XX

Liebe

1967: Abbey Road

Sonntag, 25. Juni. In St. John’s Wood(1), einem der wohlhabendsten Stadtteile Londons(17), waren Kirchgänger unterwegs zum Abendgebet. Allerdings nicht die berühmteste Musikband der Welt. Die Beatles(1) waren für ihren bisher größten Gig gebucht. Erstmals sollte ein Programm, das Live-Sequenzen aus mehreren Ländern enthielt, gleichzeitig auf der ganzen Welt ausgestrahlt werden – und die British Broadcasting Corporation(1) hatte für ihren Teil John Lennon(1), Paul McCartney(1), George Harrison(1) und Ringo Starr(1) aufgeboten. Die Studios in der Abbey Road(1) waren während der vergangenen fünf Jahre der Ort gewesen, wo die Beatles die Lieder aufgenommen hatten, welche die Popmusik verwandelt und sie zu den am stürmischsten angehimmelten jungen Männern des Planeten gemacht hatten. Nun, vor einem Publikum von 350 Millionen Menschen, nahmen sie also ihre neueste Single auf. Der Song war mit seinem Refrain, den jeder mitsingen konnte, fröhlich und ansteckend hymnisch. Seine Botschaft war in mehreren Sprachen auf Pappschildern festgehalten: Sie sollte in einem globalen Dorf ohne weiteres zugänglich sein. Blumen, Luftschlangen und Ballons trugen zur Partyatmosphäre bei. John Lennon(2) sang entweder oder kaute Kaugummi, und er stellte der zuschauenden Welt ein Heilmittel vor, dem weder Thomas von Aquin noch Augustinus noch der Apostel Paulus widersprochen hätten: »All you need is love.«

Immerhin war Gott ja Liebe. So verkündete es die Bibel. Zweitausend Jahre lang hatten Männer und Frauen über diese Offenbarung nachgedacht. Liebe – und tu, was du willst. Es gab viele Christen, die sich über die Jahrhunderte hinweg bemüht hatten, diese Regel des Augustinus konkret umzusetzen.[1] Denn dann, wie ein hussitischer Prediger es formulierte, »wird uns das Paradies offenstehen, die Güte wird vervielfacht, und vollkommene Liebe wird im Überfluss vorhanden sein«.[2] Aber was geschah, wenn die Wölfe kamen? Was sollten die Schafe dann tun? Die Beatles(2) waren in einer Welt aufgewachsen, die deutlich vom Krieg gezeichnet war. Große Teile ihrer Heimatstadt Liverpool(1) waren von deutschen Bomben zerstört worden. Ihre Lehrzeit als Band hatten sie in Hamburg(2) absolviert, wo sie in Nachtclubs spielten, die von verkrüppelten Ex-Nazis besucht wurden. Und nun, während sie ihre Friedensbotschaft sangen, lag die Welt erneut im Schatten eines Konflikts.

Nur drei Wochen vor der Ausstrahlung aus der Abbey Road(2) war im Heiligen Land ein Krieg ausgebrochen. Landstriche, in denen einst biblische Patriarchen unterwegs gewesen waren, waren mit den geschwärzten Trümmern ägyptischer und syrischer Flugzeuge übersät. Israel(1), das jüdische Heimatland, das die Engländer(49) 1917 versprochen hatten und das dann 1948 endlich gegründet worden war, hatte in nur sechs Tagen einen überwältigenden Sieg über Nachbarn errungen, die sich auf seine Vernichtung eingeschworen hatten. Jerusalem(50), die Stadt Davids, war – zum ersten Mal seit dem Zeitalter der Caesaren – wieder in jüdischer Hand. Doch war das keine Lösung für die Verzweiflung und das Elend derer, die aus der Region vertrieben worden waren, die zuvor Palästina(2) gewesen war. Ganz im Gegenteil. Auf der ganzen Welt schienen Hassgefühle auszubrechen und wie Napalm in einem vietnamesischen Dschungel zu lodernden, unkontrollierbaren Feuern zu werden. Am furchterregendsten waren die Spannungen zwischen den beiden globalen Großmächten, der Sowjetunion(3) und den Vereinigten Staaten(24). Der Sieg über Hitler hatte russische Soldaten ins Herz Europas gelangen lassen. In alten christlichen Hauptstädten – Warschau, Budapest, Prag – wurden kommunistische Regierungen eingesetzt. Der Kontinent war nun durch einen eisernen Vorhang geteilt. Beide Seiten waren mit Atomraketen ausgerüstet, mit Waffen, die so tödlich waren, dass sie das Leben auf der ganzen Welt auslöschen konnten: Das, was auf dem Spiel stand, hatte apokalyptische Ausmaße angenommen. Die Menschheit hatte sich angemaßt, was bislang immer als göttliches Vorrecht angesehen worden war: die Macht, das Ende der Welt herbeizuführen.

Wie sollte es dann stimmen, dass Liebe genügte? Die Beatles(3) wurden für ihre Botschaft verspottet, aber sie waren nicht die einzigen, die daran glaubten. Ein Jahrzehnt zuvor war tief im amerikanischen(25) Süden ein Baptistenpfarrer(3) namens Martin Luther King(1) aufgetreten, der darüber nachgedacht hatte, was Christus gemeint haben könnte, als er seine Jünger dazu aufforderte, ihre Feinde zu lieben. »Das ist alles andere als die fromme Aufforderung eines utopistischen Träumers – vielmehr ist dieses Gebot eine unverzichtbare Notwendigkeit für das Überleben unserer Zivilisation. Ja, Liebe wird unsere Welt, unsere Zivilisation retten, Liebe selbst noch für unsere Feinde.«[3] King hatte nicht wie die Beatles dann später mit ihrem »All You Need Is Love« behauptet, das sei einfach. Er sprach als Schwarzer zu einer schwarzen Gemeinde, die in einer von institutionalisierter Unterdrückung verseuchten Gesellschaft lebte.

