XVIII

Wissenschaft

1876: Am Judith-River

Jede Nacht wurde der Professor von Albträumen gequält. Während trockener Donner über dem Ödland von Montana(1) grollte, warf Edward Drinker Cope(1) sich stöhnend im Schlaf hin und her. Manchmal weckte einer seiner Gefährten ihn auf. Die Nervosität der Expeditionsteilnehmer war nachvollziehbar. Der amerikanische Westen(17) war eine gefährliche Gegend. Cope, der in von der US Army noch nicht kartographiertem Regionen nach Fossilien Ausschau hielt, durchquerte die Jagdgründe eines besonders furchterregenden Eingeborenenstammes: der Sioux(1). Nur wenige Wochen zuvor war George Armstrong Custer(1), ein gestandener General und Veteran des für die Union siegreichen Bürgerkriegs, von den Kriegerbanden der Sioux an den Ufern des Little Bighorn River(1) vernichtend geschlagen worden. Einmal waren Cope und sein Team in nur einem Tagesritt Entfernung an dem Ort vorbeigekommen, wo – wie einer von ihnen es formulierte – »tausende Krieger, trunken vom Blut Custers(2) und der tapferen Männer der 7th US Cavalry«,[1] ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ein Scout und ein Koch, beide in Sorge um ihre Skalps, waren geflohen.

Doch nicht die Gedanken an die Sioux(2) bereiteten Cope(2) Albträume. Seine Träume waren vielmehr heimgesucht von Funden, die er und seine Begleiter im großen Labyrinth der Canyons und Schluchten gemacht hatten, die sich um ihre jeweiligen Lager herum erstreckten. Unter der Helligkeit der Sterne wirkten sie undurchdringlich schwarz. An vielen Stellen waren sie über 300 Meter tief. Ein Ausrutschen auf dem lockeren Schiefer konnte den Sturz in den Tod bedeuten. Doch es hatte eine Zeit gegeben, als die jetzt karge Landschaft von Leben erfüllt war. In den Schlünden begraben waren die Knochen von Ungetümen, die einst, vor vielen Millionen Jahren, durch diese Region – damals eine Küstenebene – gewandert waren. Bisher hatte kaum jemand gewusst, dass solche Kreaturen überhaupt existiert hatten. Erst im Jahr 1841 war ihnen im fernen England ein Name gegeben worden. Jetzt jedoch, im Camp in der Wildnis von Montana(2), hoch über dem Judith River(1), wusste Cope, dass er von den Überresten einer unermesslichen Anzahl dieser Kreaturen umgeben war: einem riesigen, unvermessenen Dinosaurier-Friedhof.

Der Ehrgeiz, die tiefe Vergangenheit der Erde zu ergründen, hatte sich für Christen immer von selbst verstanden. »Im Anbeginn«, so der Psalmist in seinem Preisgesang an den Schöpfer, »erschufst du die Erde, und der Himmel ist das Werk deiner Hände. Jene werden vergehen, du aber bleibst; wie ein Gewand veralten sie alle.«[2] Dieser Vision von einer Welt, die, linear und unumkehrbar, sowohl einen Anfang als auch eine Geschichte hatte, lag ein Zeitverständnis zugrunde, das in entschiedenem Kontrast zu jenem der meisten anderen antiken Völker stand. Wer die Genesis las, wusste, dass die Zeit sich nicht in endlosen Kreisen bewegte. Wenig überraschend hatten Bibelforscher daher wiederholt versucht, eine Chronologie zu entwerfen, die vor die Menschen zurückreichte. »Wir dürfen nicht annehmen«, hatte Luther(54) erklärt, »dass die Gestalt der Welt heute dieselbe ist wie vor dem Sündenfall.«[3] Zunehmend stützten allerdings die Enthusiasten für das Forschungsgebiet, das im ausgehenden 18. Jahrhundert den Namen Geologie erhielt, ihre Untersuchungen nicht mehr auf die Genesis, sondern unmittelbar auf ihr Studium der Schöpfung Gottes: Felsen und Fossilien und die Konturen der Erde selbst.

Unter den Klerikern Englands(43) war das nachgerade zu einer Besessenheit geworden. Im Jahr 1650, als James Ussher(1), der Erzbischof von Armagh und einer der brillantesten Gelehrten seiner Zeit, den Versuch einer umfassenden Chronologie unternahm – wobei er sich ausschließlich auf schriftliche Quellen stützte, vor allem auf die Bibel –, kam er zu dem Schluss, dass die Schöpfung im Jahr 4004 v. Chr. stattgefunden haben musste. 1822, als William Buckland(1), ebenfalls ein Kleriker, einen Aufsatz veröffentlichte, in dem er darlegte, dass das Leben auf Erden, von der Entstehung von Gesteinsformationen ganz zu schweigen, unendlich viel früher dagewesen war als die Sintflut, war es seine Datierung von Fossilien, die er in einer Höhle in Yorkshire gefunden hatte, die ihn in die Lage versetzte, seine These zu beweisen. Zwei Jahre später legte er die erste umfassende Darstellung eines Dinosauriers vor. Im Jahr 1840 argumentierte er, die gewaltigen Furchen, welche die Landschaft Schottlands durchzogen, legten Zeugnis ab für eine vorzeitliche – und entschieden unbiblische – Eiszeit.

Buckland(2) war ein bekannter Exzentriker, der eine Leidenschaft dafür hatte, sich durch das gesamte Spektrum des Tierreichs hindurchzufuttern, von Schmeißfliegen bis hin zu Schweinswalen.43 Er empfand nicht den geringsten Widerspruch zwischen seinem Amt als Dean von Westminster und seinen geologischen Vorträgen in Oxford. Die meisten Christen störte es ebensowenig. Einige klammerten sich zwar an eine wörtliche Interpretation der Genesis und weigerten sich, die Behauptung hinzunehmen, dass die Erdgeschichte in unermessliche Zeitabstände vor dem Auftauchen des Menschen hinabreichte. Die große Mehrheit hingegen erfüllte lediglich Ehrfurcht angesichts eines Schöpfers, der in so gewaltigem Ausmaß wirken konnte. Da die Geologie aus dem biblischen Zeitverständnis entstanden war, schien sie den christlichen Glauben weniger zu erschüttern als vielmehr zu untermauern.

Doch bereits als Cope(3) sich zu seiner Fossilienernte in der Wildnis des amerikanischen(18) Westens aufmachte, gab es erste Anzeichen dafür, dass sich das veränderte. Cope selbst – der von den Dinosauriern, die er im Gestein gefunden hatte, so beunruhigt war, dass sie ihn in seinen Träumen heimsuchten, »ihn in die Luft warfen, ihn traten, auf ihm herumtrampelten«[4] – war ein Mann, der eine Glaubenskrise durchmachte. Der Sohn eines Quäkers(24), der sich in Philadelphia(7) niedergelassen hatte, nachdem er dort von William Penn Land erworben hatte, war von seinem Vater dazu erzogen worden, an die buchstäbliche Wahrheit der Sintflut zu glauben. Eine frühreife Faszination von Ichthyosauriern, prähistorischen Ungetümen aus der Tiefe, hatte dem bald ein Ende gemacht, Copes Glauben aber nicht beeinträchtigt. Während seiner mühsamen Arbeiten im Ödland hielt er allabendlich Gebetsversammlungen und Bibellesungen ab. Seine Besessenheit von Tieren, den lebenden wie den ausgestorbenen, zeichnete ihn als eine ganz spezielle Art von Christ aus. Dass Gott, als er die Welt mit lebenden Geschöpfen erfüllte, diese anschaute und sah, dass sie gut waren, hatte sorgfältigen Lesern der Genesis für lange Zeit vermittelt, dass diese Welt von Gottes Plan Zeugnis ablegte. »Er ist der Ursprung von allem, was in der Natur existiert«, hatte Augustinus(21) vor langer Zeit geschrieben, »welcher Art es auch sei, und wie auch immer es eingeschätzt werde: von dem die Samen der Formen, die Formen der Samen, die Veränderungen der Samen und der Formen ausgehen.«[5]

William Bucklands(4) Faszination von allen Aspekten des Tierreichs ging so weit, dass er der erste war, der die Fäkalien eines Ichthyosauriers identifizierte und Fledermaus-Urin am Geschmack erkannte; und er war nur einer von vielen Klerikern, die sich der genauesten Untersuchung der Naturwelt verschrieben hatten. Vor allem in Großbritannien und Amerika war die Überzeugung, dass Gottes Wirken sich in der Natur offenbarte – die sogenannte »Natürliche Theologie« (1) – Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer entscheidenden Waffe in der Rüstkammer von Verteidigern des Christentums geworden. Bei einem englischen Pfarrer, der die Güte Gottes illustrieren wollte, konnte man mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass er auf den Lebenszyklus eines Schmetterlings wie auf die Theologie Calvins verwies. Das Wimmeln von Insekten in einer Hecke war für viele Christen in der englischsprachigen Welt zu einem sichereren Beweis für ihren Glauben geworden als jegliche Berufung auf die Offenbarung. Doch dieses Vertrauen hatte sich als entsetzlich verfehlt erwiesen. Es stellte sich heraus, dass das, was eine unanfechtbare Unterstützung der christlichen Religion zu sein schien, alles andere war. Eine Position der Stärke wurde in eine fatale Quelle von Schwäche verwandelt. Die Natürliche Theologie(2) war fast über Nacht zu einer Achillesferse geworden.

