freunde Gottes«. Bei ihnen gab es keine noch so demütige, keine noch so alltägliche Geste, die nicht mit einer Ahnung des Göttlichen getränkt war. Das Christentum der »guten Menschen« war tief im heimischen Boden verwurzelt, und es verdammte die reformatio als Häresie, als eine Angelegenheit von »räuberischen Wölfen, Heuchlern und Verführern«.[21]

Im Jahr 1165 hatte sich der Bischof fünfzehn Kilometer südlich von Albi(3) auf einem Dorfplatz vor einem großen Publikum aus Adligen und Prälaten mit seinen Gegnern auseinandergesetzt. Vieles von dem, was die »guten Menschen« an jenem Tag über ihre Glaubensinhalte enthüllten, schockierte den versammelten Klerus zutiefst. Ganz unverblümt hatten sie das Alte Testament als wertlos abqualifiziert; sie erklärten, »jeder gute Mensch, sei er Kleriker oder Laie«, könne einer Eucharistiefeier vorstehen; und sie behaupteten, sie schuldeten Priestern »keinen Gehorsam, da die Priester böse seien, keine guten Lehrer, sondern angeheuerte Diener«.[22] Andererseits war vieles, was sie glaubten, perfekt rechtgläubig. »Wir glauben an den Einen Gott, den Lebendigen und Wahren, drei in einem und einer in drei, den Vater, den Sohn, und den Heiligen Geist.«[23] Christus war Fleisch geworden; er hatte gelitten, war gestorben und begraben worden; er war am dritten Tag auferstanden und in den Himmel aufgefahren. Das war dasselbe Glaubensbekenntnis, dem auch die Bischöfe beipflichteten. Aber das beruhigte sie nicht. Stattdessen bestätigte es nur ihre finsterste Befürchtung: dass Häresie eine Seuche war, die auch solche befiel, die nicht einmal merkten, dass sie angesteckt waren. Und eine unkontrollierte Seuche würde sich natürlich ausbreiten.

»Wunden, die mit einem Verband nicht behandelt werden können, müssen mit dem Messer herausgeschnitten werden.«[24] Im November 1207, als Innozenz(4) III. diese düstere medizinische Regel formulierte, hatte die Furcht, dass Häresie irgendwann das gesamte christliche Volk vergiften könnte, fieberhafte Züge angenommen. Innozenz selbst verfügte dank einer Kombination aus Begabung und Glück über eine Autorität, von der Gregor VII. nur hätte träumen können. Glaubhafter als jeder andere Papst wollte er das Schicksal der Welt beeinflussen. Doch sein Machtumfang schien seinen Ambitionen hohnzusprechen. Wenn er von Ost nach West blickte und sich schmerzlich den ihm von Gott übertragenen überwältigenden Auftrag vor Augen führte, dann musste er befürchten, dass sich die Situation der Christenheit allenthalben verschlechterte.

Im Heiligen Land war Jerusalem(41) an die Sarazenen(15) verloren worden. Ein von den Königen Frankreichs und Englands angeführter Feldzug, mit dem die Stadt zurückerobert werden sollte, war fehlgeschlagen. Ein zweiter, im Jahr 1202 begonnener, von Innozenz(5) angestoßener Kreuzzug hatte einen Umweg über Konstantinopel(11) gemacht. 1204 hatten die Kreuzfahrer die Stadt gestürmt und geplündert. Eine Festung, die über viele Jahrhunderte hinweg dem Neid heidnischer Kriegsherren standgehalten hatte, war schließlich gefallen – an ein christliches Heer. Die Eroberer rechtfertigten die Erstürmung der Stadt, indem sie die Einwohner als Rebellen gegen das Papsttum bezeichneten: Denn die Kirche von Rom und diejenige von Konstantinopel waren seit der Zeit Gregors VII. durch ein sich stetig vertiefendes Schisma voneinander getrennt. Innozenz jedoch war entsetzt über die Plünderung dieses Bollwerks des Christentums und beklagte den Fall Konstantinopels(12) als ein Werk der Hölle.

Ungefähr zur selben Zeit war in Spanien(5), wo über viele Jahrhunderte hinweg christliche Krieger entschlossen die Grenze von al-Andalus(3) immer weiter zurückgedrängt hatten, deren Vorrücken gerade erst abrupt gestoppt worden. Im Jahr 1195 hatte eine besonders katastrophale Niederlage – bei der ein ganzes Heer ausgelöscht und drei Bischöfe getötet worden waren – den muslimischen General dazu inspiriert, sich mit den Worten zu brüsten, er werde bald seine Pferde in Rom(54) unterstellen. Für Innozenz(6) war der Grund für den Zorn Gottes offenkundig. An eine Rückeroberung Jerusalems war nicht zu denken, solange das Übel der Häresie schwärte. Die Sarazenen(16) waren böse, aber so böse wie die Häretiker waren sie nicht. Im Januar 1208 brachte der Mord an einem päpstlichen Legaten am Ufer der Rhône(2) für Innozenz das Fass zum Überlaufen. Er wusste, was er zu tun hatte. Er konnte nicht die Verseuchung des gesamten christlichen Volkes durch die Albigenser(2) riskieren. Er(7) hatte keine andere Wahl: Ihre Häresie musste mit dem Schwert vernichtet werden.