Der Bürgerkrieg hatte zwar der Sklaverei ein Ende bereitet, doch Rassismus und Rassentrennung gab es nach wie vor. Gesetzeshüter hatten sich mit Lynchmobs zusammengetan, damit das auch so blieb. Tausende gehörten dem Ku-Klux-Klan(1) an, einer paramilitärischen Organisation, die Kirchenlieder sang, riesige Kreuze verbrannte und schwarze Amerikaner niederritt. Weiße Pfarrer, wenn sie nicht selbst als Anführer im Klan aktiv waren, unternahmen nichts gegen solche Umtriebe. Diese Kleriker und ihre Gemeinden wollte King(2) aus ihrem moralischen Tiefschlaf aufwecken. Er war nicht nur ein genialer Redner mit einer unvergleichlichen Kenntnis der Bibel und ihrer unterschiedlichen Tonfälle, sondern besaß auch ein seltenes Talent dafür, friedliche Demonstrationen zu organisieren. Streiks, Boykotts, Aufmärsche: Wieder und wieder benutzte King sie, um die Aufhebung einer diskriminierenden Gesetzgebung zu erzwingen. Diese Erfolge ließen ihn zwar zu einer nationalen Größe werden, doch machten sie ihn auch verhasst. Auf sein Haus wurde ein Brandanschlag verübt; wiederholt wurde er inhaftiert. King jedoch hasste nie zurück.

Er wusste, dass es dem Menschen einiges abverlangte, für das Wort Gottes Zeugnis abzulegen. 1963, im Frühjahr, stellte er in einem Schreiben aus dem Gefängnis Überlegungen darüber an, wie Paulus das Evangelium der Freiheit dorthin gebracht hatte, wo es am meisten gebraucht wurde, ungeachtet aller Risiken. Als er die weißen Kleriker dazu aufforderte, ihr Schweigen zu brechen und gegen die Ungerechtigkeiten, unter denen die Schwarzen zu leiden hatten, ihre Stimme zu erheben, berief sich King(3) auf die Autorität des Thomas von Aquin und seines Namenspatrons Martin Luther. Vor allem aber führte er als Antwort auf den Vorwurf, er sei ein Extremist, das Beispiel seines Heilands an. Gesetze, die Hass und die Verfolgung einer Rasse durch eine andere erlaubten, seien Gesetze, die auch Christus selbst gebrochen hätte. »War Jesus etwa kein Extremist der Liebe?«[4]

Die Bürgerrechtskampagne verlieh dem Christentum in der amerikanischen(26) Politik einen zentralen Stellenwert, den es seit den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg nicht mehr genossen hatte. Indem King(4) das schlummernde Gewissen weißer Christen aufrüttelte, gelang es ihm, sein Land auf einen neuen Weg zu bringen. Von Liebe zu sprechen, wie Paulus es getan hatte – als einer Sache, die größer war als prophetische Rede oder Erkenntnis oder Glaube –, war erneut zu einem revolutionären Akt geworden. Kings Traum, dass die Herrlichkeit des Herrn offenbar würde und alles Fleisch ihn sehen solle, ließ in ganz Amerika(27) – in Cafés an der Westküste ebenso wie in Kirchen in Alabama, auf grünen Hochschulwiesen wie in Streikpostenketten, bei Anwälten wie bei Müllmännern – eine große Sehnsucht danach entstehen, dass das Recht wie Wasser flute und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Strom. Ebendiese Vision von Fortschritt hatte im 18. Jahrhundert Quäker und Evangelikale in ihrem Kampf um die Abschaffung der Sklaverei angetrieben; jetzt allerdings, in den 1960er Jahren, ging der Funke, der diese Vision mit neuer Leuchtkraft aufflammen ließ, vom Glauben der Afro-Amerikaner aus.

Der Sound des Protests war der Sound aus den Kirchen der Schwarzen. Er war in Martin Luther Kings(5) klangvollem Prediger-Bariton ebenso vernehmbar wie aus Transistorradios und Stereoanlagen im ganzen Land. In den 1950er Jahren hatten bei Streiks und Aufmärschen schwarze Demonstranten Lieder gesungen, die aus den dunklen Tagen der Knechtschaft stammten: von Mose, der sein Volk aus der Sklaverei befreite; von Josua, der die Mauern Jerichos zum Einsturz brachte. In den 1960er Jahren sah es allmählich so aus, als könnten in Gospelchören geschulte Stimmen die Welt verwandeln: dass »A Change Is Gonna Come«.46 Als James Brown(1), der innovativste und kühnste aller schwarzen Superstars, aus armen Verhältnissen emporstieg, um einen Weg für den Funk zu bahnen, zehrte er bei seinem Gesang von seiner Lehrzeit in einer besonders sangesstarken evangelikalen Kirche(9). Brown, ein quecksilbriger Künstler, der zwischen Lobgesängen auf den Kapitalismus und dem unverblümten Ausdruck, ein Schwarzer und stolz darauf zu sein, hin- und herpendelte, vergaß nie, was er dem United House of Prayer for All People of the Church on the Rock of the Apostolic Faith schuldete. »Von ihren Sünden gereinigte Menschen haben mehr Feuer.«[5](2)

Wie der Duft eines Räucherstäbchens wurden die Ideale und Slogans der Bürgerrechtsbewegung jedoch auch von Menschen eingeatmet, die nie eine Kirche der Schwarzen von innen gesehen hatten. Dass die Beatles(4) Kings(6) Meinung über die Wichtigkeit der Liebe teilten und es prinzipiell ablehnten, vor einem nach ›Rassen‹ getrennten Publikum zu spielen, bedeutete nicht, dass sie – wie James Brown(3) es vielleicht formuliert hätte – »heilig« waren. Zwar waren sich Lennon(3) und McCartney(2) zum ersten Mal auf einem Kirchenfest begegnet, doch hatten alle vier ihren Kinderglauben schon längst abgelegt. Dieser war, wie McCartney es formulierte, etwas für Gutmenschen(»a goody-goody thing«):[6] ganz nett vielleicht für eine einsame Frau, die ein Gesicht trägt, das sie in einem Kosmetikdöschen an der Tür aufhebt;47 nicht aber für eine Band, welche die Welt erobert hatte. Kirchen waren spießig, altmodisch, langweilig – lauter Eigenschaften, die auf die Beatles ganz und gar nicht zutrafen. In England(50) gab es sogar den einen oder anderen Bischof, der die Meinung vertrat, das traditionelle christliche Gottesverständnis sei überholt, und die einzige Regel sei Liebe. Als 1966 Lennon in einem Zeitungsinterview behauptete, die Beatles seien »populärer als Jesus«,[7] regte das kaum jemanden auf.