Charles Darwin(2), der als Jugendlicher ein besessener Käfersammler gewesen war, mit einem dem geistlichen Stand zugehörigen Geologie-Professor Exkursionen unternahm und eine Zeitlang erwogen hatte, selbst eine kirchliche Laufbahn einzuschlagen, war ein Produkt desselben Milieus, aus dem auch William Buckland(5) und all die anderen prominenten Vertreter der Natürlichen Theologie(3) in England(44) stammten. Doch Darwin war weit davon entfernt, sich ihren Reihen anzuschließen; im Gegenteil: Er wurde ihr Untergang. 1860 bekannte er sich in einem Brief an Asa Gray(1), Amerikas bedeutendsten Botaniker, zu seinen Beweggründen. »Ich hatte keinerlei Absicht, atheistisch zu schreiben. Aber ich gestehe, dass ich nicht so deutlich wie andere, und wie ich selbst es wünschen sollte, Beweise für eine gezielte Erschaffung und allseitiges Wohlwollen erkennen kann. Mir scheint, es gibt zu viel Elend auf der Welt.«[6] Hiob hatte eine ganz ähnliche Klage erhoben; und Darwin hatte wie Hiob mit Furunkeln und dem Tod eines Kindes fertigwerden müssen. Doch zu ihm hatte Gott nicht aus einem Sturm gesprochen; und wenn Darwin über die natürliche Welt nachdachte, stieß er auf zu viele Beispiele von Grausamkeit, als dass er hätte glauben können, dass sie das Ergebnis eines bewussten Plans waren. Eine Kreatur quälte ihn mehr als alle anderen: eine bestimmte Art parasitärer Wespe. »Ich kann mich nicht davon überzeugen, dass ein wohlwollender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae mit der ausdrücklichen Absicht erschaffen haben sollte, dass sie sich vom Inneren von Raupen ernähren.«[7]

Ein Jahr zuvor hatte Darwin(3) ein Buch veröffentlicht, in welchem der Lebenszyklus der Ichneumon-Wespe ähnlich dargestellt wurde. Die These, die in Vom Ursprung der Arten entwickelt wurde, musste jedem Anhänger der Natürlichen Theologie(4) tiefstes Unbehagen bereiten. »Auch wenn sich dies nicht logisch herleiten lassen mag«, so hatte Darwin geschrieben, »so ist es doch in meiner Vorstellung letztlich weit ergiebiger, Instinkte wie den des jungen Kuckucks zu betrachten, der seine Pflegebrüder hinauswirft; dass Ameisen Sklaven halten; dass die Larven der Schlupfwespen sich im Innern lebender Raupen nähren – nicht als speziell verliehene oder geschaffene Instinkte, sondern als kleine Auswirkungen eines allgemeinen Gesetzes, das zum Fortschritt aller Lebewesen führt und das da lautet: Vermehrt euch, variiert, mögen die Stärksten leben und die Schwächsten sterben.«[8] Mit dieser Evolutionstheorie fügte er der Natürlichen Theologie(5) etwas zu, das mit dem perfiden Schicksal eines Wirtskörpers von Ichneumon vergleichbar war.

Für die Pfarrer, die mit ihren Schmetterlingsnetzen und Blumenpressen in zunehmender Zahl die Felder Englands(45) bevölkerten, waren bestimmte Annahmen selbstverständlich: dass die wimmelnde Fülle der Arten Zeugnis von einer einzigen führenden Hand ablegte; dass lediglich in ihrer Beziehung zu ihrer Umgebung die ganze Vollkommenheit ihrer Gestalt verstehbar war; dass die in der Natur sich offenbarenden Zwecke unumkehrbar waren. In seinem Werk Vom Ursprung der Arten stellte Darwin(4) keine dieser Annahmen in Frage. Allerdings waren sie für seine Theorie der Evolution durch natürliche Auslese dasselbe, was die Innereien einer Raupe für die Larven einer Schlupfwespe waren. »Der Schöpfer schafft durch … Gesetze.«[9] Das hatte Darwin zu einer Zeit, da er noch gläubiger Christ war, in einem Notizbuch vermerkt. Abaelard hatte im Grunde dasselbe gesagt. Jahrhundertelang war es in der christlichen Welt das gewaltige Projekt der Naturphilosophie gewesen, die Gesetze zu identifizieren, die in Gottes Schöpfung wirkten, und so zu einem genaueren Verständnis von Gott selbst zu gelangen. Nun, mit der Entstehung der Arten, war ein Gesetz formuliert, das – indem es das Reich des Lebens mit dem der Zeit vereinigte – offenbar überhaupt keinen Gott mehr brauchte. Das war nicht nur eine Theorie, sondern seinerseits eine verblüffende Demonstration von Evolution.

Aber traf die Theorie überhaupt zu? Im Jahr 1876 wurde der eindrucksvollste Beleg für Darwins Theorie in einer Region entdeckt, die sich schnell als die weltweit großartigste Gegend für Fossil-Lagerstätten herausstellte: im amerikanischen Westen(19). Cope(4) war nicht der einzige Paläontologe, der dort spektakuläre Entdeckungen machte. Dasselbe gelang Othniel Charles Marsh(1), einem Professor der Universität Yale mit dem Bart, Bauch und bombastischen Auftreten eines Heinrichs VIII. mittleren Alters. Im Verlauf von sechs Jahren Arbeit vor Ort war es ihm gelungen, nicht weniger als dreißig Spezies prähistorischer Pferde auszugraben. Sie vermochten eine so vollständige Belegkette zu bilden, dass Darwin(5) sie als »die beste Stütze der Evolutionstheorie« pries, »die in den letzten 20 Jahren aufgetaucht ist«.[10]

Cope(5), dessen Gefühle von Neid und Abscheu gegenüber Marsh(2) aus tiefstem Herzen erwidert wurden, bestritt das nicht. Er hatte schon lange akzeptiert, dass die Belege für die Evolution überwältigend waren. Allerdings weigerte er sich im Unterschied zu seinem gewaltigen Rivalen zu akzeptieren, dass der Prozess durch natürliche Selektion gesteuert wurde. Er hoffte noch immer darauf, in der Welt der Natur einen Ort für einen gütigen Gott zu finden. Die Theorie der natürlichen Auslese, so seine ärgerliche Bemerkung, hatte offenbar lediglich für eine Gottheit Verwendung, die sich damit zufrieden gab, hier an einer Spezies herumzuflicken und dort an einer anderen herumzubasteln. Einen Platz für irgendeine Art von göttlichem Plan gab es sicher nicht mehr. Cope jedoch war davon überzeugt, dass die Evolution des Pferdes eben genau einen solchen göttlichen Plan zu illustrieren vermochte. Nach seiner Rückkehr vom Judith River legte er einen Beitrag vor, der seine Position in markanten Begriffen umriss.

Die von Marsh(3) gefundenen Fossilien, so Cope(6) in einem Vortrag vor einer Versammlung amerikanischer Naturkundler im Jahr 1877, zeigten Spuren von Veränderungen, die viel zu regelmäßig waren, als dass man sie durch zufällige Variation hätte erklären können. »Die aufsteigende Entwicklung der Körperstruktur bei höheren Tieren war also mit großer Wahrscheinlichkeit eine Begleiterscheinung der Evolution des Geistes.«[11] Mit anderen Worten: Das moderne Pferd hatte sich durch Willenskraft ins Sein befördert. Die Spezies war durchaus nicht der Gnade ihrer Umgebung ausgeliefert, sondern schon immer selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Der Verlauf der Evolution, der von seinem Schöpfer seit Langem vorhergesehen war, bezeugte nicht Chaos und Konfusion, sondern vielmehr eine Ordnung, welche die gesamte Natur durchdrang. Getragen vom Fluss der Zeit war jede Spezies für ein von Gott vorgegebenes Ziel bestimmt.

