XIX

Schatten

1916: Die Somme

Nicht die Front selbst, sondern die Reise dorthin war das Schlimmste. »Na ja – jetzt kann man lachen –, da war Scheiße in den Hosen.«[1] Nach zwei Jahren Krieg hatte Otto Dix(1) alles gesehen. 1914 hatte er sich ohne zu zögern zur Feldartillerie gemeldet. Damals hatten die Leute geglaubt, der Sieg stünde unmittelbar bevor. Deutschland(20) war die bedeutendste Militärmacht Europas. In den Jahrzehnten nach der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. hatte Preußen(8) sich zum Kern eines gewaltigen deutschen Reichs entwickelt. Sein König herrschte nun wie vormals Otto der Große als ein Caesar, als Kaiser(1). Natürlich erweckte diese Größe Neid. Russland(2) an der Ostgrenze des Reichs und das im Westen dräuende Frankreich(41) hatten den Versuch unternommen, Deutschland in einer Umklammerung zu erdrücken. Die Briten(11), in Sorge um ihre Herrschaft über die Weltmeere, hatten sich mit den Franzosen zusammengetan.

Einige berauschende Wochen lang, in denen das deutsche Heer erst durch das neutrale Belgien(1) und anschließend durch Nordfrankreich gefegt war, hatte es ganz so ausgesehen, als würde Paris(26) fallen. Doch die Franzosen hatten sich wieder gefangen. Die Hauptstadt blieb vertrackterweise unerreichbar. Ein tiefer Riss aus Schützengräben zog sich entlang der Westfront. Keine Seite konnte einen entscheidenden Durchbruch erzwingen. Nun unternahmen an den Hängen über dem Fluss Somme(1) die englischen und französischen Truppen allerdings einen konzentrierten Versuch, eine Bresche in das Labyrinth der deutschen Verteidigungsanlagen zu schlagen. Den ganzen Sommer über hatte die Schlacht getobt. Als Dix(2) sich der Somme näherte, betäubte ihn der Artilleriebeschuss; nie hätte er eine solche Lautstärke für möglich gehalten, und der Horizont im Westen leuchtete grell wie von Gewitterblitzen. Überall war Zerstörung: Schlamm, zerschossene Bäume, Trümmer. In seinen Träumen kroch Dix durch zerstörte Häuser und kaum passierbare Eingänge. Als er dann aber an seinem Posten angekommen war, verließ ihn die Angst. Eingesetzt in einer Batterie schwerer Maschinengewehre verspürte er eine Mischung aus Erregung und Ruhe. Sogar zum Malen fand er Zeit.

Dix(3) hatte in Dresden(1), der prächtigen Stadt in Sachsen, Kunst studiert und mit mehreren Stilen experimentiert. Bei Kriegsausbruch war er erst dreiundzwanzig, und er kam aus ärmlichen Verhältnissen; das Gefühl von Dringlichkeit, das er als Maler empfand, war also das eines Mannes, der entschlossen war, sich einen Namen zu machen. Im Schlamm und Gemetzel der Somme(2) wurde er Augenzeuge von Szenen, die sich frühere Malergenerationen nicht hätten vorstellen können. Nachts, wenn Dix(4) neben einer Karbidlampe kauerte, erhellten Leuchtgeschosse über dem Niemandsland grotesk im Stacheldraht verrenkte Leichen. Jeden Morgen ließ die Dämmerung eine Kraterlandschaft des Todes erscheinen. Am 1. Juli, dem ersten Tag der Schlacht, wurden fast zwanzigtausend englische Soldaten beim vergeblichen Versuch, die feindlichen Schützengräben einzunehmen, niedergemäht, weitere vierzigtausend wurden verwundet. Vierzehn Tage später wurde jeder Meter der deutschen Stellungen mit 300 Kilogramm Granaten bombardiert. Neue Tötungsmethoden wurden entwickelt. Am 15. September rumpelten erstmals monströse Maschinen über das Schlachtfeld, die ihre britischen Erfinder »tanks« nannten. Ende des Monats warfen Flugmaschinen regelmäßig Bomben auf die unter ihnen liegenden Schützengräben ab. Erst Ende November kamen die Kampfhandlungen zum Erliegen. Die Opferzahlen bewegten sich in Millionenhöhe. Als Otto Dix hinter seinem Maschinengewehr kauerte, kam es ihm so vor, als sei die ganze Welt verwandelt. »Die Materie Mensch«, schrieb er(5), »verändert sich auf dämonische Weise.«[2]

Allerdings wähnten sich viele auf der Seite der Engel. In Sachsen(6) war ein Jahr vor Kriegsausbruch aus Anlass des hundertsten Gedenktags eines besonders blutigen Sieges über Napoleon(9) ein gewaltiges Denkmal enthüllt worden. Herzstück des Denkmals war eine Kolossalstatue des geflügelten mit einem Feuerschwert bewaffneten Erzengels Michael(11). Dass Deutschlands(21) Kampf gegen seine Feinde den kosmischen Krieg Engel gegen Dämonen widerspiegelte, war eine Überzeugung, die bis in die obersten Ränge der Politik geteilt wurde. Als sich der Krieg hinzog und eine Seeblockade Deutschlands(22) Wirkung zu zeigen begann, wuchs die Überzeugung des Kaisers(2) von Tag zu Tag, dass die Briten(12) sich im Bund mit dem Teufel befanden. Patriotische Briten sagten seit Beginn des Krieges in etwa dasselbe über die Deutschen. Bischöfe taten sich mit Zeitungsverlegern zusammen, um die Botschaft unmissverständlich einzuhämmern. Die Deutschen waren »einem brutalen, gnadenlosen militärischen Heidentum« erlegen,[3] einem Heidentum der Art, von dem sie mehr als ein Jahrtausend zuvor von Bonifatius unter Einsatz all seiner Kräfte und letztlich seines Lebens errettet worden waren. Die Deutschen waren zur Anbetung Wotans(4) zurückgekehrt. Die Times verkündete, in Deutschland(23) fange man an, »das Christentum für einen ausgedienten Glauben zu halten«.[4]

Allerdings war es vielleicht für Hobbykrieger einfacher, das zu glauben, als für Soldaten an der Front. Hinter den englischen Linien an der Somme(3), in der kleinen Stadt Albert(1), gab es eine Basilika, die von einer goldenen Statue der Jungfrau Maria(7) mit ihrem Kind gekrönt war. Ein Jahr zuvor war der Kirchturm von einer Granate getroffen worden. Die Statue war wie durch ein Wunder nicht zerstört, aber in eine unsichere Schieflage geraten. Sowohl in den deutschen wie in den englischen Schützengräben begannen sich Gerüchte zu verbreiten, dass die Seite, welche die Statue endgültig zu Fall brachte, den Krieg verlieren würde. Doch viele, die zur Jungfrau aufblickten, wollten gar nicht über Sieg und Niederlage nachdenken, sondern über das Leiden auf beiden Seiten. Ein englischer Soldat schrieb: »Die Figur stand früher einmal triumphierend auf dem Turm der Kathedrale; jetzt ist sie gebeugt, wie in äußerstem Gram.«[5] Die Jungfrau(8) wusste ja, was es bedeutete, einen Sohn zu betrauern. Inmitten des Unheil und der Leiden, die in ganz Europa zu einer allgegenwärtigen Erfahrung geworden waren, war es nicht überraschend, dass das Bild des an einem Kreuz zu Tode gefolterten Christus für viele auf ganz neue Weise präsent wurde.

Beide Seiten versuchten vorhersehbarerweise, das zu ihrem Vorteil auszunutzen. In Deutschland(24) verglichen Pastoren die von der Royal Navy verhängte Blockade mit den Nägeln, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen worden war; in England(47) waren Geschichten von deutschen Soldaten, die einen kanadischen Kriegsgefangenen kreuzigten, schon länger ein zentraler Propagandabestandteil. Doch in den Schützengräben selbst, wo Soldaten – wenn sie sich nicht in Stacheldraht verfingen, von Maschinengewehren durchlöchert oder von einer explodierenden Granate zerfetzt wurden – einen Tag um den anderen im Tal der Todesschatten lebten, hatte die Kreuzigung eine unmittelbarere Resonanz. Christus litt mit ihnen. Auf dem Schlachtfeld an der Somme(4) bemerkten Soldaten inmitten all der Verheerungen erstaunt das häufige Vorkommen von Kruzifixen am Wegrand, auch wenn diese angeschlagen und von Kugeln durchlöchert waren. Sogar Protestanten, sogar Atheisten wurden davon angerührt. Man stellte sich vor, dass Christus mitlachte, wenn in den Gräben ein Witz weitererzählt wurde, dass er Soldaten in ihrer Qual und Schwäche zur Seite stand. »Wir haben keine Zweifel, wir wissen, dass Du da bist.«[6]

Die Leiden Christi waren für Otto Dix(6) in seinem Unterstand durchaus präsent. Er war als Lutheraner(5) erzogen worden und hatte eine Bibel nach Frankreich mitgenommen. Während seines Fronteinsatzes hatte er genügend Artillerie-Angriffe gesehen, um in dem, was sie hinterließen, eine Art Golgatha zu erkennen. Der Anblick eines Soldaten, der auf einem Stück Metall aufgespießt war, erinnerte ihn an die Kreuzigung. Allerdings weigerte sich Dix – auf eine Art, die englische Propagandisten in ihren finstersten Vermutungen über den Charakter der Deutschen bestätigt hätte –, im Leiden Christi irgendeinen Sinn zu erkennen. Diese Annahme hätte bedeutet, sich die Werte eines Sklaven zu eigen zu machen. »Selber erleben, selber gekreuzigt werden!« – das war ein Lohn in sich. Als Dix sich im Jahr 1914 freiwillig für die Front meldete, tat er das aus dem Wunsch heraus, die ultimativen Extreme von Leben und Tod kennenzulernen: zu wissen, wie es sich anfühlte, einem Feind ein Bajonett in die Eingeweide zu stechen und es herumzudrehen; einen Kameraden plötzlich mit einer Kugel zwischen den Augen neben sich zusammensacken zu sehen; »Hunger, Läuse, Schlamm« zu erleben.[7] Lediglich in der Berauschung an solchen Erfahrungen konnte der Mensch mehr sein als Mensch: ein Übermensch.