Nur vier Monate später jedoch, nachdem seine Äußerung in einer amerikanischen Zeitschrift zitiert worden war, kam dann doch die Gegenreaktion. Vielen Pastoren überall in den USA(28) waren die Beatles(5) schon seit Langem suspekt. Das galt vor allem für den Süden, den sogenannten Bible Belt. Dortige Prediger ärgerten sich, dass sich die Beatlemania zu einer Art Götzenverehrung entwickelt hatte, womit sie ungewollt Lennons(4) Argument bestätigten; manche argwöhnten sogar, es handle sich dabei insgesamt um eine kommunistische Verschwörung. Viele weiße Evangelikale(10) hatten ein schlechtes Gewissen wegen der Aufrufe zur Umkehr, die King(7) an sie richtete, und waren verblüfft über die Stimmung eines moralischen Eifers, der außerhalb ihrer eigenen Kirchen entstanden war; dazu noch entsetzt vom Schauspiel ihrer Töchter, die sich beim Anblick von vier absonderlich aussehenden Engländern die Seele aus dem Leib schrien. Für diese weißen Evangelikalen war die Gelegenheit, Schallplatten der Beatles zu zerstören, eine willkommene Erleichterung. Gleichzeitig bot sie Rassisten, die für die Forderungen nach Gerechtigkeit von Seiten der Bürgerrechtsbewegung unzugänglich waren, eine Möglichkeit, ihre Reihen zu schließen. Der Ku-Klux-Klan(2) ergriff begierig die Gelegenheit, sich als Verteidiger protestantischer(65) Werte zu präsentieren. Man gab sich nicht damit zufrieden, Schallplatten zu verbrennen, sondern schmiss auch gleich noch Beatles-Perücken mit ins Feuer. Die charakteristische Frisur der Band – der zottelige Pilzkopf – erschien Klanmitgliedern mit akkuratem Haarschnitt bereits als Ausbund an Gotteslästerung. »Ich kann durch diese Wuschelfrisur ja nicht einmal deutlich erkennen«, fauchte einer von ihnen wütend, »ob sie weiß oder schwarz sind.«[8]

Nichts davon trug dazu bei, Lennons(5) Meinung zum Christentum entscheidend zu verändern. Die Beatles(6) leiteten ihr Verständnis von Liebe als der Macht, die das Universum mit Leben erfüllte, nicht – wie Martin Luther King(8) es getan hatte – von einer genauen Lektüre der Bibel ab. Stattdessen setzten sie es als selbstverständlich voraus. Das typisch christliche Verständnis von Liebe, das so viel zur Entstehung und Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung beigetragen hatte, schwebte jetzt, losgelöst von seinen theologischen Verankerungen, frei über einer immer psychedelischeren Landschaft. Die Beatles waren nicht die einzigen, die in jenem Sommer des Jahres 1967 »eigenartig wurden«.[9] Überall stieß man auf Malas und Wasserpfeifen.

Die Evangelikalen(11) waren entsetzt. Für sie war das Auftauchen langhaariger Freaks mit Blumen im Haar eine sichere Bestätigung dafür, dass der Lauf der Welt nun vom Satan(18) gelenkt wurde. Ekstatisches Gerede von Frieden und Liebe war nichts weiter als verderbliche Phrasendrescherei: nur ein Deckmäntelchen für Drogen und Sex. Zweitausend Jahre der Versuche, die Gewalt der Leidenschaften einzudämmen, waren offenbar in ihr Gegenteil umgeschlagen. Dass das zutraf, änderte natürlich nichts am Ruch des Spießigen, der den Christen anhaftete. Durch den Marihuananebel im schummrigen Raum eines besetzten Hauses in San Francisco(1) wirkten Prediger wie religiöse Fanatiker. Wo war die Liebe in kurzhaarigen Männern, die mit den Fingern auf einen zeigten und rot anliefen? Das spannungsgeladene Gefühl einer unüberbrückbaren Trennung, von Gegensätzen, die sich in einem unversöhnlichen Krieg der Kulturen verhakt hatten, war im Summer of Love allgegenwärtig.

Und dann wurde im April des folgenden Jahres Martin Luther King(9) erschossen. Eine ganze Ära schien mit ihm abgeknallt worden zu sein: eine Zeit, in der Liberale und Konservative, fortschrittliche Schwarze und weiße Evangelikale – und sei es noch so unzureichend – das Gefühl gehabt hatten, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Als sich die Nachricht von Kings Ermordung in Amerika(29) verbreitete, begannen Städte zu brennen: Chicago, Washington, Baltimore. Militante Schwarze, die schon vor dem Mord unzufrieden mit Kings Pazifismus und seinem Gerede von Liebe gewesen waren, drängten auf eine gewaltsame Konfrontation mit dem weißen Establishment. Viele verhöhnten das Christentum offen als eine Religion für Sklaven. Andere Aktivisten, welche die Richtung weiterverfolgten, in die Kings Anti-Rassismus-Kampagne gewiesen hatte, forderten die Korrektur von Verhaltensweisen, die sie ebenfalls als schwere Sünden einschätzten. Wenn es falsch war, Schwarze zu diskriminieren – warum galt das dann nicht auch für die Diskriminierung von Frauen oder Homosexuellen?