Doch wenn man sich dem anschloss, dann akzeptierte man noch ein Weiteres: dass nämlich auch die Menschen ein Produkt der Evolution waren. Darwin(6) hatte im Ursprung der Arten nur verhalten darauf hingewiesen, was seine Theorie für das Selbstverständnis der Menschheit bedeuten könnte. Das hatte allerdings andere nicht davon abgehalten, ihrerseits Spekulationen anzustellen. Bischöfe verlangten von Darwins Verteidigern präzise Einzelheiten ihrer Abstammung von Gorillas; Satiriker ergötzten sich daran, Darwin selbst als Affen darzustellen; Cope(7) brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, er sei überzeugt, dass die Menschheit von einem Lemuren abstamme. Doch all die Gefühlsausbrüche in Debattierclubs, all die Karikaturen von Affen im Gehrock, all das Theoretisieren über mögliche Linien menschlicher Abstammung konnten nicht gänzlich verbergen, was sich dahinter auftat: ein unermesslicher Abgrund aus Angst und Zweifel. Die Nervosität im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass die Menschheit sich aus einer anderen Spezies entwickelt haben könnte, beruhte nicht lediglich auf einem snobistischen Überlegenheitsgefühl gegenüber Affen. Es ging um mehr. Der Glaube daran, dass Gott Mensch geworden war und den Tod eines Sklaven erduldet hatte, bedeutete den Glauben daran, dass in der Schwäche Stärke, in der Niederlage Sieg verborgen sein konnte. Darwins(7) Theorie hatte radikaler als alles, was zuvor aus der christlichen Zivilisation entstanden war, diese Annahme in Frage gestellt. Schwäche war nichts Wertvolles. Indem Jesus die Demütigen und die Armen im Vergleich mit jenen seligpries, die für den großen Kampf ums Überleben besser ausgerüstet waren, hatte er den Homo sapiens auf den abschüssigen Pfad in Richtung Degeneration gebracht.

Über achtzehn lange Jahrhunderte hinweg war die christliche Überzeugung, dass jedes menschliche Leben heilig war, von einem Grundsatz besonders stark gestützt worden: dass Mann und Frau nach Gottes Ebenbild geschaffen waren. Das Göttliche fand sich im Armen, im Missetäter oder in der Prostituierten ebenso wie im Gentleman mit seinem Privateinkommen und seinem bücherbestückten Studierzimmer. Darwins(8) Haus war zwar umgeben von Gärten, einem privaten Wald und einem Gewächshaus voller Orchideen, doch es stand am Rand einer so noch nie dagewesenen Zusammenballung von Ziegeln und Rauch. Jenseits der Felder, auf denen Darwin(9) liebevoll die Aktivitäten von Würmern beobachtete, erstreckte sich das, was das Rom zur Zeit des Augustus gewesen war: die Hauptstadt des größten Imperiums der Welt.

Ebenso wie in Rom existierten in London(10) verwirrend extreme Gegensätze von Privileg und Elend nebeneinander. Die Engländer(46) zur Zeit Darwins konnten sich jedoch mit etwas brüsten, für das sich im Rom des Augustus sicherlich kein Geldgeber gefunden hätte: mit Aktivitäten zur Unterstützung der Armen, der Ausgebeuteten, der Kranken. Darwin(10) wusste als Enkel zweier prominenter Abolitionisten(13) selbst ganz genau, welcher Impuls diesen Aktivitäten zugrunde lag. Das große Anliegen der Sozialreform war durch und durch christlich. »Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze; und unsere Ärzte strengen ihre größte Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten.«[12] Allerdings fiel das Urteil Darwins(11) über diese Demonstrationen der Menschenliebe eher gereizt aus. So wie die Spartaner, die kränkliche Säuglinge in eine Schlucht warfen, fürchtete auch er die Folgen für die Starken, wenn sie den Schwachen erlaubten, sich zu vermehren. »Niemand, welcher der Zucht domestizierter Tiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss.«[13]

Das war für jeden Quäker(25) eine besonders erschütternde Behauptung. Cope(8) kannte die Traditionen, in denen er stand. Quäker waren es, die das Feuer entzündet hatten, das im gerade zu Ende gegangenen Bürgerkrieg die Einrichtung der Sklaverei in Amerika hinweggefegt hatte; Quäker waren es, die in Amerika wie in Großbritannien an der Spitze des Kampfes um eine Gefängnisreform standen. Was auch immer sie für die Geringsten der Brüder und Schwestern ihres Heilands getan hatten, das hatten sie für Christus selbst getan. Wie war diese Überzeugung mit dem vereinbar, was Cope(9) in einer Mischung aus Hohn und Grauen als »das Darwin’sche Gesetz des ›Überlebens des Stärksten‹« bezeichnete?[14] Die Frage hatte auch Darwin(12) selbst umgetrieben. Er blieb so weit Christ, dass er jeden Vorschlag, die Schwachen und Armen ihrem Schicksal zu überlassen, als »Übel« definierte.[15] Die Instinkte, welche die Sorge für die Benachteiligten beförderten, mussten selbst, so Darwin, das Produkt natürlicher Auslese sein. Wahrscheinlich musste man also vermuten, dass sie im Dienst irgendeines evolutionären Zwecks standen. Darwin(13) war sich allerdings nicht sicher. In privaten Gesprächen bekannte er, da »in unserer modernen Zivilisation die natürliche Auslese keine Rolle spielt«,[16] habe er Angst um die Zukunft. Persönlich habe er durchaus Sympathien für christliche Vorstellungen von Nächstenliebe, doch sie seien unangebracht. Wenn man zuließ, dass sie sich ungehindert entwickelten, dann waren die Völker, die daran festhielten, zur Degeneration verurteilt.

Und wenn das geschah, dann würde es der gesamten menschlichen Rasse zum Nachteil gereichen. Darin war sich Cope(10) mit Darwin(14) vollkommen einig. Cope war mit der Eisenbahn über die endlosen Ebenen der Great Plains gereist und hatte aus Forts in Sioux-Gebieten Telegramme verschickt, und er hatte gesehen, dass die Jagdgründe der Sioux(3) auf viele Kilometer im Umkreis mit den ausgebleichten Knochen von Bisons übersät waren, die mit allerneuesten Repetiergewehren erlegt worden waren. Er wusste, dass die Niederlage Custers lediglich ein unbedeutender Ausreißer war. Die Eingeborenenstämme Amerikas waren zum Untergang verurteilt. Der Vormarsch der weißen Rasse war unaufhaltsam. Er war ihre offenkundige Bestimmung.44 Überall auf der Erde wurde das deutlich: in Afrika, wo mehrere europäische Großmächte die Aufteilung des Kontinents unter sich ausmachten; in Australien(1) und Neuseeland(2) und auf Hawaii(1), wo der Zustrom weißer Kolonisten unwiderstehlich war; in Tasmanien(1), wo bereits ein ganzes Volk ausgerottet worden war. »Der Grad ihrer Zivilisation«, so Darwin(15), »scheint ein höchst bedeutungsvolles Element bei dem Erfolg der in Konkurrenz kommenden Nationen zu sein.«[17]

Wie waren diese Unterschiede zwischen einem weißen und einem indigenen Amerikaner, zwischen einem Europäer und einem Tasmanier am besten zu erklären? Ein Christ hätte traditionellerweise mit der Versicherung geantwortet, dass es zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Rassen keinen grundlegenden Unterschied gab: Beide waren ja nach dem Bild Gottes geschaffen. Darwin(16) kam jedoch aufgrund seiner Theorie der natürlichen Selektion auf eine ganz andere Antwort. Als junger Mann hatte er die Weltmeere besegelt, und er hatte festgestellt, wie, »wo auch immer der Europäer hingekommen war, der Eingeborene zum Tod verurteilt scheint«.[18] Sein Mitleid für die Eingeborenenvölker und seine entsprechende Abneigung gegen die weißen Neuankömmlinge hatten ihn nicht von der schonungslosen Schlussfolgerung abgehalten, dass es im Lauf der menschlichen Existenz zu einer natürlichen Hierarchie der Rassen gekommen war. Der Fortschritt der Europäer hatte sie Generation um Generation dazu befähigt, »die intellektuellen und sozialen Fähigkeiten«[19] wilderer Völker zu überflügeln.

Cope(11) weigerte sich zwar, Darwins(17) Erklärung zu übernehmen, wie und warum sich das so vollzogen hatte, doch er gestand ihm zu, dass er nicht ganz Unrecht hatte. Offensichtlich war die Evolution in der Menschheit wie in jeder anderen Spezies unaufhörlich am Werk. Cope bemerkte: »Wir alle geben zu, dass es höhere und niedrigere Rassen gibt, wobei letztere jene sind, die, wie wir jetzt feststellen, eine mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeit mit den Affen haben.« So kam es also, dass der Versuch eines frommen Quäkers, das Wirken Gottes mit dem Wirken der Natur zu versöhnen, diesen zu einer Auffassung vom Menschen brachte, die Benjamin Lay entsetzt hätte. Copes Überzeugung, dass eine Spezies sich mit willentlicher Anstrengung in Richtung Vollkommenheit entwickeln konnte, ermöglichte ihm auch zu erklären, dass unterschiedliche Formen derselben Spezies nebeneinander existieren konnten. Weiße, so sein Argument, hätten sich zu einem neuen Bewusstseinsgrad erhoben. Andere Rassen hatten das nicht getan.