Frei sein bedeutete großartig sein; und großartig sein bedeutete schrecklich sein. Zu dieser Überzeugung war Dix(7) nicht durch die Bibel gelangt. In seiner Entschlossenheit, die Denkmuster eines Sklaven hinter sich zu lassen und stattdessen in all den Qualitäten zu schwelgen, die einen Herren ausmachten, lag eine bewusste Ablehnung christlicher Moral mit ihrer Sorge um die Schwachen, die Armen und die Unterdrückten. Ein Schützengraben mitten in der furchtbarsten Kampflandschaft in der Geschichte der Menschheit schien Dix der passende Blickwinkel, von dem aus sich das beobachten ließ, was – so seine Überzeugung – der Zusammenbruch einer 1900 Jahre alten Ordnung war. Neben seiner Bibel hatte er noch ein zweites Buch dabei. Von dessen Philosophie war er so angetan, dass er 1912, als er noch in Dresden(2) Kunst studierte, eine lebensgroße Büste des Autors angefertigt hatte. Es war nicht nur seine erste Skulptur, sondern auch sein erstes Werk, das von einer Galerie angekauft wurde. Scharfsichtige Kritiker hatten angesichts des herabhängenden Schnurrbarts der Büste, ihres Stiernackens, ihres starren Blicks unter stachligen Augenbrauen verkündet, es handle sich um das perfekte Abbild Friedrich Nietzsches(1).

»Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!«[8] Wenn man diese Worte am Ufer der Somme(5) las, inmitten einer in Schlamm und Asche verwandelten Landschaft, die übersät war mit verstümmelten Soldatenleichen, dann musste man vor der Möglichkeit erschauern, dass Opfer vielleicht doch nicht Erlösung bedeuteten. Nietzsche(2) hatte diese Worte im Jahr 1882 geschrieben: im Gleichnis von einem Verrückten, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete und auf den Markt lief, wo keiner derer, die ihn schreien hörten, seine Botschaft glauben wollte, dass Gott unter ihren Messern verblutet war.

Kaum etwas an Nietzsches Herkunft schien auf eine solche Blasphemie vorauszuweisen. Als Sohn eines lutherischen Pfarrers, benannt nach Friedrich Wilhelm(14) IV., stammte er aus einem fromm-provinziellen Milieu. Der frühreife, brillante junge Mann erlangte mit nur vierundzwanzig Jahren eine Professur, doch nur ein Jahrzehnt später schied er aus dem Amt aus und nahm ein unstetes, schäbig-vornehmes Vagantenleben auf. 1889 erlitt er einen entsetzlichen Nervenzusammenbruch – scheinbare Bestätigung einer vergeudeten Karriere. Die letzten elf Jahre seines Lebens verbrachte er weggesperrt in mehreren Kliniken. Als er schließlich im Jahr 1900 starb, hatten nur wenige die Bücher gelesen, die er in einem ständig zunehmenden Schaffensrausch vor seinem Zusammenbruch in den Wahnsinn geschrieben hatte. Nach seinem Tod wuchs sein Ruhm jedoch mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit an. Als Dix(8) 1914 mit Nietzsches Schriften in seinem Tornister in den Krieg zog, hatte sich der Name des Philosophen europaweit zu einem der umstrittensten entwickelt. Von vielen wurde er als der gefährlichste Denker eingeschätzt, der je gelebt hatte; andere priesen ihn als Propheten. Viele sahen beides in ihm.

Nietzsche(3) war selbstverständlich nicht der Erste, dessen Name zu einem Synonym für Atheismus(6) wurde. Doch keiner vor ihm – weder Spinoza noch Darwin noch Marx – hatte es gewagt, sich so schonungslos dem auszusetzen, was der Mord an ihrem Gott für eine Zivilisation eigentlich bedeutete. »Wenn man den christlichen Glauben aufgibt, zieht man sich damit das Recht zur christlichen Moral unter den Füßen weg.«[9] Inbrünstig hasste Nietzsche diejenigen, die anders dachten. Philosophen verachtete er als heimliche Priester. Sozialisten, Kommunisten, Demokraten: Alle waren gleichermaßen verblendet. »Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt!«[10]

Auf Aufklärungsenthusiasten – selbsternannte Rationalisten, die sich einbildeten, Männer und Frauen verfügten über angeborene Rechte – blickte Nietzsche(4) verächtlich herab. Ihre Lehre von der Würde des Menschen leitete sich nicht aus der Vernunft ab, sondern aus eben jenem Glauben, den sie ihrer überheblichen Meinung nach selbst vertrieben hatten. Menschenrechtserklärungen waren nur Strandgut, das die zurückweichende Flut des Christentums zurückgelassen hatte: nichts weiter als ausgebleichte, ausgetrocknete Überreste. Gott war tot – doch in die gewaltige Höhle, die einst das Christentum gewesen war, fiel noch sein Schatten, ein riesiger, schrecklicher Schatten. Er würde womöglich noch jahrhundertelang bleiben. Das Christentum hatte zwei Jahrtausende lang geherrscht. Es war nicht so einfach abzuschaffen. Seine Mythen würden fortbestehen. Sie waren sicher nicht weniger mythisch, wenn sie sich als säkular definierten. »Solche Phantome, wie die Würde des Menschen, die Würde der Arbeit«:[11] durch und durch christliche Konstrukte.

Nietzsche(5) verstand das nicht als Kompliment. Nicht nur als Betrüger verachtete er diejenigen, die sich an die christliche Morallehre klammerten, während ihre Messer noch vom Blut Gottes troffen; er hasste sie ebenso sehr dafür, dass sie daran glaubten. Die Sorge um die Erniedrigten und die Leidenden war durchaus kein Dienst an der Gerechtigkeit, sondern eine Art Gift. Nietzsche war radikaler als viele Theologen ins Herz alles dessen vorgedrungen, das am christlichsten Glauben am meisten schockierte. »Sich etwas ausdenken, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des ›heiligen Kreuzes‹ gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines ›Gottes am Kreuze‹, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile des Menschen[12] Wie Paulus war es auch Nietzsche bewusst, dass es sich um einen Skandal handelte. Im Unterschied zu Paulus fühlte er sich von diesem Skandal jedoch abgestoßen.

Der Anblick des zu Tode gefolterten Christus diente als verlockender Köder für die Mächtigen. Er(6) hatte sie – die Starken und Gesunden, die Schönen und die Tapferen, die Mächtigen und die Selbstsicheren – davon überzeugen können, dass es die ihnen von Natur aus Untergebenen, die Hungrigen und Demütigen waren, die es verdienten, die Erde zu erben. »Das Helfen und Sorgen und Nützen erregt fortwährend das Gefühl der Macht.«[13] Wohltätigkeit war im Christentum zu einem Mittel der Herrschaft geworden. Aber das Christentum hatte, indem es sich auf die Seite der zu kurz Gekommenen, der Machtlosen, der Schwachen stellte, die gesamte Menschheit krank gemacht. Seine Ideale des Mitleids und der Gleichheit vor Gott waren nicht aus Liebe, sondern aus Hass geboren: einem Hass auf die tiefgründigste und erhabenste Ordnung, der das Wesen der Moral selbst verwandelt hatte; einem Hass, wie es ihn auf Erden nie zuvor gegeben hatte. So sah die Revolution aus, die Paulus(80) – dieser »Falschmünzer aus Hassbegriff«[14] – angestoßen hatte. Die Schwachen hatten die Starken bezwungen; die Sklaven hatten ihre Herren besiegt.

»Zunichte gemacht aus den feigsten, listigsten, niedrigsten Instinkten heraus! Ein Vampirismus bleicher unterirdischer Blutsauger! … Die versteckte Rachsucht, der kleine Neid Herr geworden!«[15] Als Nietzsche(7) um die Raubtiere der Antike trauerte, tat er das mit der Leidenschaft eines Gelehrten, der sein Leben dem Studium ihrer Zivilisation gewidmet hatte. Er bewunderte die Griechen nicht trotz, sondern wegen ihrer Grausamkeit. So sehr verachtete er jegliche Vorstellung vom antiken Griechenland als einem Land des sonnigen Rationalismus, dass viele Studenten gegen Ende seiner Professorenlaufbahn schockiert seine Vorlesungen verließen. Ganz ähnlich wie de Sade schätzte Nietzsche die Menschen der Antike dafür, dass sie Vergnügen dabei empfanden, wenn sie Leid bereiteten; für ihr Wissen darum, dass Bestrafung festlich sein konnte; dafür, dass sich an ihnen zeigen ließ, »dass damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten gibt«.[16] Dass Nietzsche selbst kurzsichtig und kränklich war und zu heftigen Migräneanfällen neigte, hinderte ihn in keiner Weise daran, die Aristokraten der Antike und ihre gleichgültige Sorglosigkeit gegenüber den Kranken und Schwachen zu bewundern. Eine Gesellschaft, die sich auf die Schwachen konzentrierte, war selbst eine in sich geschwächte Gesellschaft. Deshalb waren Christen zu so heimtückischen Blutsaugern geworden.

Auch wenn Nietzsche(8) die Zähmung der Römer am meisten beklagte, bedauerte er ebenfalls, wie die Christen sich an anderen Völkern gemästet hatten. Nietzsche selbst, dessen Verachtung der Deutschen nur von seiner Geringschätzung gegenüber den Engländern übertroffen wurde, hatte für Nationalismus so wenig übrig, dass er bereits im Alter von vierundzwanzig Jahren auf sein preußisches Bürgerrecht verzichtete und als Staatenloser starb; dennoch beklagte er immer wieder das Schicksal seiner Vorfahren. Einst, vor der Ankunft des Bonifatius, hatten in den Wäldern Sachsen(15) gelebt, die in ihrer Unbezähmbarkeit und ihrem Hunger nach allem, was das Leben an Reichtümern und Intensitäten zu bieten hatte, ebenso glorreiche Raubtiere gewesen waren wie Löwen: »blonde Bestien«. Dann aber waren die Missionare gekommen. Die blonde Bestie, der Germane, war ins Kloster gelockt worden. »Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein ›Christ‹.«[17](9) Indem Dix(9) sich den Brutalitäten der Westfront aussetzte, musste er kein Wotan(5)-Verehrer sein, um sich endlich frei zu fühlen.