Doch wer das fragte, appellierte nicht, wie King(10) es getan hatte, an das Gewissen von Evangelikalen(12) und erinnerte sie an Werte, die sie im Prinzip bereits vertraten. Vielmehr war das ein Frontalangriff auf die Grundlagen ihres Glaubens. Dass eine Frau ins Haus gehörte und Homosexualität ein Gräuel war, waren orthodoxe Lehren, so donnerten Pastoren von der Kanzel, die durch die zeitlose Geltung der Bibel selbst gestützt wurden. Zunehmend verhießen Evangelikale Amerikanern(30), die vom moralischen Drehschwindel der Zeit desorientiert waren, einen festen Boden. Ein Zufluchtsort konnte aber auch ein Ort im Belagerungszustand sein. Für viele Evangelikale(13) waren der Feminismus(1) und die Schwulenbewegung ein Angriff auf das Christentum selbst. Und umgekehrt wirkte auf viele Feministinnen und Schwulenrechtler das Christentum als eine Institution, die gleichbedeutend war mit allem, gegen das sie ankämpften: Ungerechtigkeit, Heuchelei, Verfolgung. Gott, so vermittelte man ihnen, hasste Schwuchteln.

Aber tat er das wirklich? Wenn Konservative ihren Gegnern vorwarfen, sie würden gegen die biblischen Gebote verstoßen, dann konnten sie zwar als Rückhalt das Gewicht einer zweitausendjährigen christlichen Tradition anführen; aber für die Liberalen galt das, wenn sie sich für Gendergerechtigkeit oder Schwulenrechte einsetzten, genauso. Ihr aktuelles Vorbild und ihre Inspiration war ja immerhin ein Baptistenprediger(4). »Es gibt keine Stufenleiter des Wertes«, so hatte King(11) ein Jahr vor seiner Ermordung geschrieben. »Jedes menschliche Wesen trägt in seiner Persönlichkeit den unauslöslichen Stempel des Schöpfers eingeprägt. Jeder Mensch muss geachtet werden, weil Gott ihn liebt.«[10] Oder »sie liebt«, hätte eine Feministin(2) natürlich ergänzt. Doch auch wenn die Worte Kings einen instinktiven Hang zum Patriarchat innerhalb des Christentums bezeugten, zeugten sie ebenso davon, warum dieser in der westlichen Welt langsam als Problem gesehen wurde.

Dass jeder Mensch dieselbe Würde besaß, war nicht einmal ansatzweise selbstverständlich. Ein Römer hätte darüber nur lachen können. Gegen Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder sexueller Orientierung zu agitieren war dagegen nur dann möglich, wenn eine großen Anzahl von Menschen dieselbe Grundauffassung teilten: dass nämlich jeder einen angeborenen Wert hatte. Die Ursprünge dieses Prinzips fanden sich weder, wie Nietzsche(14) verächtlich festgestellt hatte, in der Französischen Revolution, noch in der Unabhängigkeitserklärung, und auch nicht in der Aufklärung, sondern in der Bibel. Die Zwiespältigkeiten, die in den 1970er Jahren die westliche Gesellschaft in Unruhe versetzten, waren in den Paulusbriefen immer völlig offensichtlich gewesen. Als er an die Korinther schrieb, hatte der Apostel betont, dass der Mann das Haupt der Frau sei; als er an die Galater schrieb, hatte er darüber frohlockt, dass es in Christus weder Mann noch Frau gebe. Ein Gegengewicht zu seiner strengen Verurteilung gleichgeschlechtlicher Beziehungen bildete sein hymnischer Lobpreis der Liebe. Als Pharisäer erzogen, unterrichtet im Gesetz des Mose, war er dahin gelangt, den Primat des Gewissens zu verkünden. Das Wissen darum, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht, war nicht mit Tinte geschrieben, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern in menschliche Herzen. Liebe und tu, was du willst. Das war, wie der gesamte Verlauf der Geschichte des Christentums so lebhaft vorführte, eine Formel für Revolution.

»Der Wind bläst, wo er will.«[11] Dass die Zeiten sich änderten – »The times they are a-changing« –, war eine Botschaft, die Christus selbst gelehrt hatte. Wieder und wieder fühlten sich Christen vom Geist Gottes berührt; wieder und wieder hatten sie gespürt, wie sie dadurch zum Licht kamen. Nun aber hatte der Geist eine neue Form angenommen. Er war nicht mehr christlich – er war zu einer allgemeinen Stimmung geworden. Wer da nicht mitmachte, riskierte, auf der falschen Seite der Geschichte zu stranden. Die von der Theologie, aus der sie stammte, losgelöste Idee des Fortschritts begann allmählich, das Christentum abzuhängen.

Die Kirchen standen vor der Wahl – einer wahrhaft beängstigend schwierigen Wahl: Sollte man im Staub sitzenbleiben und in ohnmächtiger Wut die Fäuste gegen diese Entwicklung ballen; oder sollte man sich abstrampeln im verzweifelten Versuch, den Anschluss nicht zu verpassen? Sollten Frauen Priesterinnen werden können? Sollte man Homosexualität als Sodomie verdammen oder als Liebe preisen? Sollte das uralte christliche Projekt, sexuelle Triebe einzudämmen, beibehalten oder gelockert werden? Auf keine dieser Fragen gab es eine einfache Antwort. Denjenigen, die sie ernst nahmen, bescherten sie endlose, qualvolle Diskussionen. Denjenigen, die sich darauf gar nicht erst einließen, boten sie – falls das überhaupt nötig war – einen weiteren Beleg dafür, dass die Zeit des Christentums vorüber war. John Lennon(6) hatte recht gehabt. »Es wird verschwinden und eingehen. Ich muss mich nicht auf Argumente einlassen; ich weiß, dass ich recht habe, und dass ich recht behalten werde.«[12]