1877, ein Jahr nachdem er inmitten der Fossilienbetten Montanas von Albträumen heimgesucht worden war, erklärte Edward Drinker Cope(12) offiziell seinen Austritt aus der Society of Friends.

Eine neue Reformation

Nicht jeder, der Darwin(18) las, interpretierte seine Theorie als Rechtfertigung für eine düstere, raubtierhafte Vision der menschlichen Gesellschaft. Einige seiner kämpferischer gesinnten Anhänger empfanden die Ausgrenzung Gottes aus dem Reich der Natur als puren Segen. »Ein veritables Whitworth-Gewehr45 in der Waffenkammer des Liberalismus(1)«,[20] so wurde Von der Entstehung der Arten von einem ihrer ersten und positivsten Rezensenten beurteilt. Thomas Henry Huxley(1), ein Anatom, dessen Hochbegabung für die schonungslose Kritik an Bischöfen dazu führte, dass er als »Darwin’s bulldog« bezeichnet wurde, war ein selbsternannter Anhänger des Fortschritts. Der Einfluss von Männern wie Buckland(6) auf das Studium der Geologie und Naturgeschichte erfüllte ihn mit Ungeduld, und er sehnte sich danach, diese Gebiete professionalisiert zu sehen. Das würde nicht nur das Ende von »Theologie und Pfaffentum« bedeuten[21] und damit Männern wie ihm – Autodidakten, Angehörigen der Mittelklasse, Verächtern der Privilegierten – zahlreichere Chancen eröffnen, sondern es würde auch dazu beitragen, die Segnungen der Aufklärung zu verbreiten. Je weiter der Nebel des Aberglaubens zurückgedrängt wurde, desto offensichtlicher würden sich die Umrisse der Wahrheit abzeichnen. Das sonnenbeschienene Hochland der Vernunft lockte zwar bereits aus der Ferne, doch die Straße dorthin musste noch gefegt werden. Nur indem sie über die Leichen erlegter Theologen schritt, konnte die Menschheit den Irrtum hinter sich lassen. Wenn dafür Darwins Theorie als Vorderlader eingesetzt werden musste, dann sollte es ebenso sein. Das Zeitalter brauchte nicht weniger als das. Wenige Monate vor Erscheinen der Entstehung der Arten hatte Huxley erkannt, dass sich ein gewaltiger Konflikt anbahnte: »Nur wenige sehen es, doch ich bin überzeugt, dass wir uns am Vorabend einer neuen Reformation befinden, und wenn ich den Wunsch habe, noch dreißig Jahre zu leben, dann deshalb, weil ich dann wahrscheinlich den Fuß der Wissenschaft auf dem Nacken ihrer Feinde sehen werde.«[22]

Doch was verstand Huxley(2) unter »Wissenschaft«? Die Antwort war alles andere als offensichtlich. Wissenszweige von Grammatik bis Musik hatten alle traditionellerweise als Wissenschaften gegolten. Lange herrschte die Theologie als deren Königin. In Oxford(4) bedeutete »Wissenschaft« sogar in den 1850er Jahren noch »fundierte Kenntnis von Aristoteles(23)«.[23] Huxley war allerdings nicht der Mann, der sich mit so etwas zufriedengab. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte sich eine neue und entschieden innovativere Definition des Wortes etabliert. Wenn Paläontologen oder Chemiker als »Wissenschaft« die Gesamtheit sämtlicher Naturwissenschaften bezeichneten, dann musste das ihren Zeitgenossen gleichermaßen neu und vertraut vorkommen – ganz ähnlich wie »Hinduismus« für die Inder.

Huxley scheute mit dem Eifer eines Generals, der eine neu eroberte Provinz absichern will, keine Mühe, die Grenzen zu festigen. »In Fragen des Intellekts«, so seine Warnung, »darf man nicht so tun, als wären Schlussfolgerungen sicher, die nicht belegt oder belegbar sind.«[24] So lautete das Prinzip des »Agnostizismus(1)«, ein Wort, das Huxley erfunden hatte und das er als die entscheidende Voraussetzung für jeden darstellte, der sich wissenschaftlich betätigen wollte. Kurz und bündig erklärte er, Agnostizismus sei »die einzige Methode, mit der Wahrheit ermittelbar ist«.[25] Jeder, der ihn las, wusste, worauf er abzielte. Wahrheit, die weder demonstriert noch bewiesen werden konnte; Wahrheit, die in ihren Behauptungen von einer angeblich übernatürlichen Offenbarung abhängig war – das war überhaupt keine Wahrheit. Ein in der modischen neuen Kunst der Photographie Bewanderter hätte formulieren können, dass die Wissenschaft durch ihr Negativ definiert war: durch die Religion.

Darin aber lag ein erstaunliches Paradox. Die Vorstellung von Wissenschaft, wie sie sich im Lauf des 19. Jahrhunderts herausbildete, wurde zwar von Männern definiert, die davon ausgingen, dass es sich um das genaue Gegenteil des Neuen handelte, etwas Zeitloses, Universelles, aber das war eine durchaus vertraute Art von Arroganz. Eben weil Wissenschaft als Doppelgänger von Religion ausgegeben wurde, trug sie unvermeidlich den geisterhaften Abdruck von Europas christlicher Vergangenheit. Huxley(3) weigerte sich allerdings, das zuzugeben. Derselbe Mann, dessen Genialität als Anatom ihn in die Lage versetzte, etwas zu erkennen, was erst heute allgemein akzeptiert ist, dass nämlich die Vögel von Dinosauriern abstammen, die einst vor Millionen von Jahren durch jurassische Wälder stapften, hatte kein Problem damit, daran zu glauben, dass es »Wissenschaft« schon immer gegeben hatte. Kolonialbeamte und Missionare drängten in Indien(20) den Gesellschaften, die sie dort antrafen, die Vorstellung von »Religion« auf, und in ganz ähnlicher Manier kolonisierten Agnostiker(2) die Vergangenheit. Den alten Ägyptern, den Babyloniern(8) und den Römern: Allen wurde unterstellt, sie hätten eine »Religion« gehabt. Von einigen Völkern, allen voran den Griechen, wurde darüber hinaus angenommen, dass sie auch über »Wissenschaft« verfügt hätten. Letzteres war es, was ihre Zivilisation dazu befähigt hatte, zu einem Ursprung des Fortschritts zu werden. Philosophen waren Prototypen von Wissenschaftlern. Die Bibliothek von Alexandria war »der Geburtsort der modernen Wissenschaft«.[26]

Nur die Christen mit ihrem fanatischen Hass auf die Vernunft und ihrer Entschlossenheit, heidnisches Wissen auszurotten, hatten die antike Welt daran gehindert, sich auf dem Pfad in Richtung Dampfmaschinen und Baumwollspinnereien einzufinden. Vorsätzlich hatten Mönche sich darangemacht, alles zu überschreiben, was irgendwie nach Philosophie roch. Der Triumph der Kirche bestand in der Austreibung alles dessen, was eine menschliche und zivilisierte Gesellschaft ausmachte. Finsternis hatte sich über Europa herabgesenkt. Mehr als ein Jahrtausend lang hatten Päpste und Inquisitoren darauf hingewirkt, jeden Funken von Neugier oder Forschung oder Vernunft auszupusten. Der bekannteste Märtyrer dieses Fanatismus war Galileo(18) gewesen. Er war dafür gefoltert worden, dass er völlig zweifelsfrei und eindeutig dargelegt hatte, dass die Erde sich um die Sonne drehte, und deshalb »schmachtete er in den Kerkern der Inquisition«, wie Voltaire(18) es formulierte.[27] Bischöfe, die über Darwins(19) Evolutionstheorie spotteten, indem sie fiese Fragen über Gorillas stellten, waren lediglich die jüngsten Kämpfer in einem Krieg, der so alt war wie das Christentum selbst.

Dass an dieser Darstellung nichts stimmte, verhinderte nicht, dass daraus ein enorm populärer Mythos wurde. Und ihr Reiz war nicht auf die Agnostiker(3) beschränkt. Auch für Protestanten(61) gab es darin viel Erbauliches. Die Darstellung des mittelalterlichen Christentums als einem Höllenloch der Rückwärtsgewandtheit und Engstirnigkeit ging zurück bis auf Luther. Huxleys(4) Selbstbewusstsein als Mitglied einer Elite hatte, was Zeitgenossen schnell bemerkten, eine wohlbekannte radikale Qualität. »Er besitzt die moralische Ernsthaftigkeit, die Willensenergie, das absolute Vertrauen in seine Überzeugungen, den Wunsch und die Entschlossenheit, sie der gesamten Menschheit einzuprägen, die wesentliche Merkmale des puritanischen Charakters sind.«[28] In Wahrheit jedoch stammte die wachsende Überzeugung vieler Agnostiker, dass allein die Wissenschaft dazu in der Lage war, Fragen nach dem übergreifenden Ziel des Lebens zu beantworten, aus einem sehr viel älteren Nährboden. Einmal, früher, hatte es eine Zeit gegeben, als die Naturwissenschaften Naturphilosophie gewesen waren.