»Auch den Krieg«, so hielt er in seinem Notizbuch fest, »muss man als eine Naturerscheinung betrachten.«[18] Dass der Krieg ein Abgrund war, über den ein Mensch wie ein Seil ausgespannt sein konnte, festgemacht zwischen Bestie und Übermensch: Dix(10) sah sich an der Somme(6) nicht veranlasst, eine solche Philosophie aufzugeben. Doch trotz alledem konnte diese Philosophie düster und trostlos wirken. Die Soldaten in den Schützengräben dürften sich wohl nur selten der Nietzeanischen Vorstellung ausgesetzt haben, dass es keine Wahrheit, keinen Wert, keinen Sinn an sich gab – und dass der Mensch erst dann aufhörte, Sklave zu sein, wenn er das anerkannte. Das unerhörte Ausmaß an Gewalt, das Europa ausbluten ließ, trieb die meisten Menschen nicht dem Atheismus(7) in die Arme. Im Gegenteil: Es diente dazu, sie in ihrem Glauben zu festigen. Wie sonst hätten sie all dem Horror noch irgendeinen Sinn abgewinnen können?

Wie schon so oft zuvor, wenn Christen bis zum Hals in Elend und Gemetzel steckten, konnte der Schleier zwischen Erde und Himmel vielen entsetzlich dünn vorkommen. Als der Krieg sich hinzog und 1916 in 1917 überging, schien auch die Endzeit immer näherzukommen. In dem portugiesischen Städtchen Fátima(1) erschien wiederholt die Jungfrau Maria(9); als Höhepunkt tanzte die Sonne vor riesigen Menschenmengen, wie eine Erfüllung der Prophezeiung aus der Offenbarung des Johannes, dass ein großes und wunderbares Zeichen am Himmel erscheinen werde: »eine Frau, gekleidet mit der Sonne«.[19] In Palästina(1) errangen die Engländer(48) bei Armageddon(2) einen überwältigenden Sieg und eroberten Jerusalem(49) von den Türken(7). In London(16) gab das Außenministerium eine Erklärung heraus, welche die Gründung eines jüdischen Staats unterstützte – eine Entwicklung, die bei vielen Christen den Glauben erweckte, die Wiederkunft Christi stehe bevor.

Aber er kam nicht wieder. Und auch das Ende der Welt blieb aus. Als die Deutschen(25) im Jahr 1918 – mit einer Operation, der sie zu Ehren des Erzengels den Codenamen »Michael«(12) gaben – einen massiven Versuch unternahmen, ihre Gegner ein für alle Mal zu vernichten, erreichte die Unternehmung ihren Höhepunkt, brach ab – und verebbte. Acht Monate später war der Krieg vorbei. Deutschland(26) bat um Frieden. Der Kaiser dankte ab(3). Auf einem zerschmetterten Kontinent kehrte ein fragiler Friede ein. Otto Dix(11) kehrte von der Front zurück. In Dresden(3) malte er verkrüppelte Offiziere, unterernährte Kinder, hagere Prostituierte. Überall sah er Bettler. An Straßenecken standen Gruppen von Männern, die Passanten aufwiegelten. Einige waren Kommunisten(6). Einige waren Nationalisten. Einige liefen barfuß herum, sagten das Ende der Welt voraus und riefen zu einer Wiedergeburt des Menschen auf. Dix ignorierte sie alle. Als man ihn aufforderte, sich einer politischen Partei anzuschließen, antwortete er, er würde lieber in einen Puff gehen. Weiterhin las er Nietzsche(10). »Eine ungeheure Besinnung, nach dem schrecklichsten Erdbeben: mit neuen Fragen.«[20]

Zur selben Zeit redeten in Kellergeschossen, die nach Bier und Schweiß stanken, Männer mit dröhnenden Stimmen über Juden(185).

Triumph des Willens

Schwierige Mieter waren der Fluch im Leben jeder Vermieterin. Die Zeiten in Berlin(5) waren hart, und Elisabeth Salm(1), eine Witwe, musste irgendwie zu Geld kommen – aber es gab doch Grenzen. Der junge Mann hatte von Anfang an Ärger gemacht. Zuerst hatte er angefangen, sein Zimmer mit seiner Freundin zu teilen, einer ehemaligen Prostituierten namens Erna Jaenichen(1) – nicht die Sorte Frau, die eine anständige Witwe in ihrer Wohnung haben wollte. Dann kamen immer wieder Gruppen von Männern, hämmerten an Frau Salms Tür, drängten sich an ihr vorbei und redeten die ganze Nacht lautstark über Politik. Schließlich, am 14. Januar 1930, riss Frau Salm der Geduldsfaden. Sie forderte Jaenichen auf, ihre Wohnung zu verlassen. Jaenichen(2) weigerte sich, zu gehen. Frau Salm ging zur Polizei. Dort erhielt sie den Bescheid, sie solle sich selbst um die Sache kümmern. In ihrer Verzweiflung begab sie sich in eine Kneipe im Viertel, wo sich, wie sie wusste, die Freunde ihres verstorbenen Mannes trafen. Und natürlich waren sie alle dort, in der Abgeschiedenheit eines Hinterzimmers. Sie konnte ihre Klage vorbringen, doch die Männer weigerten sich, zu helfen. Warum sollten sie auch? Es gab böses Blut zwischen ihnen. Frau Salms Gatte war ein Mann gewesen, der treu zu seinem Glauben gestanden war, doch seine Witwe, anstatt dass sie ihm das Begräbnis gewährte, das er sich gewünscht hätte – und seine Freunde hatten sich angeboten, es auszurichten –, hatte sich an den örtlichen Pfarrer um Hilfe gewandt. Und jetzt, als sie da in der Kneipe »Zum Bären« stand, war sie(2) umgeben von Hinweisen auf das Sakrileg, das sie begangen hatte. Symbole, die auf blutrote Fahnen gestickt waren. Zerlesene heilige Texte. Ikonen an den Wänden. Das Heiligtum in der Ecke, komplett ausgestattet mit Blumen und einem Bild von Lenin.

Die Bolschewiki(3) hatten es weit gebracht seit ihrem Besuch im Londoner Museum of Natural History. Die Partei, zu deren Kongress im Jahr 1905 sich nicht einmal vierzig Abgeordnete versammelt hatten, herrschte nun über ein gewaltiges, altehrwürdiges Reich. Russland(3) war so riesig, dass darin fast ein Viertel der Christen weltweit lebten. Die russische Monarchie hatte die Ansprüche Roms zurückgewiesen und stattdessen eine Abstammungslinie von Byzanz beansprucht, sowie für ihre Kirche die Bezeichnung »orthodox(3)«. Allerdings war im selbsternannten Dritten Rom eine Revolution ausgebrochen. Im Jahr 1917 wurde die russische Monarchie gestürzt. Unter der Führung Lenins(7) ergriffen die Bolschewiki die Macht. Marx’(13) auserwähltes Volk, das Industrieproletariat, wurde ins gelobte Land geführt: ein kommunistisches Russland. Jene, die nicht wert waren, in einem solchen Paradies zu leben – seien es Mitglieder der Königsfamilie oder Bauern mit ein paar Kühen –, wurden zur Eliminierung aussortiert. Dasselbe geschah mit der Kirche. Obwohl Lenin(8) selbst zunächst unschlüssig gewesen war und sich fragte, ob es nicht möglicherweise kontraproduktiv sein könnte, Gläubige vor den Kopf zu stoßen, musste den Forderungen der revolutionären Logik Folge geleistet werden. »Der Kommunismus(7) ist, wie in der Theorie, so auch in der Praxis mit dem religiösen Glauben unvereinbar.«[21] Der Klerus musste weg.

Im Jahr 1918 wurden die Kirchen verstaatlicht. Bischöfe wurden erschossen, mit dem Kopf nach unten gekreuzigt oder eingesperrt. Im Jahr 1926 schlug man mit der Umwandlung eines besonders ehrwürdigen Klosters in ein Arbeitslager zwei Fliegen mit einer Klappe. Doch der Prozess, die Massen von ihrem Opium zu entwöhnen, ging vielen Kommunisten(8) offenbar immer noch viel zu langsam. Entsprechend wurde im Jahr 1929 die Verantwortung für religiöse Angelegenheiten einer Organisation übertragen, die genau das tat, was auf ihren Abzeichen geschrieben stand: Verband der kämpfenden Gottlosen(1). Ihr erklärtes Ziel war die endgültige Ausrottung der Religion. Sie waren sicher, dass fünf Jahre ausreichen würden, um diese Aufgabe zu erledigen. Sie organisierten sich in Einsatztrupps und machten sich an die Arbeit. Ganze Eisenbahnzüge wurden requiriert. In den abgelegenen Gegenden Sibiriens, wo sich das Christentum nur sporadisch durchgesetzt hatte, wurden Schamanen mit der Aufforderung zu fliegen aus Flugzeugen geworfen. Es gab keine Schanze des Aberglaubens, die so entfernt lag, dass ihre Heiligtümer nicht zerstört, ihre Führer nicht liquidiert, ihre Dunkelheit nicht vom Licht der Vernunft vertrieben werden konnte. Religion – dieser Mischmasch aus haltlosen Behauptungen, weit hergeholten Prophezeiungen und unsinnigem Wunschdenken – war zum Verschwinden verurteilt. Das war, wie Marx bewiesen hatte, eine wissenschaftliche Tatsache.

Viele jenseits der Grenzen der Sowjetunion(1), wie das russische Reich mittlerweile genannt wurde, waren derselben Meinung. Deshalb stießen an jenem Januarnachmittag in Berlin(6) die Bitten von Frau Salm(3) bei den Kameraden ihres Ehemanns auf taube Ohren. Allerdings verwies der Unwille der Versammelten auf eine Ironie, die Nietzsche bereits Jahrzehnte zuvor bemerkt hatte. Darauf zu bestehen, dass eine kirchliche Beerdigung eine Art Blasphemie darstellen könne, war weniger eine Zurückweisung des Christentums als die unbeabsichtigte Anerkennung einer Verwandtschaft mit ihm. Immer mehr Christen waren im Jahr 1930 bereit, über eine verwirrende Möglichkeit nachzudenken: dass die Bolschewiki(4), Vertreter einer Sache, die in ihren Ansprüchen ebenso universell wie kompromisslos in ihren Prinzipien war, womöglich die Stoßtrupps einer »Gegenkirche« waren.[22] Wie Gregor VII. hatten sie die Überheblichkeit eines Kaisers in den Winterschnee getrampelt; wie Innozenz III. hatten sie die reaktionären Kräfte mit Feuer und Inquisition bekämpft; wie Luther hatten sie Hohn und Spott über die Auswüchse priesterlichen Aberglaubens ausgegossen; wie Winstanley hatten sie die Erde zum Besitz aller erklärt und grimmige Strafen über diejenigen verhängt, die diese Meinung nicht teilten.