Allerdings sahen sich auch Atheisten(9) mit Problemen konfrontiert. Die Christen waren nicht die einzigen, die sich abmühten, die widerstreitenden Forderungen von Tradition und Fortschritt miteinander zu vereinbaren. Nachdem Lennon(7) seine Zusammenarbeit mit McCartney(3) aufgekündigt hatte, feierte er seine Befreiung mit einem Song, der Jesus neben den Beatles(7) als eines der Idole anführte, an die er nicht mehr glaubte. Dann, im Oktober 1971, veröffentlichte er eine neue Single: »Imagine«. Der Song lieferte Lennons Rezept für den Weltfrieden. Stell dir vor, es gibt keinen Himmel, sang er, und unter uns keine Hölle. Doch die Strophen waren durch und durch christlich. Von einer besseren Welt zu träumen, einer Bruderschaft der Menschen, hatte dort, wo Lennon lebte, eine ehrwürdige Tradition. St. George’s Hill(6), sein Wohnort während der Blütezeit der Beatles, war genau der Ort, an dem sich dreihundert Jahre früher die Digger abgerackert hatten. Doch statt Winstanley nachzuahmen, hatte Lennon sich in einer überwachten, mit Swimmingpool und Rolls Royce ausgestatteten Wohnanlage verkrochen.

»Man fragt sich, was sie mit ihrem ganzen Schotter anstellen.«[13] So hatte ein Pastor im Jahr 1966 gegrübelt. Das Video von »Imagine«, auf dem man sieht, wie Lennon(8) durch sein kürzlich erworbenes, neunundzwanzig Hektar großes Anwesen schreitet, lieferte die Antwort. In seiner Scheinheiligkeit nicht weniger als in seinen Träumen vom Weltfrieden war Lennons Atheismus(10) erkennbar ein Ableger des Christentums. Ein guter Prediger war jedoch immer dazu in der Lage, seine Herde mitzunehmen. Der Anblick von Lennon, der sich eine Welt ohne Besitztümer vorstellte, während er in einem riesigen Herrenhaus saß, hatte durchaus nicht zur Folge, seine Bewunderer zu vergraulen. Während Nietzsche sich wütend im Grabe herumdrehte, wurde »Imagine« zur Hymne der Atheisten. Ein Jahrzehnt später, als Lennon von einem durchgeknallten Fan erschossen wurde, betrauerten ihn seine Fans nicht nur als die eine Hälfte der grandiosesten Songwriter-Partnerschaft des 20. Jahrhunderts, sondern als Märtyrer.

Nicht jeden konnte das überzeugen. »Seit er tot ist, ist er zu Martin Luther Lennon(9) geworden.«[14] Paul McCartney(4) hatte Lennon zu gut gekannt, um ihn je für einen Heiligen halten zu können. Sein Witz war allerdings auch eine Verneigung vor Martin Luther King(12): einem Mann, der in das Licht der pechschwarzen Nacht geflogen war.48 »Die beständigste und dringlichste Frage des Lebens ist: ›Was tust du für andere?‹«[15] McCartney war trotz seiner Ablehnung von »goody goody stuff« – Gutmenschenkram – gegen einen solchen Appell nicht immun. Als er 1985 gebeten wurde, an einer Hilfsaktion gegen eine entsetzliche Hungersnot in Äthiopien(1) mitzuwirken, indem er beim bislang weltweit größten Konzertevent auftrat, war er sofort einverstanden. Live Aid(1), das gleichzeitig in London(18) und Philadelphia(8) – der Stadt der Bruderliebe – veranstaltet wurde, wurde an Milliarden Menschen ausgestrahlt. Musiker, die ihre Karrieren damit zugebracht hatten, mit Groupies zu schlafen und Koks von Tabletts zu schnupfen, die auf den Köpfen von Zwergen balanciert wurden, gaben Songs zum Besten, um den Hungernden zu helfen. Als sich die Nacht über London senkte und das Konzert im Wembley-Stadion seinen Höhepunkt erreichte, richteten sich Scheinwerfer auf McCartney, der an einem Klavier saß. Die Nummer, die er sang, »Let It Be«, war die letzte gemeinsame Single der Beatles(8) gewesen. »When I find myself in times of trouble, Mother Mary comes to me« – »Wenn es mir schlecht geht, kommt Mutter Maria zu mir.« Wer war Maria? Vielleicht – so die Behauptung McCartneys – seine Mutter; vielleicht aber auch, wie Lennon(10) finster geargwöhnt hatte und viele Katholiken(33) glaubten, die Jungfrau(10). Wie auch immer – in jener Nacht konnte ihn keiner hören. Sein Mikrophon war ausgefallen.

Es war eine Darbietung, die den Paradoxien jener Zeit perfekt entsprach.

Ein langer Weg zur Freiheit

Sieben Monate vor Live Aid hatten die Organisatoren dieser Veranstaltung einige der namhaftesten Popstars Großbritanniens und Irlands zu einer Super-Gruppe zusammengetrommelt: Band Aid(1). Mit »Do They Know It’s Christmas?«, einer zu karitativen Zwecken aufgenommenen Schallplatte, konnte so viel Geld für Hungerhilfe aufgebracht werden, dass sie zur meistverkauften Single in der Geschichte der englischen Charts wurde.49 Trotz allem Peroxid, allem Cross-Dressing, all den in das Aufnahmestudio ge- schmuggelten Kokaintütchen, handelte es sich um ein Unternehmen, das auf der christlichen Vergangenheit beruhte. Ein BBC-Korrespondent, der über das Ausmaß an Leiden in Äthiopien(2) berichtete, bezeichnete die von ihm beobachteten Szenen als »biblisch«; und die davon tief beeindruckten Organisatoren von Band Aid(2) griffen zu Maßnahmen, die letztlich von Paulus und Basilius inspiriert waren. Dass man sich den Bedürftigen gegenüber wohltätig verhalten sollte und dass ein Fremder oder eine Fremde in einem fernen Land nicht weniger Bruder oder Schwester waren als der Mensch, der unmittelbar neben einem wohnte – das waren Prinzipien, die für die christliche Botschaft immer von fundamentaler Bedeutung gewesen waren.