Die Ehrfurcht, die Theologen im Mittelalter vor den Werken und Wundern der Schöpfung empfanden, fehlte in der Entstehung der Arten nicht völlig. Darwin(20) beschrieb in seinen abschließenden Zeilen seine Theorie in erhabenen Worten. »Es liegt etwas Großes in dieser Sicht auf das Leben«, verkündete er. Die Überzeugung, dass das Universum sich Gesetzen entsprechend bewegte, die von der menschlichen Vernunft begriffen werden konnten, und dass die Frucht dieser Gesetze »überaus schön und wunderbar« war – diese Überzeugung verband ihn unmittelbar mit dem fernen Zeitalter Abaelards.[29] Wenn Darwinisten in Deutschland(19) sich ausmalten, dass in Kirchen bald Altäre für die Astronomie stehen und der Innenraum mit Orchideen geschmückt sein würden, kam ihre Sehnsucht nach der anbetungswürdigen Gravitas des Christentums deutlich zum Ausdruck. Der Krieg zwischen Wissenschaft und Religion spiegelte zumindest teilweise die Berufung beider auf ein gemeinsames Erbe wider.

Darwins Ehefrau(1), die bis zu ihrem Lebensende Christin blieb, brachte das Grauen vieler darüber zum Ausdruck, worauf das hinzuweisen schien. Kurz nach Darwins Tod schrieb sie an ihren Sohn und bekannte, dass »mich die Auffassung deines Vaters, alle Moralität habe sich durch Evolution entwickelt, sehr schmerzt«.[30] Es hatte bereits ganz den Anschein, als gebe es keinen Bereich der christlichen Lehre, in den ein Wissenschaftler nicht bedenkenlos eindringen würde. Als die einen ihre Teleskope auf den Mars ausrichteten oder versuchten, die Spur unsichtbarer Strahlen zu verfolgen, wandten andere ihre Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer zu. Schon der Marquis de Sade hatte sich vehement darüber beklagt, dass hier eine Moral, die sich letztlich vom Apostel Paulus ableitete, nach wie vor den Rahmen zulässigen Verhaltens vorgab. Mit Darwin und seiner Theorie war jetzt allerdings dem Fuchs die Tür in den Hühnerstall geöffnet worden. Das Wirken der natürlichen Auslese hing von der Fortpflanzung ab. Die Paarungsgepflogenheiten der Menschen waren ein ebenso legitimes Studienfeld wie diejenigen der Vöglein oder der Bienchen.

Das bot in Ländern, die mit Sex weniger Probleme hatten als Darwins Heimat, einen Freibrief für Wissenschaftler, die Einzelheiten und Varietäten sexuellen Verhaltens in einem Ausmaß zu untersuchen, das selbst de Sade beeindruckt hätte. Als der deutsche Psychiater von Krafft-Ebing(1) im Jahr 1886 einen Überblick über ein Phänomen veröffentlichte, das er als »pathologischen Fetischismus« bezeichnete, machte schon das Ausmaß seiner Untersuchungen sein Buch zu einem Interessenschwerpunkt weit über die wissenschaftlichen Kreise hinaus, für die es eigentlich verfasst worden war. Sechs Jahre später veranlasste eine englische Übersetzung der Psychopathia sexualis einen Kritiker dazu, die gewaltige und unterscheidungsunfähige Leserschaft zu kritisieren. Er klagte, das gesamte Buch wäre besser in die zurückhaltende Dunkelheit der lateinischen Sprache gehüllt worden.

Jedenfalls konnten auch Altphilologen vieles darin finden, das ihr Interesse zu wecken vermochte. Vor allem ein Wort, ein aus Latein und Griechisch zusammengesetzter Begriff, fiel auf. Homosexualität war ursprünglich im Jahr 1869 geprägt worden, um dem Verfasser einer Broschüre über preußische Moralgesetze eine bündige Zusammenfassung für sexuelle Beziehungen zwischen Menschen des gleichen Geschlechts zu liefern. Dabei handelte es sich natürlich um genau die Verhaltensweise, die Paulus in seinem Brief an die Römer so vernichtend kritisiert und die Thomas von Aquin als Sodomie bezeichnet hatte. Allerdings blieb dieser Begriff im Zeitalter der Aufklärung wie zur Zeit des Franziskanerpredigers Bernardino schwammig. So war beispielsweise im Jahr 1772 de Sade(14), als er für schuldig befunden wurde, Analsex mit einer Frau gehabt zu haben, als Sodomit verurteilt worden. Nun aber war es Krafft-Ebing(2) mit der Präzision eines erfahrenen Anatomen gelungen, in einem einzigen Wort die Kategorie sexuellen Verhaltens zu identifizieren, die Paulus verurteilt hatte. Das war vielleicht wirklich nur einem Mediziner möglich.

Krafft-Ebings(3) Interesse an gleichgeschlechtlichen Beziehungen war wissenschaftlicher, nicht moralischer Natur. Warum wollten Männer oder Frauen in offensichtlicher Missachtung der Darwin’schen Theorie Sex mit Personen ihres eigenen Geschlechts haben? Die traditionelle Erklärung, dass solche Personen wollüstige Raubtiere waren, deren Unfähigkeit, ihre Triebe zu kontrollieren, dazu geführt hatte, dass sie das verschmähten, was Gott als natürlich vorgegeben hatte – diese Erklärung kam Psychiatern zunehmend unglaubwürdig vor. Krafft-Ebing war der Auffassung, es sei sehr viel wahrscheinlicher, dass »Homosexuelle« Opfer einer zugrundeliegenden krankhaften Verfassung waren. Ob diese ererbt war, also eine Krankheit, die über Generationen weitergegeben wurde, oder das Ergebnis eines in der Gebärmutter erlittenen Zwischenfalls – jedenfalls war ihm klar, dass Homosexualität nicht als Sünde gelten durfte, sondern als etwas ganz anderes: ein unveränderbares Leiden. Krafft-Ebing argumentierte, dass Homosexuelle die Opfer ihrer Neigungen waren. Daher verdienten sie es, mit Großmut und Barmherzigkeit behandelt zu haben; immerhin schrieb die christliche Lehre ja vor, dass man sich der Unglücklichen mitleidig annahm.

Die meisten Christen fanden das wenig überzeugend. Die Forschungen Krafft-Ebings(4) bedeuteten für ihr Verständnis von Sexualmoral eine doppelte Herausforderung. Die Psychopathia sexualis demonstrierte nicht nur, dass es Menschen gab, die nicht anders konnten, als einen Hang zu sexuellen Aktivitäten zu haben, die von der Bibel als unmoralisch bezeichnet wurden; sie legte darüber hinaus nahe – was genauso verstörend war –, dass viele Personen der Kirchengeschichte selbst von abartigen sexuellen Bedürfnissen besessen waren. Als Krafft-Ebing das Wort »Sadismus« erfand, um Personen zu beschreiben, die erotisches Vergnügen empfanden, indem sie Schmerz zufügten, brachte er implizit den Marquis mit Inquisitoren wie Konrad von Marburg in Verbindung.