Tausend Jahre lang hatte die lateinische Christenheit das klare Ziel gehabt, eine Neugeburt der ganze Welt zu erwirken: die Welt in den Wassern der reformatio zu taufen. Wiederholt hatte dieser Ehrgeiz Revolutionen in Europa angestoßen; wiederholt hatte er über Länder, die von völlig anderen Denkgewohnheiten geprägt waren, Verderben gebracht. Der mit den Lehren eines deutschen Wirtschaftswissenschaftlers bewaffnete Lenin(9) war nicht weniger das Verderben der russischen Orthodoxie(4), als Cortés es für die aztekischen Götter gewesen war. Dass die einst christliche Tradition missionarischen Eifers nun die Weiterentwicklung des Christentums selbst in ihr Gegenteil verkehren könnte, war eine Möglichkeit, die den meisten Christen zu grausam erschien, als dass sie sie auch nur in Betracht gezogen hätten – die scharfsinnigsten unter ihnen verstanden sie jedoch sehr wohl. Die Gottlosigkeit der Sowjetunion(2) war weniger eine Ablehnung der Kirche als vielmehr ihre dunkle, tödliche Parodie: »Die atheistische Propaganda(8) des Bolschewismus ist Ausdruck eines neuen religiösen Glaubens.«[23]

Der Traum von einer neuen, auf den Ruinen der alten Ordnung aufgebauten Ordnung; einer Herrschaft der Heiligen, die tausend Jahre währen würde; von einem Tag des Gerichts, wenn die Ungerechten von den Gerechten abgesondert und in einen Feuersee verbannt würden: Das alles hatte seit den frühesten Tagen der Kirche immer wieder die Vorstellungen der Gläubigen heimgesucht. Christliche Autoritäten, in Sorge darüber, wohin solche Sehnsüchte führen konnten, waren immer bestrebt gewesen, sie im Zaum zu halten, doch hatten die entscheidenden Elemente der ersehnten Apokalypse in einem fortwährenden Prozess des Verschwimmens und der Verbindung von Konturen immer wieder neue Züge angenommen. Jetzt jedoch, in Deutschland(27), fingen sie an zu metastasieren. Nicht alle Paramilitärs in Berlin(7) waren Kommunisten(9). Es gab auf den Straßen erbitterte Rivalitäten. Als Frau Salm(4) eine letzte verzweifelte Bitte äußerte, brauchte sie nur den Namen ihres Untermieters zu sagen, und schon war ihr die Aufmerksamkeit der gesamten Hinterzimmerversammlung sicher. Die Stimmung schlug plötzlich um. Einige Männer sprangen auf. Sie stürzten aus der Kneipe und eilten mit Frau Salm zu ihrer Wohnung zurück. Wenige Tage zuvor hatte eine kommunistische Tageszeitung eine unmissverständliche Parole ausgegeben. Als in jener Nacht drei Paramilitärs in der Küche von Frau Salms Wohnung standen und darauf warteten, dass sie die Kuhglocke läutete, mit der sie(5) üblicherweise Besucher ankündigte, bereiteten sich die Männer darauf vor, dem Schlachtruf der Zeitung Folge zu leisten: »Schlagt die Faschisten(1), wo ihr sie trefft!«[24]

Der Name leitete sich von den glorreichen Tagen des antiken Rom ab. Die fasces, ein Rutenbündel, in dem eine Axt eingebunden war, hatte der einem gewählten Amtsträger zugewiesenen Garde als Symbol ihrer Autorität gedient. Nicht jeder Amtsträger in der römischen Geschichte war allerdings notwendigerweise gewählt worden. Krisenzeiten hatten außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Nach seinem Sieg über Pompeius war Julius Caesar(7) zum dictator ernannt worden: ein Amt, das es ihm erlaubte, die alleinige Kontrolle über den Staat auszuüben. Als Nietzsche(11) vorhersagte, dass eine gewaltige Umwälzung bevorstand, eine Vernichtung der kleinmütigen christlichen Lehren von Gleichheit und Mitgefühl, hatte er auch angekündigt, dass jene, welche die Revolution anführten, »Erfinder von Bildern und Gespenstern werden in ihren Feindschaften«.[25] Die Zeit gab ihm Recht. Die fasces wurden zum Kennzeichen einer strahlend erfolgreichen Bewegung.

Im Jahr 1930 wurde Italien(21) – wie zwei Jahrtausende zuvor – von einem Diktator regiert. Benito Mussolini(1), ehemaliger Sozialist, dessen Nietzsche(12)-Lektüre ihn gegen Ende des Ersten Weltkriegs dazu gebracht hatte, von einer neuen Menschenrasse zu träumen, einer Elite, die eines faschistischen(2) Staates würdig war, präsentierte sich sowohl als Caesar wie als Antlitz einer glänzenden Zukunft. Aus der Verschmelzung von Antike und Moderne, vermischt durch das weißglühende Genie seiner Führerschaft, würde ein neues Italien hervorgehen. Ob er die dicht gedrängten Reihen seiner Anhänger mit einem römischen Salut grüßte oder ein Flugzeug steuerte – immer präsentierte sich Mussolini in Posen, die ganz bewusst den gesamten Zeitraum der christlichen Geschichte ausklammerten. Obwohl er in einem so tief katholischen Land wie Italien kaum eine andere Wahl hatte, als der Kirche ein gewisses Ausmaß an Eigenständigkeit zuzugestehen, zielte er letztlich darauf ab, sich die Kirche vollständig zu unterwerfen, sie zur Magd des faschistischen(3) Staates zu machen. Mussolinis(2) lautstärkste Anhänger(22) berauschten sich ganz unverhohlen an diesem Ziel. »Jawohl, wir sind totalitär! Wir wollen es sein vom Morgen bis zum Abend, ohne abweichende Gedanken.«[26]

Auch in Berlin(8) gab es solche Männer(28). Die Sturmtruppen einer Bewegung, die gleichzeitig an den Rassismus und an die Unterordnung aller persönlicher Interessen unter ein gemeinsames Gut glaubten, nannten sich Nationalsozialisten(1). Ihre Gegner bezeichneten sie in Spott auf ihre Anmaßung als Nazis. Aber darin zeigte sich nur ihre Furcht. Die Nationalsozialisten forderten den Hass ihrer Feinde geradezu heraus. Der Hass eines Feindes war etwas Positives: der Amboss, auf dem ein neues Deutschland(29) geschmiedet werden sollte. »Nicht Mitleid also, sondern nur Tapferkeit und Härte retten das Leben, weil Krieg eben der ewige Charakter des Lebens ist.«[27] Wie in Italien, so kombinierte auch in Deutschland(30) der Faschismus(4) den Glanz und die Brutalität der Antike mit jenen der modernen Welt. Es gab in dieser Zukunftsvision keinen Platz für die quengelnde Schwäche des Christentums. Die blonde Bestie musste befreit, aus ihrer Klausur herausgeholt werden. Eine neue Zeit war angebrochen.

Adolf Hitler(1), der »Führer« der Nazis(2), war kein Intellektueller wie Mussolini(3), aber das hatte er auch nicht nötig. Im Lauf eines Lebens, zu dem eine Phase in einem Obdachlosenheim gehört hatte, eine Verwundung in der Schlacht an der Somme(7) und ein Gefängnisaufenthalt wegen eines Putschversuchs(31), fühlte er sich nun von einer geheimnisvollen Vorsehung zur Verwandlung der Welt berufen. Zwar hatte er nur lückenhafte Kenntnisse von Philosophie und Wissenschaften, doch einer Sache war er sich völlig sicher: Das Schicksal war im Blut eines Volkes festgeschrieben. Es gab keine für alle Menschen gültige Moral. Ein Russe war kein Deutscher. Jedes Volk war anders, und ein Volk, das sich weigerte, auf die Diktate seiner Seele zu hören, war zum Aussterben verurteilt. »Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt«, so die Warnung Hitlers, »ist Spreu.«[28]

Einst, in den glücklichen Tagen seiner Kindheit, war das deutsche Volk(32) eins gewesen mit den Wäldern, in denen es lebte. Es hatte gelebt wie ein Baum: nicht nur als Summe seiner Äste, seiner Zweige und seiner Blätter, sondern als lebendige, organische Ganzheit. Doch dann war die Erde, aus der die nordische Rasse entsprungen war, verschmutzt worden. Ihr Lebenssaft wurde vergiftet. Ihre Glieder wurden zurückgeschnitten. Und nun half nur noch ein chirurgischer Eingriff. Hitlers(2) Strategien wurzelten zwar einerseits in einer Vorstellung von Rasse als etwas urtümlich Vorgegebenem, doch ebenso sehr in den kalten Formulierungen der Evolutionstheorie. Die Maßnahmen, welche die Reinheit des deutschen Volkes zurückbringen sollten, fanden sich sowohl in alten Chroniken wie in darwinistischen Lehrbüchern vorformuliert. Jene zu eliminieren, die der Umsetzung eines solchen Programms im Wege standen, war kein Verbrechen, sondern Ausdruck von Verantwortung. »Affen trampeln Außenseiter als gemeinschaftsfremd tot.« Hitler zögerte nicht, daraus den logischen Schluss zu ziehen. »Was für Affen gilt, muss in erhöhtem Maße für die Menschen gelten.«[29] Genau wie jede andere Spezies war auch der Mensch dem Existenzkampf und der Notwendigkeit unterworfen, die Reinheit seiner Rasse zu bewahren. Das umzusetzen war keine Grausamkeit. Es war einfach der Lauf der Dinge.

Horst Wessel(1), der junge Mann, der seit drei Monaten als Untermieter bei Frau Salm(6) wohnte, war von diesem Programm nicht nur überzeugt – es hatte ihn regelrecht elektrisiert. Der Pfarrerssohn war schon in jungen Jahren ein »begeisterter Jünger Adolf Hitlers(3)« geworden.[30] Kräfte, die er sonst womöglich der Kirche zur Verfügung gestellt hätte, weihte er jetzt dem Nationalsozialismus(3). Allein im Jahr 1929 hatte er auf fast sechzig Zusammenkünften gepredigt. Und wie es vielleicht früher sein Vater getan hätte, indem er mit Kirchenliedern auf die Straße ging, hatte Horst Wessel eine Gruppe Musiker zusammengetrommelt und war mit ihnen durch kommunistische(10) Viertel gezogen. Eines der Lieder, das er für seine Gruppe geschrieben hatte – sein berühmtestes –, ließ als Märtyrer gestorbene Kameraden an der Seite der Lebenden marschieren. Es war daher kein Wunder, dass die Männer aufhorchten, als Frau Salm seinen Namen erwähnte. Wessel war jemand, den jede Kommunistengruppe(11), die etwas auf sich hielt, liebend gerne im Dunkeln erwischt hätte. Deshalb standen drei von ihnen am 14. Januar vor seiner Tür und warteten darauf, dass Frau Salm ihre Kuhglocke läutete.