Als Urban II.(9) 1095 die Krieger der Christenheit dazu aufgerufen hatte, sich ins Heilige Land aufzumachen, hatte er sie angewiesen, als Symbol ihres Gelübdes das Zeichen des Kreuzes zu tragen. Nun, als sich im Juli 1209 bei Lyon(11) ein so riesiges Heer von Rittern versammelte, wie es seit der Zeit Urbans nicht mehr vorgekommen war, waren auch sie crucesignati: »bezeichnet mit dem Kreuz«. Damit waren sie als Pilger kenntlich gemacht, die wie ihr Heiland und Retter so in Liebe zur Menschheit entbrannt waren, dass sie bereit waren, sich töten zu lassen, um die Menschen vor der Hölle zu retten. »Das Kreuz, das auf euren Umhängen mit einem weichen Faden befestigt ist«, so der Hinweis eines Predigers, »war an Seinem Fleisch mit eisernen Nägeln befestigt.«[25] Selbst jene, die vom Wegrand aus sahen, wie die gewaltige Streitmacht die Rhône(3) hinunterzog und sich dann entlang der Küste auf die Stadt Béziers(1) zubewegte, konnten bei den Angreifern ein formidables Identifikationsgefühl mit den Leiden Christi erkennen. Den Feldzug bezeichneten sie als crozada: einen »Kreuzzug«.

Doch obwohl das Wort später retrospektiv auf die große Unternehmung übertragen werden sollte, die Urban(10) angestoßen hatte, war der Kreuzzug gegen die Albigenser(3) eine Art von Krieg, wie Christen ihn nie zuvor geführt hatten. Es handelte sich nicht wie die Überfälle Karls des Großen auf die Sachsen um eine Übung in territorialer Ausdehnung; und ebensowenig war es wie die Kreuzzüge, die auf die Befreiung Jerusalems(42) abgezielt hatten, eine bewaffnete Pilgerreise zu einem Ziel von transzendenter Heiligkeit. Sein Zweck war vielmehr die Ausrottung gefährlicher Glaubensinhalte. Nur Blut konnte die Christenheit von der Verschmutzung durch Häresie reinwaschen.

Beim Sturm auf Béziers(2) gab es einige, die sich sorgenvoll fragten, wie die Gläubigen von den Häretikern unterschieden werden konnten. »Herr«, so ihre Frage an den päpstlichen Legaten, »was sollen wir tun?« »Tötet sie alle«, so die barsche Antwort. »Der Herr kennt die Seinen.«[26] Das wurde jedenfalls später erzählt. Die Episode brachte nachdrücklich die eigentümliche Angst zum Ausdruck, die das Gemüt der Kreuzfahrer verdunkelte. Dass ein Häretiker auf den ersten Blick wie ein frommer Christ aussah; dass die Kranken für gesund gehalten werden konnten; dass man womöglich die Ansteckung gar nicht diagnostizieren konnte – genau das stählte ihre Entschlossenheit. Das Risiko war erschreckend hoch: Womöglich würden sie, wenn sie die Pest aus den Landstrichen, die sie befallen hatte, nicht gründlich ausrotteten, ihr selbst zum Opfer fallen. Das gnadenlose, totale Gemetzel in Béziers wurde zum Präzedenzfall. Sogar jene, die in Kirchen Schutz suchen, wurden von den Schwertern der Kreuzfahrer niedergemacht; Blut schwärzte den Fluss; Feuer, das die Überlebenden verbrannte und die Kathedrale als einen Hagel aus glühenden Steinen und geschmolzenem Metall zum Einsturz brachte, vollendete den Holocaust. »Die göttliche Rache«, berichtete der Legat des Papstes nach Rom »tobte herrlich.«[27]

An nur einem einzigen Nachmittag wurde Béziers(3) bis auf die Grundmauern niedergebrannt; überall lagen Leichen. Der Kreislauf von Gemetzel und Zerstörung, an dessen Anfang diese Ereignisse standen, sollte sich noch zwei Jahrzehnte fortsetzen. Erst im Jahr 1229, als Innozenz(8) gestorben und Gregor IX.(6) Papst geworden war, beendete ein in Paris(11) unterzeichneter Vertrag schließlich das Töten. Der Krieg hatte längst die Kapazität der Päpste hinter sich gelassen, ihn zu kontrollieren. Terror war zur Tagesordnung geworden. Garnisonen wurden geblendet; Gefangene verstümmelt; Frauen in Brunnen geworfen. Innozenz(9), ohne dessen eisenharten Willen zur Mission der Kreuzzug nie begonnen worden wäre, war hin- und hergerissen zwischen himmelhohem Jubel über die für Christus gewonnenen Siege und Höllenqualen wegen der Kosten.