Noch schockierender für die Zartgefühle der Frommen war allerdings Krafft-Ebings(5) Analyse eines Verhaltens, das er – nach Leopold von Sacher-Masoch(1), einem österreichischen Adligen, der sich gern von in Pelze gehüllten Aristokratinnen auspeitschen ließ – als »Masochismus« bezeichnete. »Masochisten unterwerfen sich allen möglichen Misshandlung und Qualen, bei denen von reflektorischer Erregung von Wollust keine Rede sein kann.« Folglich, so Krafft-Ebing, zögere er nicht, die »Selbstpeinigungen religiöser Schwärmer« und sogar von Märtyrern als eine Form des Masochismus zu identifizieren.[31] Siebenhundert Jahre, nachdem Elisabeth von Thüringen sich der strengen ›Fürsorge‹ ihres Beichtvaters unterworfen hatte, unterfing sich der unsentimentale Blick der Psychiatrie, sie auf eine Weise anzustarren, wie sie noch nie zuvor angestarrt worden war. Ein Masochist, so die Feststellung Krafft-Ebings, war das perfekte Gegenstück eines Sadisten. »Der Parallelismus ist ein vollständiger.«[32]

Die Psychiatrie bildete zwar eine Herausforderung für christliche Grundsätze, doch sie verstärkte sie auch. Krafft-Ebings(6) Schlussfolgerungen waren nicht annähernd so emotionslos, wie sowohl seine Kritiker als auch seine Bewunderer es meinten. Er war im katholischen Glauben erzogen worden und akzeptierte vorbehaltlos den Primat des christlichen Ehemodells. Die Bemühungen der Kirche um die Herausbildung und Pflege der Monogamie als einer lebenslangen Institution wurden von ihm durchaus wertgeschätzt. »Die Versittlichung des sexuellen Verkehrs erfuhr einen mächtigen Impuls durch das Christentum, indem es das Weib auf gleiche soziale Stufe mit dem Mann erhob und den Liebesbund zwischen Mann und Weib zu einer religiös-sittlichen Institution gestaltete.«[33] Nicht trotz, sondern wegen dieser Auffassung gelangte Krafft-Ebing gegen Ende seiner Laufbahn zu der Überzeugung, Sodomie müsse entkriminalisiert werden. Er erklärte, Homosexuelle seien nicht weniger vertraut mit »den edlen Regungen des Herzens« als beliebige verheiratete Paare.[34] Unmengen von Homosexuellen hatten ihm, angeregt durch seine Forschungen, geschrieben und ihre intimsten Sehnsüchte und Geheimnisse mitgeteilt. Auf der Grundlage dieser Korrespondenz war Krafft-Ebing zu einer paradoxen Schlussfolgerung gelangt. Die sexuelle Praxis, die von der Kirche als Sodomie verurteilt wurde, war restlos vereinbar mit jenem Ideal, das er als den großen Beitrag des Christentums zur Zivilisation ansah: mit der lebenslangen Monogamie. Homosexualität, wie sie der Wissenschaftler beschrieb, der als erster den Versuch unternahm, sie im Detail zu kategorisieren, stellte die nahtlose Vereinigung christlicher Sünde mit christlicher Liebe dar.

In kühler, leidenschaftsloser Sprache besiegelte Krafft-Ebing(7) eine Revolution auf dem Gebiet des Erotischen, zu der es in der Geschichte keine Parallele gab. Als Paulus Männer, die mit Männern schliefen, auf eine Ebene mit Frauen stellte, die mit Frauen schliefen, hatte er eine Neuausrichtung der Sexualordnung in Gang gesetzt, die nun, im Zeitalter der Naturwissenschaften, ihre Krönung erreichte. »Homosexualität« war nicht die einzige medizinisch klingende Zusammensetzung aus Griechisch und Lateinisch, welche die Psychopathia sexualis der Welt vorstellte. Es gab eine zweite: »Heterosexualität«.

Sämtliche anderen Kategorien sexuellen Verhaltens, die Krafft-Ebing festgemacht hatte – Sadismus, Masochismus, fetischistische Obsessionen – waren lediglich Variationen der einen fundamentalen Trennungslinie zwischen heterosexuellem und homosexuellem Begehren. Kategorien, die sich im Lauf von fast zwei Jahrtausenden nur allmählich herausgebildet hatten, wurden jetzt hieb- und stichfest definiert. Schon bald würden die Menschen in Europa und Amerika vergessen, dass es diese Begriffe nicht schon immer gegeben hatte. Exportiert von Missionaren und eingebracht in koloniale Rechtsordnungen auf der ganzen Welt, sollte eine begriffliche Fassung des Begehrens, die auf einen umherreisenden Juden zur Zeit der Herrschaft Neros zurückging, eine globale Reichweite erlangen. Wie in so vielen anderen Sphären, so reichten auch im Bereich der Sexualordnung die Wurzeln der Moderne tief hinab in christlichen Boden.

Ein Besuch beim Diplodocus

Gleichzeitig wurde in Amerika(21) der Wilde Westen gezähmt. Paläontologen und Cowboys fühlten sich verpflichtet, auf die Schließung der Grenze hinzuwirken. Die alten Freibeutermethoden, die Cope(13) und Marsh(4) noch mit Inbrunst praktiziert hatten, waren nicht aufrechtzuerhalten. Beide Männer hatten sich damit ruiniert. 1890 erschienen in den Zeitungen skandalöse Details über die von Journalisten so genannten »Knochenkriege«: wie die beiden bedeutendsten Paläontologen Amerikas Arbeitertrupps angeheuert hatten, welche die Funde des Rivalen zerstören sollten, und wissenschaftliche Aufsätze verfassten, um sich gegenseitig den Ruf zu ruinieren. Die Suche nach Fossilien war nicht mehr ganz so billig wie zu Beginn, und sowohl Cope als auch Marsh gingen allmählich die Mittel aus. Ein neues Zeitalter dämmerte herauf – ein Zeitalter, in welchem die Suche nach Dinosauriern von Plutokraten geprägt wurde. Andrew Carnegie(1), ein Industrieller mit dem größten Barvermögen weltweit, konnte Mittel in die Suche nach prähistorischen Überresten einbringen, welche die wildesten Wissenschaftlerträume überstiegen. Cope(14) und Marsh(5) konnten nicht mehr mithalten und wurden aus dem Markt gedrängt. Carnegie hatte kein Interesse daran, durch Ödland zu streifen und auf der Suche nach Bruchstücken eines mesozoischen Zahns Sand zu sieben. Er wollte Fossilien in einer Größenordnung, die seinem ungeheuren Reichtum entsprach. Als seine Arbeiter das Skelett eines 25 Meter großen Dinosauriers ausgruben, ließ er die Tatsache, dass dieses Monster ihm gehörte, in die Welt hinausposaunen, indem er ihm den Namen Diplodocus carnegii gab. Seine Pressesprecher verkündeten lautstark, es sei »das gewaltigste Lebewesen, das es auf Erden je gab«.[35]

Der Mensch war von Natur aus ein Trophäensammler. Carnegie(2) war davon restlos überzeugt. Er war von Schottland(2) eingewandert und hatte sich vom Arbeiter in einer Baumwollfabrik zum Inhaber des Monopols für die Stahlproduktion in Amerika(22) hochgearbeitet; seine gesamte Laufbahn entsprach dem, was die Griechen der Antike als agon bezeichnet hätten. Rivalen waren dazu da, vernichtet zu werden, Gewerkschaften, um zerschlagen, und Kapitalquellen, um in seinen zupackenden, ruhelosen Händen konzentriert zu werden. Bauern, Handwerker, Ladenbesitzer: Alle mussten dem unterworfen werden, was seine Kritiker als Lohnsklaverei bezeichneten. Carnegie, der selbst einmal arm gewesen war, hatte keine Zeit, sich den biblischen Weheruf über die Reichen vor Augen zu halten. Er war ungeduldig mit Klerikern, die von der Kanzel Vorlesungen über die Ungerechtigkeit der Reichen hielten; seine Auffassung von den Nöten, unter denen die Armen litten, war strenger, hatte er doch »die Wahrheit der Evolution« entdeckt.[36] Die einzige Alternative zum Überleben der Stärksten war das Überleben der Schwächsten. Undifferenzierte Wohltätigkeit hatte keinen anderen Effekt als Faulpelze und Säufer zu unterstützen. Jede Vorstellung des Übernatürlichen lehnte er verächtlich ab, und ebenso verächtlich lehnte er ab, was Amerikas(23) angesehenster Sozialwissenschaftler als »das alte kirchliche Vorurteil zugunsten der Armen und gegen die Reichen« bezeichnet hatte. William Graham Sumner(1), Professor an der Yale-University, hatte sich einst zum Pfarrer berufen gefühlt; allerdings hatte ihn seine Erfahrung als Kleriker dazu gebracht, die Lehren der Kirche über Armut zu verwerfen. »Zu Zeiten, als die Menschen sich in ihrem Handeln nach kirchlichen Regeln richteten, hatten diese Vorurteile eine Verschwendung von Kapital zur Folge und trugen stark dazu bei, Europa in die Barbarei zurückfallen zu lassen.«[37] Hätte Columban, statt sich profitlos in den Wäldern herumzudrücken, doch nur ein Geschäft gegründet! Hätte doch Bonifatius, statt die Heiden herunterzuputzen, ihnen die frohe Botschaft vom Freihandel verkündet! Dieser Lehre schloss Carnegie sich gern und stolz als Schüler an.