Die Sorge um die Opfer von Katastrophen, die sich weit weg abspielten – Hungersnöte, Erdbeben, Überschwemmungen –, war in dem, was einmal die Christenheit gewesen war, besonders stark ausgebildet. Die überwältigende Konzentration von internationalen Hilfsorganisationen in solchen Gebieten war kein Zufall. Band Aid(3) war allerdings nicht die erste Instanz, die fragte, ob die Afrikaner wussten, dass Weihnachten ist. Im 19. Jahrhundert waren bibeltreue Christen von derselben Sorge mächtig umgetrieben worden. Missionare hatten sich ihrer Berufung gemäß einen Weg durch unerforschte Dschungel gehackt, waren gegen den Sklavenhandel zu Feld gezogen und hatten all ihre Kräfte eingesetzt, um den dunklen Kontinent zum Licht Christi zu bringen. »Das Christentum an sich ist eine diffuse Menschenliebe. Es bedarf einer ständigen Ausweitung, um seine Echtheit zu bezeugen.«[16] So lautete das Leitbild David Livingstones(1), des berühmtesten Entdeckers jener Zeit. Die Mitglieder von Band Aid(4) waren – in ihrem Ehrgeiz, Gutes zu tun, wenn auch nicht in ihrer Verwendung von Haarfärbemitteln – erkennbar seine Erben.

Allerdings wurde ihre Single nicht auf diese Weise vermarktet. Alles, was den Anschein erweckte, Weiße würden Afrikanern sagen, was sie tun sollten, war in den 1980er Jahren peinlich geworden. Selbst die Bewunderung für einen Missionar wie Livingstone(2), dessen Kreuzzug gegen den arabischen(17) Sklavenhandel nur heroisch genannt werden konnte, war schal geworden. Seine Bemühungen, den Kontinent zu kartographieren, hatten gerade nicht – wie er es eigentlich beabsichtigt hatte – den Interessen der Afrikaner gedient, sondern lediglich das Landesinnere für Eroberung und Ausbeutung geöffnet. Ein Jahrzehnt nach seinem Tod im Jahr 1873 – er starb an Malaria – begannen englische Abenteurer, tief ins Herz Afrikas vorzudringen. Auch andere europäische Großmächte stürzten sich ins Getümmel. Frankreich annektierte einen großen Teil Nordafrikas, Belgien den Kongo, Deutschland Namibia. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, stand fast der gesamte Kontinent unter Fremdherrschaft. Nur den Äthiopiern(3) war es gelungen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

Missionare, die sich bemühten, ihr großes Bekehrungswerk fortzusetzen, sahen sich ständig durch die Brutalität der europäischen Großmächte dementiert. Wie sollte man Afrikaner dazu bringen, an Reden über einen Gott zu glauben, der sich um die Unterdrückten und Armen kümmerte, wenn die Weißen – eben jene Leute, die diesen Gott verehrten – ihnen ihr Land wegnahmen und sie ausplünderten, um an Diamanten, Elfenbein und Gummi zu kommen? Eine koloniale Hierarchie, in der Schwarze als minderwertig galten, erschien als besonders bitterer Hohn auf das Beharren der Missionare, Christus sei für alle Menschen gestorben. In den 1950er Jahren, als die Zeit des Imperialismus in Afrika sich ebenso schnell ihrem Ende zuneigte, wie sie ursprünglich begonnen hatte, hätte man annehmen können, dass auch das Christentum sich auf dem Rückzug befand: dass Kirchen der Fressgier von Termiten zum Opfer fallen und Bibeln sich in schimmligen Matsch auflösen würden. Doch das geschah dann ganz und gar nicht.

Als Band Aid an die Spitze der englischen Hitparade stürmte – wussten die Afrikaner damals, dass Weihnachten war? Vielleicht nicht alle. Viele waren Heiden; sehr viel mehr waren Muslime. Im Jahr 1984 gab es jedoch auch 250 Millionen Christen. 1900 waren es gerade einmal 10 Millionen gewesen. Die Wachstumsrate war mit dem Ende der Kolonialherrschaft nicht etwa abgestürzt, sondern explodiert. Etwas Ähnliches hatte es seit der Ausbreitung des Christentums im frühen Mittelalter nicht gegeben. Wie damals, so hatte auch jetzt die Anbetung Christi die Grenzen einer verschwundenen imperialen Ordnung spektakulär überwunden. Sogar in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, als europäische Großmächte unbesiegbar schienen, hatten Afrikaner in der Bibel die Verheißung einer Erlösung von Fremdherrschaft gefunden. So wie irische Eremiten und angelsächsische Missionare einst eine Autorität in Anspruch nahmen, die ihnen vom Himmel zukam und den Mut verlieh, Könige zu kritisieren, so wehrten sich in Afrika einheimische Priester wiederholt gegen Kolonialbeamte. Es gab einige, die bewaffnete Aufstände anführten und hingerichtet wurden; einige, die den Befehlen von Engeln gehorchten und ein Dorf nur zu betreten brauchten, um Götzenbilder in Flammen aufgehen zu lassen; einige, die Kranke heilten und Tote auferweckten und von nervösen Polizeichefs in Ketten gelegt und eingesperrt wurden.