Die Kreuzfahrer selbst zeigten weniger Bedenken. Obwohl es während der gesamten Unternehmung grundsätzlich darum ging, Häretiker in die Kirche zurückzuholen, war es den Anführern nie schwergefallen, ihrer Verpflichtung nachzukommen, halsstarrigen Widerstand mit dem Tod zu bestrafen. 1211 hatten Bischöfe nach der Eroberung der Burg von Cassés(1) den dortigen »guten Menschen« eine Predigt gehalten und sie gedrängt, sich doch vom Irrtum abzuwenden. Es hatte nichts gefruchtet. Die Bemühungen der Bischöfe waren gescheitert. »Und da sie nicht einmal einen einzigen Häretiker bekehren konnten, ergriffen die Pilger sie alle. Und dann verbrannten sie sie. Und sie taten es mit großer Freude.«[28]

Als Gregor(7) Konrad(12) von Marburg und anderen Inquisitoren seinen Auftrag gab, konnte er das in dem befriedigenden Bewusstsein tun, dass die Verfolgung funktionierte. Der chirurgische Eingriff von Innozenz(10) am kranken Leib der Christenheit war ganz offensichtlich ein Erfolg. Die Feinde Christi befanden sich überall auf dem Rückzug. In Spanien(6) hatte am Fuß der Sierra Morena(1), der gewaltigen Gebirgskette, die sich über den südlichen Teil der Iberischen Halbinsel erstreckt, Gottes Gunst den christlichen Kämpfern einen entscheidenden Sieg verliehen. Die Niederlage der Sarazenen(17) bei Las Navas de Tolosa(1) im Sommer 1212 hatte sie gefährlich exponiert. Zwei Jahrzehnte später standen ihre bedeutendsten Städte – Cordoba(1), Sevilla(1) – kurz vor der Eroberung durch den König von Kastilien(1). Gleichzeitig waren im Kernland der Albigenser(4) diejenigen der »guten Menschen«, die den vernichtenden Eifer der Kreuzfahrer überlebt hatten, Flüchtlinge, die sich in Wäldern und Viehställen versteckt hielten. Die Tage, da sie Bischöfen auf Marktplätzen Strafpredigten hielten, waren für immer vorbei.

Für Gregor(8) und viele andere bestand kein Zweifel daran, dass man eine gewaltige Verschwörung besiegt hatte. Vor ihrer Niederlage bei Las Navas de Tolosa(2) hieß es, die Sarazenen(18) hätten geplant, den Albigensern zur Hilfe zu kommen. Die Albigenser(5) selbst wurden – nun, da die »guten Menschen« vernichtet und die Realität dessen, was sie gewesen waren, endgültig verzerrt waren – zunehmend als Handlanger einer ganzen häretischen Kirche gesehen. Diese Kirche, so hieß es, habe seit ältesten Zeiten existiert; sie stamme aus Bulgarien; sie sei auf der ganzen Welt verbreitet. Spezialisten, die sich in den Häresien der Antike auskannten, machten ihren eigentlichen Ursprung bei einem Propheten in Persien aus. »Sie folgen ihm, indem sie glauben, dass es zwei Quellen des Lebens gibt: Die eine ist ein guter Gott, die andere ein böser Gott – mit anderen Worten, der Teufel.«[29]

So also sah der Sieg der Kreuzfahrer aus: dass Geister, heraufbeschworen aus der unvorstellbar fernen Vergangenheit eines Dareios, in den Vorstellungen des christlichen Volks lebendiger waren als diejenigen der »guten Männer und Frauen«. Die Phantasie, dass die Albigenser(6) zu einer uralten Kirche gehört hätten, die sich den rivalisierenden Prinzipien von Gut und Böse verschrieben hatte – einer Kirche, die später als »Katharer(4)« bezeichnet werden sollte –, sollte sich als besonders langlebig erweisen; was aber nichts daran änderte, dass es lediglich eine Phantasie war. Die Bereitschaft Gregors IX.(9), den Glauben an satanische Verschwörungen zu bestrafen, wurde durch das Blut derer genährt, die während des Albigenser-Kreuzzugs ums Leben gekommen waren. Das Schlachten hatte bewiesen, dass ein krankes Glied tatsächlich vom Leib der Christenheit amputiert werden konnte – doch hatte es auch gezeigt, wie schwer es war, Fäulnis von Gesundheit, Dunkel von Licht, Häresie von Christentum zu unterscheiden.