Allerdings konnte er bei all dem nicht verhindern, dass er auch ein Kind seiner presbyterianischen Erziehung war. Als Carnegies(3) Familie von Schottland nach Amerika reiste, hatten sie wie schon die Pilgerväter das Wissen darum mitgebracht, dass eine Erneuerung der gefallenen Menschheit nicht so ohne weiteres machbar war. Ein Mann musste seiner Berufung entsprechend leben. Nur wenn er so hart arbeitete, als hinge alles von seinen Anstrengungen ab, würde Gott ihn belohnen. Carnegie zweifelte zwar an der Existenz einer Gottheit, doch daran, dass seine Bemühungen, sich zu bereichern, mit einer ernsten Verantwortung verbunden waren, zweifelte er nie. Als John Winthrop(6) in die Neue Welt gesegelt war, hatte er vor dem Verhängnis gewarnt, das sich ergeben würde, wenn er und seine Gefährten »sich ganz auf diese gegenwärtige Welt einlassen und unseren sinnlichen Absichten nachgehen würden, anstatt dass wir Großes für uns selbst und unsere Nachkommen anstreben«.[38]

Carnegie wurde über zwei Jahrhunderte später von derselben Sorge geplagt. Ein kluger Mann, erklärte er, könnte seinem Sohn geradeso gut einen Fluch wie einen Dollar hinterlassen. Der Artikel, in dem er das schrieb, hatte den pointierten Titel: »Das Evangelium des Reichtums«. Wohltätigkeit war nur dann sinnlos, wenn sie es versäumte, den Armen zu helfen, sich selbst zu helfen. »Das beste Mittel, das Gemeinwesen zu fördern, besteht darin, in seiner Reichweite Leitern aufzustellen, auf denen die Ehrgeizigen aufsteigen können.«[39] Im Sinne dieser Maxime widmete Carnegie, nachdem er seine aktive Berufslaufbahn damit zugebracht hatte, sagenhafte Geldmengen zu verdienen, seinen Ruhestand dem Ausgeben seines Reichtums. Er glaubte daran, dass es besser war, den Armen zu helfen, reich zu werden, statt – in »Nachahmung des Lebens Christi«[40] – selbst in Armut zu leben; in dieser Hinsicht war er erkennbar ein Erbe des Paulinus. Parks, Bibliotheken, Schulen, Stiftungen zur Förderung des Weltfriedens: alles wurde von Carnegie finanziert. Diese Gesten hatten zwar den Charakter von Selbstverherrlichung, doch sie waren nicht primär eigennützig. Das in ihnen erkennbare Anliegen, das Leben anderer Menschen zu verbessern, hätte sicherlich die Zustimmung von John Winthrop gefunden. Carnegie gab sich nicht damit zufrieden, seinen Diplodocus in einem üppig ausgestatteten Museum in seiner Heimatstadt Pittsburgh(1) auszustellen. Dieses Wunder musste weit und breit bekanntgemacht werden. Es wurden Abgüsse erstellt und an Hauptstädte auf der ganzen Welt verschickt.

Am 12. Mai 1905 war Carnegie(4) in London(11), wo die 292 Knochen des ersten Diplodocus-Abgusses, der je zu einem einzigen Skelett zusammengesetzt worden war, darauf warteten, einer aristokratischen Schar von Würdenträgern enthüllt zu werden. Carnegie hielt natürlich eine Rede. Sein Dinosaurier, so riesig und atemberaubend wie sein eigenes Geschäftsimperium, war das perfekte Symbol dafür, was erreicht werden konnte, wenn man dem Überleben der Stärksten freien Lauf ließ. Schließlich war es seine uneingeschränkte Akkumulation von Kapital gewesen, die es ihm ermöglicht hatte, dieses Geschenk zu finanzieren und so dazu beizutragen, zwischen dem britischen und dem amerikanischen Volk »ein Bündnis für den Frieden« zu stiften.[41] Der Rahmen für diese Botschaft hätte nicht geeigneter sein können: Londons Museum of Natural History, ein riesiger Gebäudekomplex, bei dem weder himmelhohe Säulen noch Wasserspeier fehlten, hatte entschieden die Anmutung einer Kathedrale. Das war kein Zufall. Sein Gründer Richard Owen(1) – jener Naturforscher, von dem das Wort »Dinosaurier« stammte – hatte das Ganze bewusst so angelegt: Hatte er doch einmal erklärt, dass die Wissenschaft »Böses mit Gutem vergilt«.[42]

Während also Carnegie(5) stolz auf seinen Diplodocus blickte, konnte er das Gefühl haben, dass dessen Knochen mit einem angemessenen Reliquiar versehen worden waren. Allerdings war er in jenem Mai nicht der einzige ausländische Besucher in London(12), der daran glaubte, dass ein richtiges Verständnis von Wissenschaft der Menschheit endlich den Weltfrieden bringen würde. Einen Tag vor der Enthüllung des Diplodocus hatte ein Russe namens Wladimir Iljitsch Uljanow – Lenin(1), wie er sich selbst zu nennen pflegte – ebenfalls das Museum of Natural History besucht. Er war ebenso wie Carnegie ein Befürworter der Strategie, die Lehren, welche die Evolution vermittelte, in die Praxis umzusetzen. Im Unterschied zu Carnegie glaubte er hingegen nicht daran, dass das Glück des Menschen am besten dadurch erreicht werden konnte, dass man dem Kapital die Zügel schießen ließ. Lenin war der Meinung, dass der Kapitalismus zum Untergang verurteilt war. Die Arbeiter der Welt – das »Proletariat« – waren dazu ausersehen, die Erde zu erben. Der Abgrund, der zwischen »der Handvoll arroganter Millionäre« gähnte, »die sich in Abscheulichkeiten und Luxus suhlen; und den Millionen arbeitender Menschen, die ständig am Rand der Verarmung leben«[43] – dieser Abgrund garantierte den Triumph des Kommunismus(1). Zwei Wochen lang waren Lenin und siebenunddreißig andere in London gewesen, um darüber zu debattieren, wie diese bevorstehende Revolution in den Angelegenheiten der Welt am besten zu beschleunigen war – denn dass die Gesetze der Evolution diese Revolution unumgänglich machten, bezweifelte keiner von ihnen. Deshalb führte Lenin(2) seine Delegationskollegen ins Museum, als handle es sich dabei um eine Pilgerstätte.

Allerdings war das nur einer unter mehreren Anlaufpunkten. London(13) hatte eine zweite, noch heiligere Pilgerstätte. Den sichersten Führer(1) zur Funktionsweise der menschlichen Gesellschaft und zu ihren zukünftigen Entwicklungslinien hatte nicht Darwin vorgelegt, sondern ein zweiter kluger, ebenfalls bartgezierter Kopf, der ebenfalls wie Hiob unter Verlust und Furunkeln zu leiden hatte. Jedesmal, wenn Lenin(3) nach London kam, besuchte er das Grab des großen Mannes; und 1905 bildete keine Ausnahme. Als der Kongress vorüber war, nahm Lenin die Delegierten mit zum Friedhof im Norden der Stadt, wo zweiundzwanzig Jahre zuvor ihr Lehrer, jener Mann, der mehr als jeder andere ihren Versuch inspiriert hatte, die Welt zu verwandeln, zu Grabe getragen worden war. Die achtunddreißig Jünger(4) erwiesen vor seinem Grab stehend Karl Marx(2) die Ehre.

Nur ein Dutzend Personen hatten seinem(3) Begräbnis im Jahr 1883 beigewohnt. Doch niemand hatte je irgendwelche Zweifel an seiner epochalen Bedeutung gehegt. Einer der Trauernden sprach es in seiner Grabrede ganz offen aus. »Charles Darwin entdeckte das Gesetz der organischen Natur auf unserem Planeten. Marx ist der Entdecker jenes grundlegenden Gesetzes, das den Gang und die Entwicklung der menschlichen Geschichte bestimmt.«[44] Nicht weil ihr Anliegen moralisch oder gerecht war, oder weil es – wie Marx(4) es spöttisch formuliert hatte – »in der dunstigen Wolkenbildung am Himmel« so geschrieben stand,[45] konnten sich Kommunisten(2) ihrer Sache sicher sein, sondern weil sie wissenschaftlich bewiesen war. Jahrelang hatte Marx im Lesesaal des British Museum gesessen, hatte über Zahlen gebrütet und Daten analysiert, mit deren Hilfe er schließlich die erbarmungslosen und unbewussten Kräfte festmachen konnte, welche die menschliche Geschichte formen.

Einst, im Anfang, hatten Mann und Frau in einem Zustand primitiver Gleichheit gelebt; dann jedoch kam es zu einem Absturz(5). Unterschiedliche Klassen bildeten sich heraus. Ausbeutung wurde zur Norm. Unaufhörlich tobte der Kampf zwischen den Reichen und den Armen: eine unerbittliche Geschichte aus Gier und Gewinnstreben. Nun, unter der blutbefleckten Herrschaft des Kapitals, im Zeitalter von Plutokraten wie Carnegie(6), war dieser Prozess so schonungslos wie nie zuvor geworden. Arbeiter wurden zu Maschinen reduziert. Marx hatte sechzig Jahre zuvor all das vorhergesagt, was der schrille, hämmernde Geist des Kapitalismus enthüllte: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.«[46] Im gewaltigen, sich zuspitzenden Krampf des Klassenkampfs, der bereits seit dem Heraufdämmern der Zivilisation den Lauf der Geschichte bestimmt hatte, war nur ein einziges Ergebnis denkbar. Kapitalisten wie Andrew Carnegie waren die Totengräber ihrer eigenen Klasse. Der Kapitalismus selbst würde die klassenlose Gesellschaft hervorbringen.