Über ihre Absichten sollte später die Meinungen auseinandergehen. Vielleicht hatten sie ihn tatsächlich entsprechend ihrer Aussagen nur zusammenschlagen wollen. Vielleicht war der Kopfschuss tatsächlich ein Unfall gewesen. Wie auch immer – Wessel(2) wurde lebensgefährlich verletzt. Man brachte ihn in ein Krankenhaus, wo er fünf Wochen später starb. Was die Sache zusätzlich verkomplizierte, war die Identität seines Mörders: eines Mannes, der früher einmal Erna Jaenichens(3) Zuhälter gewesen war. Je intensivere Ermittlungen die Polizei anstellte, desto verwirrender wurden die Details. Eines war bei der gesamten unerfreulichen Geschichte jedoch völlig klar: Wessels(3) Begräbnis war dasjenige eines in einer Schlägerei getöteten Straßenkämpfers.

Doch Wessels Vorgesetzter in Berlin(9) sah das ganz anders. Joseph Goebbels(1) war wie Hitler(4) als Katholik(30) aufgewachsen. Zwar verachtete er das Christentum, doch war er sich nicht nur darüber im Klaren, dass es für viele Deutsche noch immer eine wichtige Rolle spielte, sondern er wusste auch, wie er es zum Vorteil seiner eigenen Bewegung einsetzen konnte. Als genialer Propagandist erkannte Goebbels einen Märtyrer, wenn er einen sah. In seiner Ansprache bei Wessels Begräbnis verkündete er – mit wirkungsvoll gebrochener Stimme –, der Tote würde wiederkehren. Ein Schauder lief durch die Menge. Einer aus der Trauergemeinde erinnerte sich später: »Und es ist, als ob Gott sich entschieden hätte, und seinen heiligen Atem über das offene Grab und die Fahnen geschickt und den Toten gesegnet und alle, die zu ihm gehören.«[31] Einen Monat später verglich Goebbels Wessel(4) ausdrücklich mit Christus. In den folgenden Jahren, als die Nationalsozialisten(4) von Straßenkämpfern zu Herrschern über das ganze Land aufstiegen, diente ihnen der ermordete Sturmführer weiterhin als Verkörperung eines Heiligen: der Anführer der toten Märtyrer. Die meisten Kirchenführer bissen sich – wohl wissend, dass es riskant sein konnte, die Nazis(5) wegen blasphemischem Kitsch zu kritisieren – auf die Zunge. Einige gaben diesem Kitsch jedoch auch ganz explizit ihr Imprimatur. Als Hitler 1933 Kanzler wurde, begingen protestantische Kirchen(62) in ganz Deutschland(33) den Reformationstag mit dem Absingen von Wessels Schlachtlied. Im Berliner Dom äffte ein Pastor schamlos Goebbels nach. Wessel(5), so verkündete er in seiner Predigt, sei gestorben, wie Jesus gestorben war. Und als sei es damit noch nicht genug, fügte er hinzu, Hitler(5) sei »ein von Gott gesandter Mann«.[32]

Wenn Christen allerdings meinten, sie könnten sich damit bei der Naziführung einschmeicheln oder sie gar beeinflussen, dann machten sie sich etwas vor. Das Christentum zu parodieren war kein Zeichen des Respekts, sondern des schamlosen Ausschlachtens. In den Wäldern verbrannten strebsame junge Nationalsozialisten(6) Bibeln in großen Feuern, und anschließend – »um zu beweisen, wie sehr wir sämtliche Kulte der Welt außer der Ideologie Hitlers(6) verachten«[33] – sangen sie das Horst-Wessel(6)-Lied. Am Rhein versammelten sich in den Amphitheatern von einstmals römischen Städten nachts junge Mädchen, um Wessels(7) Geburtstag mit Tänzen und Gebeten zu seinem Geist zu begehen, »auf dass sie dem Führer viele Kinder gebären würden«.[34] Der Pfarrerssohn war nicht mehr nur ein Heiliger, er war zu einem Gott geworden.

Als Bonifatius(18) zwölfhundert Jahre zuvor über den Rhein(2) gekommen war, hatte er ähnliche Dinge beobachtet. Er war entsetzt von den heidnischen Bräuchen in einem angeblich christlichen Land, und einen großen Teil seines Lebens hatte er ihrer Bekämpfung geweiht. Nun aber standen seine Erben einer noch viel ernsteren Bedrohung gegenüber. Die Missionare im Germanien des 8. Jahrhunderts hatten sich auf die Hilfe der fränkischen Monarchie verlassen können. Von den Nazis(7) kam keine derartige Unterstützung. Hitler(7), der 1928 noch lautstark verkündet hatte, seine Bewegung sei christlich, hatte zwischenzeitlich eine lebhafte Feindseligkeit gegenüber dem Christentum entwickelt. Dessen Moral, die christliche Sorge um die Schwachen, hatte er schon immer als feige und beschämend empfunden. Nun, da er an der Macht war, sah er im Anspruch der Kirche, einen vom Staat unterschiedenen Bereich zu bilden – diesem ehrwürdigen Erbe der Revolution Gregors –, eine akute Herausforderung der totalitären Mission des Nationalsozialismus.

Obwohl Hitler(8) wie Mussolini zunächst bereit war, vorsichtig aufzutreten, ja sogar im Jahr 1933 ein Konkordat mit dem Papst zu unterzeichnen, hatte er nicht die Absicht, diese Strategie auf Dauer zu verfolgen. Die christliche Moral hatte jede Menge grotesker Auswüchse: Säufer, die sich hemmungslos fortpflanzten, während gestandene deutsche Kameraden nur mit Mühe Essen auf den Tisch der Familie brachten; geisteskranke Patienten, die saubere Bettwäsche genossen, während gesunde Kinder zu dritt oder viert in einem Bett schlafen mussten; Krüppel, die mit Geld und Aufmerksamkeit überschüttet wurden, die eigentlich den Starken und Leistungsfähigen zustanden. Die Existenzberechtigung des Nationalsozialismus(8) bestand genau darin, derartigen Schwachsinn auszurotten. Wenn die neue Ordnung ein Jahrtausend lang vorhalten sollte, dann brauchte man eine neue Sorte Menschen. Erforderlich waren Übermenschen.

1937 war Hitler(9) so weit, dass er die endgültige Abschaffung des Christentums ins Auge fasste. Die Einwände führender Kirchenmänner gegen die vom Staat angeordnete Sterilisierung körperlich und geistig Behinderter brachten ihn in Rage. Die eigentlich von ihm bevorzugte Lösung, die er im Fall eines Krieges in vollem Umfang umzusetzen gedachte, bestand in einer groß angelegten Euthanasie. Das deutsche Volk musste unbedingt dazu gebracht werden, diese Strategie zu akzeptieren, die sowohl durch Beispiele aus der Antike als auch durch modernste wissenschaftliche Ergebnisse gestützt wurde. Natürlich konnte man nicht darauf hoffen, dass die Deutschen ihr Schicksal als Rasse erfüllen würden, während sie noch von dem Krebsübel Mitleid zerfressen wurden.

In der SS, der paramilitärischen Eliteorganisation, die als effizientestes Werkzeug von Hitlers(10) Willen diente, empfand man die Zerschlagung des Christentums als besondere Berufung. Heinrich Himmler(1), der Führer der SS, arbeitete an einem Fünfzigjahresplan, dessen Umsetzung die Religion endgültig ausrotten würde. Andernfalls würde das Christentum womöglich erneut zum Ruin der blonden Bestie werden. Es war einfach Irrsinn, wenn die Deutschen sich auch weiterhin einer Politik widersetzten, die doch so offensichtlich an ihrer rassischen Gesundheit interessiert war. »Nachdem den Völkern gepredigt worden war, Gott sei aus Mitleid mit den Schwachen, Kranken, Sündenbeladenen und Erlösungsbedürftigen am Kreuze gestorben, konnte die widernatürliche Mitleidslehre und eine verkehrte Humanität die Erhaltung des Erbkranken fordern.«[35] Die Wissenschaft hatte schlüssig und endgültig bewiesen: Die Starken hatten die Pflicht und Aufgabe, die Schwachen zu eliminieren.

Wenn allerdings das Christentum – wie Hitler(11) glaubte – »der schwerste Schlag« war, »der die Menschheit jemals getroffen hat«,[36] dann reichte es nicht, es einfach nur auszumerzen. Eine Religion, die so verderblich war, dass sie es geschafft hatte, sowohl das römische Imperium zu vernichten als auch den Bolschewismus hervorzubringen, musste ja irgendwoher gekommen sein. Welche Infektionsquelle konnte eine solche Seuche hervorgebracht haben? Offenkundig gab es für einen Nationalsozialisten(9) keine dringlichere Frage. Nur etwas abgrundtief Schädliches konnte dafür verantwortlich sein. Des Rätsels Lösung lag – wenig überraschend – in etwas, das Hitler schon lange als einen Bazillus identifiziert hatte, der – wenn die Zukunft des deutschen Volkes auf so stabilen Füßen stehen sollte, dass sie tausend Jahre währen konnte – sowieso vernichtet werden musste.

Oder, wie Goebbels(2) sinnierend feststellte: »Man darf in diesen Dingen keine Sentimentalität obwalten lassen.«[37]

Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden

Mehr als vier Jahre lang befand sich Großbritannien(13) schon im Krieg gegen Nazideutschland. Während all dieser Zeit war Oxford(5) von Bombern weitgehend verschont geblieben. Trotzdem war an Entspannung nicht zu denken. Deshalb meldete sich am Abend des 17. Januar 1944 der Inhaber des Rawlinson and Bosworth-Lehrstuhls für Angelsächsisch bei der Bezirksleitstelle im Norden der Stadt. John Ronald Reuel Tolkien(1) diente schon seit 1941 als Luftschutzwart. Er hatte nicht besonders viel zu tun. In jener Nacht war er lange aufgeblieben und hatte noch mit einem Luftschutzkollegen gesprochen. Cecil Roth(1) war wie Tolkien Professor an der Universität, ein jüdischer Historiker, der neben vielen anderen Büchern auch eine Biographie über Menasse ben Israel verfasst hatte.