Das Grauen angesichts dieser Erkenntnis – und dafür, was es für jene bedeutete, die von Gott mit der Verteidigung seines Volks betraut waren – sollte nicht so schnell wieder verschwinden.

Der Ewige Jude

Kurz vor dem großen Sieg von Las Navas de Tolosa hatte ein anderes christliches Heer, das sich auf den Kampf gegen die Sarazenen(19) an der Küste Portugals(1) vorbereitete, als Vorhut einen Trupp reitender Engel gesehen. »Sie waren in Weiß gekleidet und trugen rote Kreuze auf der Brust.«[30] Die Vorstellung, dass Spanien(7) ein großes Schlachtfeld zwischen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle war, hatte im Christentum eine lange Geschichte. Die Wiedereroberung von Gebieten, die an die Sarazenen verlorengegangen waren, wurde von den Anführern der reformatio mit geradezu obsessivem Eifer betrieben.

Dieser Eifer hatte ganz direkt zum Bau von Cluny(8) beigetragen. Die Abteikirche, die größte der Welt, war mit der Kriegsbeute aus al-Andalus(4) finanziert worden. 1142 hatte Petrus Venerabilis(3), der große Abt von Cluny, die Pyrenäen überquert, um sich näher mit dem vertraut zu machen, was die Sarazenen(20) eigentlich glaubten. Er traf sich mit Gelehrten, die fließend Arabisch sprachen, und engagierte sie für ein kolossales Projekt: die erste Übersetzung des Koran(5) ins Lateinische. Lieber überzeugen als zwingen – das war schon immer sein Motto gewesen. Als er die Übersetzung in Händen hatte, wandte er sich direkt an die Sarazenen(21), »nicht, wie es die Unsrigen oft tun, mit Waffen, sondern mit Worten, nicht mit Gewalt, sondern mit Vernunft, nicht mit Hass, sondern mit Liebe«.[31] Doch diese versöhnlichen Empfindungen hatten Petrus(4) nicht davon abgehalten, sich vom Koran ganz und gar abgestoßen zu fühlen. Man konnte sich überhaupt keine schlimmere Mischung aus Häresien vorstellen, so zusammengewürfelt, wie er »ebenso aus jüdischen Legenden wie aus häretischen Schwätzereien« war.[32] Selbst seine Vision des Himmels war nichts weiter als eine Mischung aus Völlerei und Sex. Cluny war das nicht. Weit davon entfernt, Brücken zu bauen, hatte Petrus’(5) Übersetzung des Koran die Christen lediglich in ihren düstersten Verdächtigungen bezüglich seines Inhalts bestätigt. Der Islam(6) war die Sickergrube aller Häresien, und Mohammed(11) »ein Saukerl«.[33]

Der Koran(6) war allerdings nicht das einzige Buch, das man aus sarazenischen Bibliotheken hatte mitgehen lassen. 1085 wurde Toledo(1), die alte Hauptstadt des westgotischen Königreichs und ein berühmtes Studienzentrum, vom König von Kastilien(2) eingenommen, dem größten der diversen spanischen Königreiche. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte wurde vom Erzbischof der Stadt ein umfangreiches Übersetzerteam zusammengerufen: Muslime(6), Juden(114), Mönche aus Cluny(9). Sie hatten viel zu tun. Neben Texten von muslimischen und jüdischen Gelehrten war Toledo eine Fundgrube für griechische Klassiker, Werke von Mathematikern, Ärzten und Philosophen der Antike. Diese waren zwar schon seit Langem in arabischer Sprache verfügbar, dem lateinischen Westen hingegen waren sie über viele Jahrhunderte hinweg nicht zugänglich gewesen.