Natürlich war Gott nun, da es Marx(6) gelungen war, eine wissenschaftliche Grundlage für die historischen Abläufe zu formulieren, nicht mehr nötig. An eine Gottheit zu glauben bedeutete für jedes menschliche Wesen, in einem Zustand demütigender Abhängigkeit zu leben. Religion beförderte wie Opium die von ihr Abhängigen in einen Zustand einschläfernder Passivität, indem es sie mit Phantasien von Vorsehung und einem Leben nach dem Tod betäubte. Sie war wie schon seit je lediglich ein Manipulationsmittel der ausbeutenden Klassen. Marx, Enkel eines Rabbiners und Sohn eines lutherischen Konvertiten, tat sowohl Judentum wie Christentum als »verschiedene Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes« ab – »verschiedene von der Geschichte abgelegte Schlangenhäute, und den Menschen als die Schlange, die sich in ihnen gehäutet«.[47] Aus dem Rheinland(5) wurde er vertrieben, aus mehreren europäischen Hauptstädten verbannt, weil er sich über die Frömmelei Friedrich Wilhelms(13) IV. mokiert hatte; als er schließlich in London(14) eintraf, hatte er am eigenen Leibe erfahren, wie Religion von Autokraten benutzt wurde. Religion diente durchaus nicht dazu, die Stimmen der Leidenden zu Gehör zu bringen, vielmehr war sie ein Unterdrückungswerkzeug, das benutzt wurde, um Protest zu unterdrücken und die Protestierenden mundtot zu machen.

Die Ambitionen des Christentums, die Welt zu verändern; seine Behauptungen, das tatsächlich vollbracht zu haben, waren nichts weiter als Blendwerk. Marx(7) bezeichnete sie als »Epiphänomene«: lediglich Blasen, an der wogenden Oberfläche der Dinge hervorgerufen durch die gewaltigen Strömungen von Produktion und Tausch. Die Ideale, die Lehren, die Visionen des Christentums: Nichts davon war unabhängig von den materiellen Kräften, die sie hervorgebracht hatten. Wer sich der Meinung hingab, sie hätten irgendwie die geschichtlichen Abläufe beeinflusst, der dämmerte tatsächlich in einer Opiumhöhle vor sich hin. Nun, da Marx seinen Weckruf hatte erschallen lassen, war es nicht mehr entschuldbar, weiterhin von einem so verderblichen Betäubungsmittel abhängig zu sein. Fragen der Moral und Gerechtigkeit, von denen die Christen so lang besessen gewesen waren, wurden abgeschafft. Die Wissenschaft hatte sie überflüssig gemacht. Marx(8) hatte die Wirkungsweisen des Kapitalismus als ein Mann erwogen, der sich von moralischen Vorurteilen nicht einschränken ließ. In seinen Schriften gab es auch nicht den mindesten Weihrauchhauch des Epiphänomenalen. All seine Auswertungen, all seine Voraussagen leiteten sich von beobachtbaren Gesetzen ab. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.«[48] Damit hatte man einen Slogan, so luzide wie eine wissenschaftliche Formel.

Aber natürlich konnte davon überhaupt keine Rede sein. Seine Herkunft war für jeden offensichtlich, der die Apostelgeschichte kannte. »Sie verkauften ihr Hab und Gut und verteilten davon an alle, je nachdem einer bedürftig war.«[49] Immer wieder in der Geschichte des Christentums hatte der von den ersten Christen praktizierte Kommunismus(3) Radikalen als Inspirationsquelle gedient. Als Marx(9) Fragen der Moral und Gerechtigkeit als Epiphänomene ausrangierte, verbarg er den eigentlichen Keim seiner Revolte gegen den Kapitalismus hinter Jargon. Er witzelte einmal, ein Bart sei etwas, »ohne das kein Prophet etwas ist«.[50] Er, der selbst mit einer spektakulären Gesichtsbehaarung begabt war, hatte womöglich wahrer gesprochen, als ihm bewusst war. Sachlichkeit war eine Tonlage, die er trotz seiner Bemühungen unmöglich halten konnte. Der Abscheu, den er so offenkundig empfand angesichts des Elends von Handwerkern, die, von ihren Vermietern ausquartiert, auf der Straße verhungerten; von vor der Zeit gealterten Kindern, die Nacht und Tag in Fabriken schufteten; von Arbeitern, die sich in weit entfernten Kolonien zu Tode arbeiteten, damit die Bourgeoisie Zucker in ihrem Tee hatte – dieser deutlich zum Ausdruck kommende Abscheu führte seine Behauptungen, er habe moralische Urteile hinter sich gelassen, ad absurdum.

Die Marx(10)’sche Interpretation der Welt wurde offensichtlich von Überzeugungen gespeist, deren Ursprung in seinem ökonomischen Modell nicht auszumachen waren. Sie stammten aus viel größeren Tiefen. Wieder und wieder drängte sich der Magmastrom seiner Entrüstung durch die Kruste seiner wissenschaftlich klingenden Prosa. Für einen selbsternannten Materialisten neigte er in erstaunlichem Ausmaß dazu, die Welt zu betrachten, wie es schon die Kirchenväter getan hatten: als ein Schlachtfeld zwischen den kosmischen Kräften von Gut und Böse. Der Kommunismus(4) war ein »Gespenst«: ein Gebilde von schrecklicher und machtvoller Natur. So wie einst Origenes von Dämonen heimgesucht worden war, so wurde Marx vom Walten des Kapitalismus bedrängt. »Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.«[51] So klang keiner, der sich von Epiphänomenen emanzipiert hatte. Schon die Wörter, die Marx für sein Modell des Klassenkampfs verwendete – »Ausbeutung«, »Versklavung«, »Habgier« – verdankten sich nicht so sehr den kühlen Formulierungen von Ökonomen, sondern etwas viel Älterem: den Ansprüchen auf göttliche Inspiration der biblischen Propheten. Zwar betonte Marx(11) immer wieder, dass er seinen Anhängern eine Befreiung vom Christentum bot, doch klang diese Befreiung eher nach dessen Neuausrichtung.

Lenin(5) und seine Delegationskollegen, die im Frühjahr 1905 in London(15) zusammenkamen, hätten dergleichen Vorstellungen natürlich entrüstet von sich gewiesen. Religion musste, wenn der Sieg des Proletariats erst feststand, in ihrer Eigenschaft als Opium des Volkes mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Unterdrückung in jeglicher Form war zu eliminieren. Die Ziele rechtfertigten die Mittel. Lenin hatte sich auf dieses Prinzip bedingungslos festgelegt. Die Unbeirrbarkeit, mit der er daran festhielt, hatte in den Reihen der Anhänger von Marx(12) bereits zu einem Schisma geführt. Der in London abgehaltene Kongress richtete sich exklusiv an jene, die sich als Bolschewiki(1) verstanden: die »Mehrheit«. Kommunisten(5), die es im Unterschied zu Lenin nicht ausschlossen, mit Liberalen zusammenzuarbeiten; die bekannten, im Zusammenhang mit Gewaltanwendung Gewissensbisse zu haben; die sich Sorgen machten, dass Lenins Ziel einer straff organisierten, streng disziplinierten Partei zur Diktatur zu entarten drohte – das waren gar keine Kommunisten, sondern lediglich eine Sekte.

Wie vormals die Donatisten wiesen die Bolschewiki(2) mit aller Härte jede Vorstellung eines Kompromisses mit der Welt von sich. Wie die Taboriten lechzten sie nach dem Hereinbrechen der Apokalypse, nach der Errichtung des Paradieses auf Erden. Wie die Digger träumten sie von einer Ordnung, in welcher die Ländereien, die einst im Besitz von Aristokraten und Königen gewesen waren, das Eigentum des Volkes sein würden, ein allen gemeinsamer Schatz. Lenin(6), von dem es hieß, er bewundere sowohl die Münsteraner Wiedertäufer als auch Oliver Cromwell, verachtete die Vergangenheit nicht vollständig, enthielt sie doch viele Beweise für das, was bevorstand. Die Geschichte bewegte sich wie ein Pfeil unerbittlich vorwärts. Der Kapitalismus war zum Untergang verurteilt, und das von der Menschheit am Anbeginn der Zeiten verlorene Paradies würde wiederhergestellt werden. Jene, die das bezweifelten, mussten nur die Lehren und Prophezeiungen ihres großen Lehrers lesen, um ihre Zweifel beizulegen.

Die Stunde der Erlösung war nicht mehr fern.