Die beiden Männer verstanden sich gut, und erst nach Mitternacht zogen sie sich schließlich in ihre Quartiere zurück. Roth(2), der wusste, dass Tolkien(2) ein frommer Katholik war, und bemerkt hatte, dass er keine Uhr hatte, bestand darauf, ihm seine eigene zu leihen, damit sein Kollege die Frühmesse nicht verpasste. Dann klopfte er kurz vor sieben an Tolkiens Tür, um zu schauen, ob er wach war. Tolkien schlief nicht mehr; er hatte wach im Bett gelegen und sich gefragt, ob er noch Zeit hatte, zur Kirche zu gehen. »Aber das Eingreifen dieses freundlichen Juden und sein trauriger Blick zu dem Rosenkranz an meinem Bett gaben den Ausschlag.« Ein Licht an dunklem Ort, wo alle anderen Lichter erloschen sind – so wirkte Roths(3) Freundlichkeit auf Tolkien. Er war so bewegt, dass er darin sogar etwas vom Paradies erkannte. Am selben Tag schrieb er: »Es war wie ein kurzer Ausblick in eine Welt vor dem Sündenfall.«[38]

Für Tolkien(3) war das nicht nur eine Redewendung. Jede Geschichte, so seine Überzeugung, handelte letztlich vom Sündenfall. Wie Augustinus interpretierte er die gesamte Menschheitsgeschichte als Dokument menschlicher Schuld. Die Welt, die in den angelsächsischen Texten, die er so liebte, als »Mittelerde(2)« bezeichnet wurde, war noch immer, was sie seit jeher gewesen war: das große Schlachtfeld zwischen Gut und Böse. 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Krieges, hatte Tolkien mit der Arbeit an einem Roman begonnen, der ein Spiegel dieses immerwährenden christlichen Themas sein sollte. Der Herr der Ringe war tief in der Kultur des frühmittelalterlichen Christentums verwurzelt, der Tolkien sein gesamtes Gelehrtenleben gewidmet hatte.

Sein Mittelerde(3) hätten Beda oder Bonifatius allerdings wohl kaum wiedererkannt. Die vertrauten Umrisse von Geschichte und Geographie fehlten; es fehlte das Christentum; es fehlte Gott. Es gab Menschen, aber auch andere Wesen. Elben und Zwerge, Zauberer und wandelnde Bäume: sie alle bevölkerten die Seiten von Tolkiens(4) Roman. Außerdem kamen Halblinge vor, Hobbits, und wenn diese – mit ihren großen, behaarten Füßen und ihren ulkigen Namen – so wirkten, als seien sie einer Geschichte für Kinder entsprungen, dann entsprach das tatsächlich ihrer Herkunft. Allerdings konnte Tolkien sich nicht damit zufriedengeben, ein Kinderbuch zu schreiben. Seine Ansprüche waren dafür zu hoch gespannt. »Die Stadt wird umringt«, so hatte Augustinus geschrieben(22), »in die Engen der Trübsal gedrängt, gepresst und eingeschlossen werden und doch ihren Heerdienst nicht verlassen.«[39] An dieser Vision des Abwehrkampfes gegen das Böse und der Kosten, die damit verbunden waren, hatten sich einst, in den frühen Jahren des Christentums, Könige und Heilige orientiert, und Tolkien fühlte sich davon sehr bewegt. Er bediente sich ihrer Sprachstile, bezog sich auf ihre literarischen Werke, mischte Episoden aus ihren Geschichtswerken, so dass sie zusammengenommen so etwas wie die Umrisse eines Traums annahmen. Es ging ihm darum, eine Phantasiegeschichte zu erzählen, die – in einem Gott wohlgefälligen Sinn – Wahrheit vermittelte. Er hoffte, dass andere, wenn sie Der Herr der Ringe lasen, ebenfalls Wahrheit darin finden würden.

Natürlich glaubte Tolkien(5) als Katholik(31) daran, dass die gesamte Menschheitsgeschichte Zeugnis von Christus ablegte. Er hielt es daher nicht für nötig, sich dafür zu entschuldigen, dass er diese »Selbstkenntnis« und »alle Kritik am Leben, soweit er es kennt, unter einer mythischen und legendären Einkleidung verhüllen lässt«.[40] Seine Erfindung beruhte allerdings nicht ausschließlich auf alten Gesängen. Tolkien wusste, was es bedeutete, ins Herz der Dunkelheit seines eigenen Jahrhunderts zu blicken. Als junger Mann hatte er im Schlamm der Somme(8) gestanden; im gegnerischen Lager befanden sich Otto Dix und Adolf Hitler. Im Jahr 1944 verfolgten ihn Erinnerungen an das Gemetzel noch immer. »Er wand seine Hände aus dem Schlamm los und sprang mit einem Aufschrei zurück. ›Da liegen Tote drin, tote Gesichter im Wasser‹, rief er entsetzt. ›Tote Gesichter!‹«[41] Diese entsetzliche Vision von Leichen, die im Schlamm eines Schlachtfelds versunken sind und für alle Ewigkeit dort dahintreiben, vermischte das Grauen des Maschinenzeitalters mit mittelalterlichen Visionen der Verdammten. Als Tolkien Dämonen beschrieb, die auf riesigen Vögeln ohne Federn reiten, oder tödliche Kriegsmaschinen auffahren ließ, tat er das als jemand, der Luftkämpfe am Himmel über den Schützengräben miterlebt hatte und Panzer, die sich über Niemandsland voranwühlten. Sauron(1), der dunkle Herrscher, dessen Sinnen und Trachten ganz Mittelerde(4) mit Finsternis bedrohte, herrschte im Land Mordor(1): gleichzeitig eine Vision der Hölle, wie Gregor der Große sie wohl sicher wiedererkannt hätte, und ein ausgedehnter militärisch-industrieller Komplex, schwarz von Hochöfen, Rüstungsfabriken und Abraumhalden. Und es war im gesamten Herrn der Ringe die besinnungslose Schändung von Bäumen und Blumen, die sich während des Ersten Weltkriegs wie eine Narbe durch Frankreich und Belgien gezogen hatte, die als untrügliches Kennzeichen von Saurons(2) Herrschaft diente.

Und nun, als Tolkien(6) an seinem Roman weiterarbeitete, gab es neues Elend, neue Schrecken, welche die Welt überschatteten. Dass die Geschichte einen seit Äonen tobenden Krieg zwischen Licht und Finsternis bezeugte und von jenen, die auf der Seite des Guten standen, eine uneingeschränkte Wachsamkeit gegen das Böse verlangte – diese Überzeugung teilte Tolkien mit den Nazis(10). Zugegeben: Wenn sie die Mission des Nationalsozialismus formulierten, dann benutzten seine Führer dergleichen Begriffe nicht. Sie bedienten sich lieber der Sprache des Darwinismus. »Eine kühle Wirklichkeitslehre schärfster wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer gedanklichen Ausprägung.«[42] So hatte Hitler(12) den Nationalsozialismus definiert, bevor er Polen überfiel und Europa in einen zweiten entsetzlichen Krieg stürzte. Die von seiner Kriegsmaschinerie errungenen Siege demonstrierten zwar den Rang seines Volkes als einer veritablen Herrenrasse, doch sie lieferten ihm darüber hinaus etwas noch Wertvolleres: die Gelegenheit, seine Untertanen vor einem bedrohlichen Übel ohnegleichen zu bewahren.

Wenn Wissenschaftler für den Nationalsozialismus(11) Rassenhierarchien definierten, dann zögerten sie, die Juden(186) überhaupt als Rasse anzusehen. Sie waren eine »Anti-Rasse«: ein Virus, ein Bazillus. Sie auszurotten war kein größeres Verbrechen, als wenn Ärzte eine Typhusepidemie bekämpften. Am 9. November 1938, als die große, von der Oppenheim-Familie gestiftete Synagoge von Köln(11) zerstört wurde, war sie nur eine von einer Vielzahl jüdischer Immobilien, die gleichzeitig in Brand gesetzt wurden. Allerdings reichte es nicht, lediglich die Schlupfwinkel des Ungeziefers auszuräuchern. Das Ungeziefer selbst musste vernichtet werden. Dass die Schädlinge in der Form von Männern, Frauen und Kindern auftraten, machte die Pflicht, sie zu vernichten, nicht weniger dringlich. Nur Menschen, die von dem verhängnisvollen Humanismus des Christentums infiziert waren – eines Kultes, der selbstredend »von Juden erdacht, von Juden verbreitet« worden war –,[43] konnten das anders sehen. Hitler(13) stellte jedoch seine Kampagne gegen die Juden(187) zwar als eine Sache der Volksgesundheit dar, doch brachte er sie häufig gleichzeitig in Verbindung mit einem anderen, einem zutiefst christlichen Motiv. Damit die Welt gerettet werden konnte, musste sie zuerst gereinigt werden. Ein Volk, das vom Verderben bedroht war, bedurfte der Erlösung. Diejenigen, die auf der Seite der Engel standen, mussten vor den pestverseuchten Handlangern der Hölle bewahrt werden.

Hitlers(14) Eroberungen hatten zur Folge, dass die schleimigen Tentakel seines Hasses weit über die deutschen Grenzen hinausreichten. Schon vor dem Krieg hatten sie sich ihren Weg in Tolkiens(7) Studierzimmer geschlängelt. 1938 hatte ein deutscher Verleger an ihn geschrieben, der ihn veröffentlichen wollte, und fragte an, ob er jüdischer Abkunft sei. Tolkien schrieb: »Ich kann nur erwidern, dass ich es bedaure, offenbar keine Vorfahren aus diesem begabten Volke zu haben.«[44] Dass der Rassismus der Nazis(12) jeglicher wissenschaftlichen Basis entbehrte, stand für ihn fest; sein eigentlicher Einwand hingegen war christlicher Natur. Weil er sich in der Literatur des Mittelalters bestens auskannte, war ihm selbstverständlich die Rolle vollauf bewusst, die seine eigene Kirche bei der Stereotypisierung und Verfolgung der Juden(188) gespielt hatte. In seiner Phantasie sah er sie allerdings nicht als die hakennasigen Vampire mittelalterlicher Verleumdungspropaganda, sondern vielmehr als »eine heilige Rasse tapferer Männer, das Volk Israel, die rechtmäßigen Kinder Gottes«.[45]

Diese Zeilen aus einem angelsächsischen Gedicht über den Durchzug durchs Rote Meer bedeuteten Tolkien(8) viel, denn er hatte sie selbst übersetzt. In ihnen fanden sich Anklänge an dasselbe Identifikationsgefühl mit dem Exodus, das auch Beda Venerabilis inspiriert hatte. Mose(21) wurde in dem Gedicht als ein mächtiger König dargestellt, »ein Fürst der Menschen mit einer marschierenden Kompanie«.[46] Als Tolkien an Der Herr der Ringe arbeitete, während die Nazis(13) ihr Reich vom Atlantik bis Russland(4) ausdehnten, bediente er sich für sein eigenes Epos umfangreich bei dieser Art von Dichtung. Im Mittelpunkt der Geschichte stand die Rückkehr eines Königs: dem Erben eines seit Langem aufgegebenen Throns namens Aragorn(1). Wenn die Heere Mordors(2) satanisch waren wie die des Pharao, dann hatte Aragorn – der aus dem Exil zurückkehrte, um sein Volk vor der Sklaverei zu bewahren – mehr als nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Mose(22). Was für Bedas Kloster gegolten hatte, traf auch auf Tolkiens Studierzimmer zu: Ein Held konnte gleichzeitig christlich und jüdisch sein.