Vor allem ein Autor stand im Brennpunkt christlicher Begeisterung. »Nur zwei Werke des Aristoteles(9) sind bei den Lateinern noch in Gebrauch.«[34] So die Klage Abaelards(18), kurz vor dem Jahr 1120. Innerhalb eines Jahrzehnts war sie überholt. Iacopo(1), ein Venezianer, der lange in Konstantinopel(13) lebte, hatte sich an eine erstaunliche Arbeit gemacht: Zum Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1147 waren diverse Werke von Aristoteles direkt aus dem Griechischen übersetzt.28 Zu diesem Strom an Übersetzungen hatten die Bemühungen der Schule in Toledo(2) bald eine Flut hinzugefügt. Bis zum Jahr 1200 waren fast sämtliche bekannten Werke des Aristoteles auf Latein zugänglich. Nun stürzten sich Universitätsdozenten, die der Vorstellung anhingen, dass Gottes Schöpfung von Regeln regiert wurde und dass die Vernunft die Sterblichen dazu befähigte, diese Regeln zu verstehen, mit einer Mischung aus Gier und Erleichterung auf die Schriften des berühmtesten Philosophen der Antike. Dass einer Autorität wie Aristoteles wieder Gehör verschafft worden war, verhieß ihren eigenen Erkundungen der Funktionsweise des Universums ein solideres Fundament als je zuvor. Vor allem Paris(12) war schnell zu einem Hort aristotelischer(10) Studien geworden. Die begeisterte Stimmung, die von den dortigen Schulen ausging, hatte Studenten aus der gesamten Christenheit angezogen. Unter ihnen befanden sich auch zwei zukünftige Päpste: Innozenz(11) III. und Gregor IX.(10)

Doch die Auferstehung eines Weisen, der lange vor Christus gelebt und keinerlei Kenntnis der Heiligen Schrift hatte, bot nicht nur Gelegenheiten, sondern auch Herausforderungen. Wenn zahlreiche Aspekte seiner Lehre – die Beständigkeit der Arten, oder die unveränderliche Bewegung der Sonne und des Mondes und der Sterne bei ihrem Umlauf um die Erde – ohne Weiteres in das Gewebe christlicher Gelehrsamkeit eingefügt werden konnten, gab es daneben doch auch andere, problematischere. Allein die Vorstellung eines rational geordneten Kosmos, die für Naturphilosophen so reizvoll war, bereitete nach wie vor vielen in der Kirche Unbehagen.

Aristoteles(11) ging davon aus, dass es keine Schöpfung gegeben, dass das Universum immer existiert habe und immer existieren werde, und das war natürlich ein besonders krasser Widerspruch zur christlichen Heiligen Schrift. Wenn Kreuzfahrer sich dafür abkämpften, die Häresie in Südfrankreich auszurotten – wie konnte es dann Studenten in der Hauptstadt des Landes erlaubt sein, eine dermaßen schädliche Lehre zu studieren? Die Besorgnisse in Paris(13) wurden im Jahr 1210 noch durch die Entlarvung mehrerer Häretiker vermehrt, deren Aristoteles-Lektüre sie zu der Überzeugung geführt hatte, dass es kein Leben nach dem Tode gab. Der Bischof der Stadt reagierte rasch. Zehn der Häretiker wurden verbrannt. Diverse Aristoteles-Kommentare wurden ebenfalls verbrannt. Die Werke des Aristoteles(12) über Naturphilosophie wurden offiziell verboten. »Sie dürfen in Paris nicht gelesen werden, weder öffentlich noch privat.«[35]

Doch das Verbot war nicht aufrechtzuerhalten. 1231 erließ Gregor IX.(11) eine Verfügung, die der Universität faktisch Unabhängigkeit von der Einmischung durch Bischöfe garantierte, und bis 1255 standen sämtliche Aristoteles(13)-Texte wieder auf dem Lehrplan. Diejenigen, die am besten dafür qualifiziert waren, von ihnen zu lernen, waren, wie sich herausstellte, nicht die Häretiker, sondern die Inquisitoren. Die Tage, an denen ganze Städte ausgelöscht wurden, weil man davon ausging, dass Gott die Seinen kennen würde, waren vorüber. Die Verantwortung für die Ausrottung der Häresie war nun Ordensbrüdern übertragen worden.

Führend war dabei ein Orden, der im Jahr 1216 aufgrund einer päpstlichen Verfügung gegründet worden war. Er sollte der Kirche als intellektueller Stoßtrupp dienen. Sein Gründer, ein Spanier(8) namens Dominikus(1), hatte sich an die Orte begeben, wo die »guten Menschen« zu finden waren; ihren Sonderbarkeiten hatte er Paroli geboten und sie in eindringliche Diskussionen verwickelt. Im Jahr 1207, zwei Jahre vor der Zerstörung von Béziers, hatte er sich nördlich der Stadt mit einem von ihnen getroffen und öffentlich mehr als eine Woche lang mit ihm debattiert. Für die Ordensbrüder, die in dieser Tradition militanten Predigens ausgebildet waren, war Aristoteles(14) ein Geschenk des Himmels. Die Aufgabe der Dominikaner(1) bestand darin, zu befragen, zu untersuchen, Hinweise auszuwerten. Wer war als Vorbild für diese Herangehensweise besser geeignet als der berühmteste Philosoph der Menschheitsgeschichte? Aristoteles lieferte nicht nur den Feinden der Kirche keine Schützenhilfe, sondern wurde sogar erfolgreich zu ihrer Verteidigung herangezogen. Das Studium seiner Philosophie wurde von den Universitäten institutionalisiert und vom Papsttum zugelassen, für christliche Gelehrte also zunehmend sicher gemacht. Wenn der Standard bei den Ermittlungen gegen Häresie von diesem Trend profitierte, dann galt das auch für die Ermittlungen der Funktionsweisen des Universums. Diese Funktionsweisen zu ergründen war gleichbedeutend mit der Ergründung der göttlichen Ordnung selbst.