Auf viele weiße Missionare hatten diese Propheten mit ihrem wilden Gerede vom Heiligen Geist und von den Mächten der Finsternis wie ein Ausbund an Unzivilisiertheit gewirkt: Hysteriker, die mit ihrem primitiven Aberglauben die reinen Wasser der Christenheit verschmutzten. Das war allerdings nichts anderes als die Nervosität von Europäern, die sich nicht vorstellen konnten, dass ihr Glaube in einem anderen Gewand als ihrem eigenen auftrat. Afrikanische Christen waren weit davon entfernt, sich auf das Heidentum ihrer Vorfahren einzulassen; im Gegenteil, ihnen graute viel mehr davor, als das ein Missionar aus der Fremde hätte nachempfinden können: Denn sie konnten darin – ebenso wie einst Bonifatius – die Anbetung von Dämonen erkennen. Noch Jahrzehnte nach dem Ende der Kolonialherrschaft gab es Kleriker in ganz Afrika, die auch weiterhin an der Herablassung verzweifelten, die ihnen Europa entgegenbrachte. »Wir danken ihr [Europa] für das, was sie für uns getan hat, und wir wissen ihre Sorgen und Ängste um uns zu schätzen.« Das hatte Emmanuel Milingo(1), der katholische Erzbischof von Lusaka(1), im Jahr 1977 erklärt. »Wir glauben jedoch, dass sie, die für uns wie eine Großmutter ist, sich jetzt mehr um ihre eigenen Probleme kümmern sollte – die mit ihrem hohen Alter zu tun haben –, als um uns.«[17]

Milingos(2) Glaube an die Existenz böser Geister und seine Überzeugung, dass sie – mit Gottes Hilfe – den Besessenen ausgetrieben werden konnten, ließ ihn während der 1970er Jahre in ganz Sambia(1) spektakuläre Exorzismen durchführen. 1982 wurde er von einem argwöhnischen Vatikan nach Rom(67) zitiert und vollbrachte in Italien prompt ein nicht weniger erfolgreiches Heilungswunder. Dass Kirchenführer in Europa offenbar nicht mehr an die Existenz des Dämonischen glaubten, war deren Problem, nicht seines. Schließlich war es keine Sünde, die Kranken von Dämonen zu befreien. Statt sich für etwas zu entschuldigen, das Christus selbst wiederholt vollbracht hatte, zog Milingo(3) es vor, den europäischen Bischöfen einen Glauben vorzuwerfen, der zu vertrocknet war, als dass sie noch an die Existenz der in der Bibel dargestellten Wunder und Schrecken glauben konnten.

Afrikaner zu sein war jedenfalls nichts, was dem Begreifen der christlichen Botschaft im Wege stand. Es war vielmehr ein ausgesprochener Vorteil. »Wenn Gott einen Fehler gemacht hat, als er mich als Afrikaner geschaffen hat, dann ist das bis jetzt noch nicht offenbar geworden.«[18] In dieser herausfordernden Äußerung schwang die Überzeugung mit, dass Afrika die Offenbarung des Lichtes Christi durchaus nicht weißen Missionaren verdankte, sondern schon immer von seinem Feuer berührt war. Die Vorstellung, Äthiopier(4) hätten womöglich noch nie von Weihnachten gehört, war schlimmer als ein Irrtum – sie war einfach grotesk. Schon die Psalmen hatten vorhergesagt, dass Äthiopien sich Gott unterwerfen würde – und so war es geschehen.[19] Das Christentum war dort seit der Zeit Konstantins Staatsreligion. Über 1700 Jahre hinweg war Äthiopien durchgehend ein christliches Königreich geblieben. Welches europäische Land konnte das von sich behaupten?

Also wussten Äthiopier(5) natürlich, was Weihnachten war. Ihr Beispiel war schon lange eine Inspiration für ganz Afrika. Nirgends hatte es aber reichere Frucht getragen als am anderen Ende des Kontinents: in Südafrika(1). Im Jahr 1892 hatte ein schwarzer Geistlicher, der über die Bevormundung verärgert war, mit der weiße Christen ihn und seine afrikanischen Landsleute behandelten, etwas begründet, dem er den Namen Ibandla laseTiyopiya gab: die Äthiopische Kirche(1). Neunzig Jahre später war das Bewusstsein von Südafrika als einem strahlend heiligen Land weit verbreitet. Nun verglichen die Kirchen sich nicht mehr nur mit Äthiopien. Man traf jetzt an mehreren Stellen des Landes auf New Jerusalems(1). Ein zweiter Berg Morija(9) erhob sich – in der Schreibweise »Moria(1)« – im nördlichen Bereich der Provinz Transvaal(1). Von Kapstadt(1) bis Zululand(1) war der Atem des Heiligen Geistes spürbar. Sogar in den von Europäern in Südafrika eingeführten Kirchen konnten sich schwarze Christen an der besonderen Beziehung erfreuen, die Afrikaner schon immer zum Göttlichen gehabt hatten. »Es hat dazu beigetragen, die anmaßende schweigende Unterstellung Lügen zu strafen, Religion und Geschichte habe es in Afrika erst seit der Ankunft des weißen Mannes auf diesem Kontinent gegeben.«[20]

Doch selbst als Desmond Tutu(1) sich in diesem Sinn äußerte, bezweifelte er nie, dass er Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft war. Als anglikanischer(2) Bischof gehörte er einer Kirche an, die ihre Ursprünge auf die Herrschaft eines englischen Königs im 16. Jahrhundert zurückführte. Er war ein geborener Schauspieler und liebte es, die Traditionen Canterburys mit denen Sowetos zu vermischen. Als er im Jahr 1986 als erster Schwarzer zum Erzbischof von Kapstadt(2) gewählt wurde, konnte er sich als lebendiges Symbol dafür darstellen, dass es in Jesus Christus weder Schwarz noch Weiß gab. Doch das war nicht nur eine theologische Aussage. Fragen zu den Plänen Gottes hatten sich in Südafrika(2) zu explosiv politischen Themen entwickelt.