Das war keine Verschrobenheit aus dem Elfenbeinturm. In ganz Europa wurde die Bereitschaft von Christen, sich mit den Juden(189) zu identifizieren, zum Maßstab ihrer Reaktion auf die größte Katastrophe in der Geschichte der Juden. Als treuer Katholik tat Tolkien(9) nichts, was die Päpste nicht auch getan hätten. Im September 1938 hatte der kränkelnde Pius XI.(1) sich selbst geistigerweise zu einem Juden(190) erklärt. Ein Jahr später, als Polen besiegt und von den deutschen Streitkräften einer unsäglich brutalen Besetzung unterworfen worden war, hatte sein Nachfolger seinen ersten öffentlichen Brief an die Gläubigen herausgebracht. Pius XII.(1), der das Pflügen blutgetränkter Ackerfurchen mit Schwertern beklagte, zitierte pointiert Paulus: »Es gibt weder Jude noch Grieche.« Das war seit den frühesten Tagen der Kirche immer eine Formulierung gewesen, die besonders dazu gedient hatte, Christianismos von Ioudaismos, das Christentum vom Judentum abzugrenzen. Zwischen Christen, welche die Kirche als Mutter aller Nationen rühmten, und Juden(191), die von der Perspektive entsetzt waren, ihre Besonderheit könne sich in der gewaltigen Masse der Menschheit auflösen, war die Trennungslinie über lange Zeit hinweg überdeutlich gewesen.

Doch die Nazis(14) sahen das ganz anders. Als Pius XII.(2) die Genesis zitierte, um diejenigen zurechtzuweisen, die vergaßen, dass die Menschheit einen gemeinsamen Ursprung hatte, und dass sämtliche Völker der Welt die Pflicht hatten, sich gegeneinander im Sinn der Nächstenliebe zu verhalten, kam eine schmähende Antwort von nationalsozialistischen Theoretikern. Für sie war es offenbar eine Selbstverständlichkeit, dass eine universale Moral ein Schwindel sein musste, den die Juden(192) ausgeheckt hatten. »Ist es noch erträglich, wenn unsere Kinder lernen müssen, dass Juden und Neger ebenso wie Germanen und Romanen dem jüdischen Mythus gemäß von Adam und Eva abstammen?«[47] Die Lehre, alle Menschen seien eins in Christus, war nicht nur schädlich, sondern stand in empörendem Widerspruch zu den Grundlagen der Wissenschaft. Über Jahrhunderte hinweg war die nordische Rasse davon infiziert gewesen. Die Folge war eine Verstümmelung dessen, was von Rechts wegen hätte unversehrt bleiben müssen: eine Kastration des Verstandes. »Als Vater dieses Weges ist der Jude Paulus(81) anzusehen, denn er legte in konsequenter Weise die Richtlinien zur Zerstörung der blutlich gebundenen Weltanschauung fest.«[48]

Christen, die mit einem Regime konfrontiert waren, das sich der Ablehnung der fundamentalsten Inhalte ihres Glaubens verschrieben hatte – der Einheit des Menschengeschlechts, der Verpflichtung, sich der Schwachen und Leidenden anzunehmen –, mussten sich entscheiden. War die Kirche, wie ein Pastor namens Dietrich Bonhoeffer(1) es bereits 1933 formuliert hatte, »den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören«[49] – oder nicht? Bonhoeffers eigene Antwort auf diese Frage bestand darin, dass er sich später an einer Verschwörung zu einem Attentat auf Hitler(15) beteiligte und in einem Konzentrationslager durch Erhängen hingerichtet wurde(2). Es gab auch viele andere Christen, welche die Prüfung bestanden. Einige äußerten sich öffentlich. Andere taten heimlich und privat alles, was in ihrer Macht stand, um ihren jüdischen Nachbarn Unterschlupf zu bieten, in Kellern und auf Dachböden, immer im Bewusstsein, dass sie damit ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.

Kirchenführer waren zerrissen zwischen dem Wunsch, mit prophetischer Stimme gegen Verbrechen zu predigen, die ihre Fassungskraft nahezu überstiegen; und der Furcht, dass sie damit womöglich die Zukunft des Christentums überhaupt aufs Spiel setzten. Sie bewegten sich auf einem unerträglich schmalen Grat. »Die Menschen verurteilen die Tatsache, dass der Papst sich nicht äußert«, so klagte Pius (3) im privaten Kreis im Dezember 1942. »Aber der Papst kann nicht sprechen. Würde er sprechen, würde dies die Dinge noch schlimmer machen.«[50] Vielleicht hätte er, wie es ihm seine Kritiker später vorhielten, trotzdem Stellung beziehen sollen. Pius war sich jedoch über die Grenzen seiner Macht im Klaren. Wenn er die Dinge zu weit trieb, dann setzte er womöglich die Hilfsmaßnahmen aufs Spiel, die er(4) umsetzen konnte. Die Juden(193) selbst verstanden das durchaus. In der päpstlichen Sommerresidenz fanden fünfhundert Menschen Unterschlupf. In Ungarn(13) stellten Priester massenhaft Taufbescheinigungen aus – im Wissen darum, dass sie dafür erschossen werden konnten. In Rumänien(1) baten päpstliche Diplomaten die Regierung händeringend, die Juden(194) ihres Landes nicht zu deportieren – und die Züge wurden prompt wegen »schlechten Wetters« gestoppt. In der SS bezeichnete man den Papst höhnisch als Rabbi.

Doch es gab auch viele Christen, die sich vom Bösen verführen ließen und ins Reich der Schatten überwechselten. Wenn die Nazis(15) die Juden(195) als eine Pest bezeichneten, als gleichzeitig rückständig und oberschlau, voller Ungeziefer und schleimig glaubwürdig, dann konstruierten sie ihre Propaganda selbstverständlich nicht aus dem Nichts. Die Mythen, derer sie sich bedienten, waren christliche Mythen. Biologen, die mit rationalen wissenschaftlichen Formulierungen Juden(196) als Virus identifizierten, bezogen sich daneben auch auf Stereotypen, die letztlich bis auf die Evangelien zurückgingen. »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«[51] Dass die Juden(197) bereitwillig die Verantwortung für den Tod Christi auf sich genommen hätten, war eine Lehre, die im Lauf der Geschichte des Christentums immer wieder dazu geführt hatte, dass sie als Handlanger des Teufels verdammt wurden.

Achthundert Jahre, nachdem ein Papst erstmals die Behauptung als Verleumdung verurteilt hatte, Juden würden das Blut von Christenkindern in ihr rituelles Brot mischen, gab es immer noch Bischöfe in Polen(2), die zögerten, sich davon zu distanzieren. In der Slowakei(1), wo Juden(198) zuerst aus der Hauptstadt vertrieben und dann aus dem ganzen Land deportiert wurden, stand an der Spitze der von den Deutschen eingesetzten Marionettenregierung ein Priester. Auch andernorts, von Frankreich bis zum Balkan und sogar im Vatikan selbst, ließen sich Katholiken häufig von ihrem Kommunistenhass dazu verleiten, in den Nazis(16) das kleinere Übel zu sehen. Sogar ein Bischof konnte gelegentlich dazu gebracht werden, sich schlangenzüngig über die Kampagne zur Ausrottung der Juden(199) zu äußern. Als der Erzbischof von Zagreb(1) an den kroatischen Innenminister schrieb, um gegen die Deportation der Juden(200) zu protestieren, gestand er offen zu, dass es eine »Judenfrage« gebe und dass sich die Juden(201) selbst tatsächlich – wenn auch auf nicht näher bestimmte Weise –gewisser »Verbrechen« schuldig gemacht hatten.[52] Über dreißigtausend Juden(202) wurden letztlich ermordet: drei Viertel der gesamten jüdischen Bevölkerung Kroatiens.

Doch nirgends war der Schatten bedrohlicher inthronisiert als in Deutschland(34). Hier standen die Kirchen am schlimmsten unter der Knechtschaft eines Gegners, der sich ihre vollständige Korrumpierung auf die Fahnen geschrieben hatte. Nicht nur das mittelalterliche Christentum lieferte Wasser auf die Mühlen der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Für die Reformation galt dasselbe. Luthers Verachtung für den jüdischen Glauben, der angeblich durch Heuchelei und Gesetzeshörigkeit geprägt war, hatte noch immer viele Erben. Diese, berauscht vom Pomp des Nationalsozialismus(17), konnten durchaus den Eindruck gewinnen, dass ihr eigener Glaube im Vergleich dazu schrecklich blass wirkte. Die von Fahnen und Adlern übersäten Paradeplätze vermittelten offensichtlich ein Gemeinschaftsgefühl, von dem die Christen in ihren staubigen Kirchenbänken nur träumen, das sie aber selbst nicht mehr vermitteln konnten. Vielleicht stimmte es ja, was Hitler(16) selbst glaubte: dass Jesus(28) überhaupt kein Jude, sondern nordischer Herkunft, blond und blauäugig, gewesen war. Diese These hatte für viele Protestanten(63) in Deutschland eine verlockende Perspektive eröffnet: Vielleicht konnte man ja eine neue, nationalsozialistische Form des Christentums schmieden. 1939 kamen auf der Wartburg(6), wo Luther seine große Übersetzung des Neuen Testaments fertiggestellt hatte, bedeutende Wissenschaftler zusammen, um die Häresie des Marcion wiederzubeleben. Der Hauptreferent schwor die Teilnehmer auf eine zweite Reformation ein. Protestanten(64) wurden aufgefordert, das Christentum von jeglichem Makel des Jüdischen(203) zu reinigen.