Das Unternehmen, die Philosophie des Aristoteles(15) mit der christlichen Lehre zu versöhnen, war keine leichte Übung. Viele trugen dazu bei, doch keiner tat in dieser Hinsicht mehr als ein Dominikaner(2) namens Thomas(1), gebürtig aus Aquino(1), einer kleinen Stadt südlich von Rom. Das Buch, an welchem er zwischen 1265 und seinem Tod im Jahr 1274 arbeitete, ein gewaltiges Kompendium »alles dessen, was zur christlichen Religion gehört«,[36] war der umfassendste je unternommene Versuch, den Glauben mit der Philosophie in Einklang zu bringen. Thomas von Aquin(2) starb in der Überzeugung, bei seinen Bemühungen gescheitert zu sein; vor der hell leuchtenden Unerkennbarkeit Gottes sei alles, was er geschrieben habe, nichts als Stroh; in Paris(14) wurden zwei Jahre nach seinem Tod mehrere seiner Aussagen vom Bischof der Stadt verurteilt.

Allerdings dauerte es gar nicht lange, bis das Ausmaß seiner Leistung nicht nur erkannt, sondern dankbar anerkannt wurde. 1323 wurde sein Ruf besiegelt, indem der Papst ihn heiligsprach. Die Folge davon war, dass als ein Fundament katholischer Theologie die Überzeugung verankert wurde, dass Offenbarung und Vernunft sich durchaus nicht ausschließen. Ein Jahrhundert, nachdem die Bücher des Aristoteles über Naturphilosophie in Paris verboten worden waren, musste niemand mehr befürchten, sich mit ihrem Studium den Vorwurf der Häresie einzuhandeln. Die Dimensionen, die sie eröffnet hatten – von der Zeit, vom Raum, von der unwandelbaren Ordnung der Sterne – galten nun als so christlich wie die Heilige Schrift selbst.

Denjenigen, die ihn in den Jahrzehnten nach seinem Tod lasen, kam Thomas von Aquin(3) vor wie eine Stimme, die direkt aus dem Strahlenglanz des Himmels ertönte. Den Christen, die lange in Furcht vor Häresie gelebt hatten, bot er eine doppelte Zusicherung: zum einen, dass die Lehren der Kirche wahr waren; und zum anderen, dass das Licht dieser Wahrheit selbst noch in Dimensionen zum Vorschein kam, die es scheinbar bedrohten. Aristoteles war nicht der einzige Philosoph, den Thomas(4) in seinem gewaltigen Werk zitierte. Es gab auch noch weitere Heiden; ja es gab sogar Sarazenen(22) und Juden(115). Seine Bereitschaft, sie als Autoritäten anzuerkennen, war kein Zeichen kultureller Katzbuckelei, ganz im Gegenteil: sie zeigte das absolute Vertrauen, dass Weisheit christlich war, egal wo sie auftrat. Vernunft war eine Gabe Gottes. Jeder besaß sie. Die Zehn Gebote waren keine Vorschriften, sondern Erinnerungen an das, was die Menschheit bereits wusste. Sie manifestierten sich in der Struktur des Universums selbst. Die Liebe, mit der Gott seine Geschöpfe liebte, war der Mittelpunkt eines Kreises, zu welchem alle Teile des Umfangs in einer gleichen Beziehung standen. »Alles, was durch Geist und Raum kreist, ist in einer solchen Ordnung geformt, dass man Ihn verkostet, wenn man diese Harmonie betrachtet.«[37]

Doch diese Erhabenheit hatte ihre Schattenseite. Wenn alles von Ewigkeit her christlich war, dann ließ das diejenigen, die verstockt in ihrer Torheit die Wege der Häresie nicht verließen, als um so verwerflicher erscheinen. Das Massaker an den Albigensern hatte einen Präzedenzfall geschaffen, der nicht so schnell in Vergessenheit geraten sollte. Die Dominikaner(3) waren bei aller Sorgfalt, mit der sie als Inquisitoren vorgingen, bei aller Gewissenhaftigkeit, mit der sie die Methoden des Aristoteles auf ihre Aufgabe der Identifizierung von Häretikern anwandten, gegen Phantasien von Massenvernichtung nicht immun. Im Jahr 1274, demselben Jahr, als Thomas von Aquin zu der Überzeugung gelangte, dass sein Lebenswerk vergeblich gewesen war, hielt Humbert von Romans(1), ein ehemaliger Oberer seines Ordens, Kreuzfahrer bei einem in Lyon(12) abgehaltenen Konzil nachdrücklich dazu an, sich von Karl Martel inspirieren zu lassen, »der 370 000 seiner Gegner tötete, ohne viele seiner eigenen Männer einzubüßen«.[38] Sarazenen(23), Häretiker, Heiden: Wenn sie das Christentum bedrohten, hatte man in ihnen legitime Ausrottungsziele zu sehen.

Gegen den entschiedensten aller Feinde Christi hingegen durfte es keine Vernichtungskampagnen geben. Humbert von Romans(2) erinnerte beim Konzil von Lyon(13) daran, dass die Juden(116) nicht eliminiert werden durften. Am Ende der Tage, so die Prophezeiung, würden sie getauft werden; doch bis es so weit war, bestand ihr Schicksal darin, dem Christenvolk als lebendes Zeugnis des Wirkens der göttlichen Gerechtigkeit zu dienen. Innozenz(12) III. hatte erklärt: »Obwohl die Treulosigkeit der Juden in jeder Hinsicht verdammungswürdig ist, dürfen sie, weil durch sie die Wahrheit unseres Glaubens bewiesen wird, von den Gläubigen nicht massiv unterdrückt werden.«[39] Ein fahler, höhnischer Abklatsch von Barmherzigkeit. Er gründete in der Überzeugung, dass die Juden(117) im Unterschied zu den Sarazenen für die Christenheit keine Bedrohung darstellten, und ging völlig selbstverständlich davon aus, dass ihre Lebensweise vollständig überholt war, dass sie und all ihre Gesetze, ihre Bräuche und ihre Gelehrsamkeit überwunden waren und jetzt verdorrt im Staub lagen. Doch die Rückständigkeit der Juden(118) war nicht so offensichtlich, wie die kirchlichen Autoritäten es gern behaupteten. Im Unterschied zu den Waldensern waren die Juden(119) in einem Ausmaß gebildet, das die meisten Christen in den Schatten stellte. Thomas von Aquin war nicht der Einzige, der die Errungenschaften ihrer Gelehrsamkeit bewunderte. Sogar der Haushalt des Papstes war über lange Zeit hinweg von Juden(120) verwaltet worden. Ein Schüler Abaelards hatte ganz freimütig anerkannt: »Ein Jude kann noch so arm sein – wenn er zehn Söhne hat, wird er sie alle lesen und schreiben lehren, nicht um des Gewinnes willen, wie es die Christen zu tun pflegen, sondern damit sie Gottes Gesetz verstehen – und das gilt nicht nur für seine Söhne, sondern auch für seine Töchter.«[40]

Daher überraschte es wohl kaum, dass die Umsetzung der reformatio mit der für sie typischen Ungeduld gegenüber Rivalen viel Leid über die Juden(121) brachte. Die Ideale der reformatio – eine von der Verderbnis gereinigte Christenheit, eine in Licht gekleidete Kirche – hatten bei vielen Christen in Städten und Dörfern in ganz Europa eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber ihren jüdischen Nachbarn aufkommen lassen. Lange vor dem Brief Konrads(13) von Marburg an Gregor IX.(12), in dem er den Papst vor Häretikern gewarnt hatte, die mit Dämonen verkehrten, wurden Juden als willfährige Handlanger des Teufels angesehen. Die Juden(122) waren Hexenmeister; sie waren Gotteslästerer; sie waren Feinde der Kirche, die angeblich, wo immer sie die Möglichkeit hatten, die in der Eucharistie verwendeten geweihten Gefäße mit ihrem Speichel, ihrem Sperma, ihren Exkrementen beschmutzten. Am schlimmsten aber: Sie waren Mörder.