Damals, als die Welt am Vorabend des Krieges stand, schien völlig klar, woher der Wind wehte. Der Sieg des Nationalsozialismus(18) stand unmittelbar bevor. Diejenigen, die ihn unterstützten, würden reich belohnt werden. Christen konnten den rechten Augenblick abwarten, für sich behalten, was sie dachten, vielleicht die Kollateralschäden bedauern, dem hochgesteckten Endziel aber zustimmen. So jedenfalls sah das Denken vieler aus. Eine Kirche des Blutes – rassistisch und gespenstisch – zu zerstören, dazu würde Hitler(17) tatsächlich keinen Grund haben. Eine Christenheit, die sich der Herrschaft des Nationalsozialismus unterworfen hatte, würde Hitler mit einem ebenso mächtigen wie schrecklichen Handlanger versehen. Jene, die dazugehörten, würden in der Lage sein, Pläne für die Vernichtung von Millionen zu entwerfen, den Einsatz von Viehwaggons zu planen und den Erfolg ihrer Bemühungen zu feiern, während der Gestank verbrennender Leichen durch die Fenster wehte – und zu wissen, dass sie den Zielen Christi dienten.

»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«[53] Nietzsche(13), der auf seine Staatsangehörigkeit verzichtet, jeglichen Nationalismus verachtet und die Juden(204) als das bemerkenswerteste Volk der Geschichte gepriesen hatte, hatte davor gewarnt, welche Verwirrungen aus dem Tod Gottes erwachsen würden. Gut und Böse würden relativ werden. Moralvorstellungen würden haltlos dahintreiben. Es werde zu Taten massiver, entsetzlicher Gewalttätigkeit kommen. Selbst bekennende Anhänger Nietzsches konnten vor der Entdeckung zusammenzucken, was das konkret bedeutete. Otto Dix(12) bewunderte die Nationalsozialisten(19) ganz und gar nicht dafür, dass sie die Welt auf den Kopf stellten, sondern war von ihnen angewidert. Und sie stempelten ihn ihrerseits als »entartet« ab. Man kündigte ihm seine Dozentenstelle in Dresden(4) und verbot die Ausstellung seiner Gemälde. Die Bibel wurde zu seiner sichersten Inspirationsquelle. 1939 malte er die Zerstörung Sodoms(6). Dargestellt war ein Feuer, das eine Stadt vernichtete, die unverkennbar Dresden(5) war.

Das Bild erwies sich als prophetisch. Als sich das Kriegsglück gegen Deutschland(35) wendete, begannen britische und amerikanische Flugzeuge, Tod und Zerstörung über die Städte des Landes zu bringen. Im Juli 1943 hatte in einer Operation mit dem Codenamen Gomorrha ein Feuermeer einen großen Teil Hamburgs(1) verschlungen. In Großbritannien(14) brachte George Bell(1), ein eng mit Bonhoeffer(3) befreundeter Bischof, öffentlich seinen Protest zum Ausdruck. »Wenn es zulässig ist, Menschen dazu zu bewegen, dass sie sich nach Frieden sehnen, indem man sie leiden lässt – warum erlaubt man dann nicht Plünderung, Verbrennung, Folter, Mord, Vergewaltigung?«[54] Der Einwand wurde beiseitegewischt. In einem Krieg gegen einen so fürchterlichen Feind wie Hitler(18), so der abwimmelnde Bescheid an den Bischof, gebe es keinen Platz für humanitäre oder sentimentale Skrupel. Im Februar 1945 war dann Dresden(6) an der Reihe. Die schönste Stadt Deutschlands(36) wurde in Schutt und Asche gelegt. Und sehr viel mehr noch darüber hinaus. Als das Land schließlich im Mai 1945 zur bedingungslosen Kapitulation bereit war, lag es zum größten Teil in Trümmern. Die Befreiung der nationalsozialistischen Todeslager und die allmählich dämmernde Erkenntnis, wie mörderisch Hitlers(19) Ziele tatsächlich gewesen waren, sorgten dafür, dass nur wenige in Großbritannien(15) größere Gewissensbisse empfanden. Gut hatte über Böse triumphiert. Das Ziel hatte die Mittel gerechtfertigt.

Einigen jedoch kam der Sieg fast wie eine Niederlage vor. Im Jahr 1948, drei Jahre nach dem Tod Hitlers, vollendete Tolkien(10) schließlich sein Werk Der Herr der Ringe. Die Geschichte gipfelt im Sieg über Sauron(3). Im Lauf des Romans hatten dieser und seine Knechte nach einer entsetzlichen Waffe gesucht, einem Ring tödlicher Macht, der Sauron, hätte er ihn gefunden, ermächtigt hätte, ganz Mittelerde(5) zu beherrschen. Natürlich war Saurons größte Furcht, dass seine Feinde – die, wie er wusste, den Ring gefunden hatten – diesen gegen ihn einsetzen würden. Doch das taten sie nicht. Stattdessen vernichteten sie den Ring. Wahre Stärke manifestierte sich nicht in der Ausübung von Macht, sondern in der Bereitschaft, Macht aufzugeben. Daran glaubte Tolkien als Christ. Deshalb hatte er im letzten Jahr des Krieges gegen Hitler diesen Krieg als eine zutiefst üble Angelegenheit beklagt. »Denn wir versuchen, Sauron mit dem Ring zu besiegen. Und (wie es scheint) wird uns das auch gelingen. Aber die Strafe ist, wie Du ja weißt, dass wir neue Saurons(4) heranziehen.«[55] Auch wenn Tolkien schroff jede Unterstellung von sich wies, er habe Der Herr der Ringe nach Ereignissen in seinem Land gestaltet, so hatte er diese Ereignisse doch mit Sicherheit durch die Brille seiner Schöpfung angeschaut. Die Welt der Konzentrationslager und der Atombombe war grundiert mit den Mustern eines ferneren Zeitalters: einem Zeitalter, in dem Engel unmittelbar über den Schlachtfeldern geflogen und in Mittelerde(6) Wunder geschehen waren. Es gab nur wenige Stellen im Roman, in denen sein zutiefst christlicher Grundton offen zum Ausdruck kam; wenn das jedoch geschah, dann umso bedeutungsvoller. Tolkien erklärte, der Sturz Mordors(3) habe sich am 25. März ereignet: ebenjenem Datum, an dem spätestens seit dem 3. Jahrhundert die Inkarnation Christi im Schoß Marias sowie seine spätere Kreuzigung angesetzt wurde.

Der erste Teil von Der Herr der Ringe wurde nach einer sich lange hinziehenden Bearbeitungsphase im Jahr 1954 veröffentlicht. Die meisten Besprechungen brachten Befremden, wenn nicht sogar Herablassung zum Ausdruck. Die Wurzeln des Buchs in einer weit zurückliegenden Vergangenheit; seine Voraussetzung, Gut und Böse gebe es wirklich; seine Vorliebe für das Übernatürliche: All das war ganz dazu angetan, Intellektuellen kindisch vorzukommen. »Das ist kein Werk«, bemerkte einer von ihnen naserümpfend, »das viele Erwachsene mehr als einmal lesen werden.«[56] Doch da täuschte er sich. Die Beliebtheit des Buchs nahm stetig zu. Innerhalb nur weniger Jahre wurde es zu einem verlegerischen Phänomen. Kein anderer während des Kriegs verfasster Roman konnte es auch nur annähernd mit seinen Verkaufszahlen aufnehmen. Tolkien(11) war von diesem Erfolg sehr angetan. Als er Der Herr der Ringe verfasste, ging es ihm nicht primär um finanziellen Gewinn. Er hatte ein Ziel, das bereits Irenaeus, Origenes und Beda verfolgt hatten: Er wollte denen, die sie nicht kannten, die Schönheiten der christlichen Religion und ihre Wahrheit nahebringen. Die Beliebtheit seines Romans vermittelte ihm den Eindruck, dass ihm das gelungen war. Der Herr der Ringe entwickelte sich zum meistgelesenen Roman des 20. Jahrhunderts und Tolkien(12) zum meistgelesenen christlichen Schriftsteller.

Doch das bezeugte zwar einerseits den anhaltenden Reiz, den das Christentum auf die Phantasie ausübte, andererseits aber noch etwas Weiteres. Der Herr der Ringe war – was viele seiner Kritiker bemängelten – eine Geschichte mit einem Happy End. Sauron(5) war besiegt, die Mächte Mordors(4) gestürzt. Doch der Sieg des Guten hatte seinen Preis. Er war begleitet von Verlust und Schwinden und dem Vergehen dessen, was einst schön und stark gewesen war. Die Königreiche der Menschen hatten Bestand – nicht jedoch jene der anderen Völker Mittelerdes(7). »Zusammen haben wir die Weltzeitalter hindurch gegen das langsame Erliegen angekämpft.«[57] Diesem von einer Elbenkönigin formulierten Gefühl lag ein Schatten zugrunde, der auch Tolkien(13) nicht fremd war. »Ich bin nun einmal Christ, sogar Katholik(32), und darum erwarte ich von der ›Geschichte‹ nichts anderes als eine ›lange Niederlage‹ – allerdings enthält sie auch (und in einer Sage vielleicht noch deutlicher und bewegender) manche Proben oder Vorahnungen des endgültigen Sieges.«[58]

Der Erfolg von Der Herr der Ringe legte zwar entsprechend der Hoffnung Tolkiens(14) vom »endgültigen Sieg« des Christentums Zeugnis ab, allerdings auch von dessen Schwinden. Der Roman stellte den Lesern Tolkiens Religion indirekt dar; hätte er es nicht getan, dann wäre er nie so beispiellos erfolgreich gewesen. Die Welt veränderte sich. Der Glaube an das Böse, wie Tolkien(15) es sah und wie Christen es so lang gesehen hatten – als eine konkrete satanische Gewalt –, wurde schwächer. Kaum jemand bezweifelte nach der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass es die Hölle gab – allerdings war es schwierig geworden, sie als etwas anderes zu sehen denn als einen schlammigen Sumpf, umgeben von Stacheldraht und mit den Silhouetten von Krematorien, die sich vor dem Winterhimmel abzeichneten; und errichtet von Männern aus dem Kernland dessen, was einst die Christenheit gewesen war.