1144 hatte die Entdeckung des Leichnams eines Jungen in einem Wald bei der englischen Stadt Norwich(1) einen Priester, der unbedingt einen lokalen Märtyrer haben wollte, dazu verleitet, eine Fülle von sensationellen Anschuldigungen auszubrüten: Der Junge sei von den Juden(123) der Stadt entführt worden; er sei auf dieselbe Weise wie Christus gefoltert worden; er sei als Opfer dargebracht worden. Die Geschichte wurde zwar allgemein dementiert, doch ganz aus der Welt geschafft war sie damit nicht; und so hatte sie angefangen, sich wie eine Seuche auszubreiten. Als später weitere ähnliche Geschichten dazukamen, wurde noch eine höllische Raffinesse hinzugefügt: dass die Juden(124) in einer grotesken Parodie der Eucharistie die Gewohnheit hatten, ihrem rituellen Brot das Blut von Kindern beizumischen. Dass diese Behauptung erst durch eine Klageschrift einer kaiserlichen Kommission und dann im Jahr 1253 durch das Papsttum selbst verurteilt wurde, hielt ihre Verbreitung nicht auf.

Zwei Jahre später wurde – wiederum in England(4) – ein weiterer tödlicher Schlag gegen den guten Ruf der Juden(125) ausgeführt. In Lincoln(1) wurde in einem Brunnenschacht der Leichnam eines kleinen Jungen namens Hugh entdeckt, was zur Folge hatte, dass auf Befehl des Königs selbst neunzig Juden(126) festgenommen wurden. Achtzehn wurden gehängt. Der tote Junge wurde in der Kathedrale von Lincoln beigesetzt und von den Einheimischen als Märtyrer gepriesen. Dass der Papst sich explizit weigerte, diese Heiligsprechung zu bestätigen, änderte wenig an der Ausbreitung des Kultes um den kleinen heiligen Hugh(2).

»Wir werden eingekerkert und unterdrückt«, so die Klage eines Juden(127) in der Vorstellung Abaelards(19), »als ob die ganze Welt sich allein gegen uns verschworen hätte. Es ist geradezu ein Wunder, dass man uns noch erlaubt, am Leben zu bleiben.«[41] Ein Jahrhundert später gab es nur noch wenige Christen, die bereit waren, dem Beispiel Abaelards zu folgen und sich in die Situation der Juden hineinzuversetzen. Wie nie zuvor war der Ehrgeiz der Kirche, allen Völkern jeder Nation und jeden Hintergrunds das Heil zu bringen, zu einer Waffe geworden, die gegen alle gerichtet wurde, die ihr Angebot ablehnten. Die Juden(128), deren Anspruch auf das große Erbe der heiligen Schrift nicht weniger leidenschaftlich war als derjenige der Kirche, und deren Bildungsbeflissenheit den Christen schon lange als chronischer Vorwurf diente, waren ein sehr viel schwierigerer Widersacher als die »guten Menschen«.

Doch musste die mit einer solchen Bedrohung konfrontierte Kirche keine Kreuzfahrer engagieren. Kleriker im Zeitalter des Thomas von Aquin konnten Juden(129) selbstbewusster auf ihren Platz verweisen als je zuvor. Die Theologie war an den Universitäten Europas als Königin der Wissenschaften inthronisiert, Ordensbrüder waren vom Papst persönlich ermächtigt, den Glauben zu verteidigen und voranzubringen. Sie waren infolgedessen dazu in der Lage, jüdische Anmaßungen mit zunehmender Verächtlichkeit abzutun. Möglicherweise ist ein Indiz dafür der Umstand, dass zunehmend, wenn auf die Schriften Bezug genommen wurde, die das Erbe beider Religionen waren, nicht mehr das Wort biblia im Plural verwendet wurde, sondern vielmehr der Singular: die Bibel.

Auch mittels anderer Methoden wurde jegliches Indiz einer Gemeinschaft, welche die Juden(130) früher vielleicht einmal mit den Christen verbunden hatte, systematisch ausgelöscht. Auf dem Vierten Laterankonzil wurde verfügt, dass Juden(131) sich nicht mehr so kleiden durften wie diejenigen, unter denen sie lebten, sondern sich stattdessen »jederzeit in den Augen der Öffentlichkeit durch die Art ihrer Kleidung von anderen Menschen unterscheiden sollten«.[42] Christliche Künstler stellten Juden(132) erstmals als körperlich abstoßend dar: mit dicken Lippen, Hakennasen, bucklig. 1267 wurden sexuelle Beziehungen zwischen Juden(133) und Christen durch die förmliche Verfügung eines Kirchenkonzils verboten; 1275 verfasste ein Franziskaner(2) in Deutschland(7) ein Rechtsbuch, in dem solche Beziehungen zum Kapitalverbrechen erklärt wurden. 1290 trieb der König von England(5) die Logik dieses unheilvollen Trends auf die Spitze, indem er sämtlichen Juden(134) befahl, sein Königreich ein für alle Mal zu verlassen. 1306 schloss sich der König von Frankreich(4) dieser Maßnahme an.29

Eine Kirche, die sich als universal verstand, vermochte offenbar denen, die sie ablehnten, keine andere Antwort zu geben als Verfolgung.