Die Schwarzen waren nicht die einzigen, die das Land als ein neues Israel sahen. Viele Weiße taten das ebenfalls. Die niederländischen Calvinisten(8), die sich im 17. Jahrhundert am Kap angesiedelt hatten – Afrikaaner(1) oder auch Buren(1), wie sie später bezeichnet wurden –, empfanden sich nicht als Kolonisten, sondern als auserwähltes Volk, das in ein gelobtes Land geführt worden war. So wie die Israeliten den einheimischen Heiden das Land Kanaan(11) entrissen hatten, so hatten die Buren dem Wüten der »gänzlich nackten schwarzen Horden« die Stirn geboten[21] und sich ein eigenes Heimatland erkämpft. Die Aufnahme in das Britische Empire(14) hatte nichts an ihrem Selbstbewusstsein geändert, ein Volk zu sein, das aufgrund eines Bundes in einer besonderen Beziehung zu Gott stand.

Als im Jahr 1948 eine Regierung an die Macht kam, in der konservative Buren(2) die Mehrheit hatten, wurde diese Überzeugung in einem umfassenden politischen Programm festgeklopft. Man führte offiziell eine Politik der Apartheid – »Getrenntheit« – ein. Rassentrennung wurde zum Existenzprinzip des gesamten Staates. Ob es darum ging, ein Haus zu kaufen, sich zu verlieben, eine Ausbildung anzufangen oder zu entscheiden, auf welcher Parkbank man saß – es gab fast keinen Lebensbereich in Südafrika(3), der nicht von der Regierung reguliert war. Die Herrschaft der Weißen wurde zum Ausdruck göttlichen Willens überhöht. Indem afrikaanische Kirchenmänner fälschlich Calvin(18) eine Lehre zuschrieben, dass bestimmte Völker mit größerer Wahrscheinlichkeit gerettet würden als andere, ermöglichten sie es Befürwortern der Apartheid, diese als durch und durch christlich zu empfinden. Für sie war Apartheid kein Ausdruck von Rassismus, sondern von Liebe: das Bemühen darum, den unterschiedlichen ›Rassen‹ Südafrikas(4) die »getrennte Entwicklung« zu ermöglichen, die sie jeweils brauchten, um zu Gott zu gelangen. Was die Apartheid aufrecht erhielt, waren letztlich weder Gefängnisse noch Gewehre noch Hubschrauber noch Polizeihunde. Die Apartheid wurde durch Theologie aufrechterhalten.

»Vollkommen unchristlich, böse, eine Häresie.«[22] Diese von Tutu(2) vorgeschlagene und von der anglikanischen Kirche(3) verabschiedete Verurteilung von Apartheid(5) konnte von Anhängern der Regierung leicht als hilfloses Geschwafel abgetan werden. Doch tatsächlich war es etwas sehr viel Verhängnisvolleres: ein Posaunenstoß der Art, der die Mauern von Jericho zum Einsturz gebracht hatte. Wenn es ein theologisches Konstrukt war, auf dem Apartheid aufbaute, dann benötigte man auch zu ihrer Abschaffung ein theologisches Konstrukt. Ein ungerechtes Regierungssystem stand verdammt vor dem Thron Gottes. »Es handelt sich nicht um eine legitime Herrschaft, sondern um eine Usurpation.«[23] Diese Worte stammten von Calvin selbst. Als sowohl schwarze wie weiße Geistliche den von den Afrikaanern(2)(6) am meisten bewunderten Theologen zitierten und dazu in der Lage waren, in akribischen und juristischen Einzelheiten zu zeigen, dass sich in seinen Schriften keinerlei Unterstützung für Rassentrennung finden ließ, sondern lediglich das genaue Gegenteil: harte, kompromisslose Ablehnung, wurde dem Apartheids-Regime ein Hammerschlag versetzt, der ebenso entscheidend war wie alles, was bewaffnete Rebellen bewirken konnten.

Das war eine Lektion, die Nelson Mandela(1), der gefeiertste und wichtigste aller südafrikanischen(7) Revolutionäre, verinnerlicht hatte. Er hatte seit seiner Verurteilung wegen Sabotage im Jahr 1964 hinter Schloss und Riegel gesessen. Im Gefängnis hatte er auf feuchtem Beton geschlafen und Zwangsarbeit verrichtet; seine Sehfähigkeit war durch die grelle Sonneneinstrahlung in dem Steinbruch, in dem er hatte schuften müssen, auf Dauer beeinträchtigt; doch er war während dieser langen Jahrzehnte in Haft zu der Erkenntnis gelangt, dass womöglich Vergebung die konstruktivste, wirkungsvollste und vernichtendste Strategie überhaupt war.

Mandela(2), ein Methodist(1) diskreten, dabei unbedingten Glaubens, hatte in seiner Zelle Zeit genug, um die Bibel zu lesen und über die Lehren Christi nachzudenken. »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ›Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‹ Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet.«[24] Als im Jahr 1989 das Vertrauen der Buren(3)(8) in die Apartheid als einen Ausdruck göttlichen Willens brüchig geworden war und ein neuer Präsident, F. W. de Klerk(1), verzweifelt versuchte, den Plan Gottes zu verstehen, war Mandela bereit, entsprechend seinen langen Jahren des Nachdenkens aktiv zu werden. Am 11. Februar 1990 wurde er endlich freigelassen, und als er in die Welt zurückkehrte, war er entschlossen, auch all seine Bitterkeit, all seinen Hass hinter sich zu lassen. Als er mit denen zusammentraf, die ihn siebenundzwanzig Jahre lang im Gefängnis festgehalten und die sein Volk viele, viele Jahre länger unterdrückt hatten, geschah das im Vertrauen auf die heilende Kraft der Vergebung.

Das Ende der Apartheid und 1994 die Wahl Mandelas(3) zu Südafrikas(9) erstem schwarzen Präsidenten war eines der herausragenden Dramen in der Geschichte des Christentums: ein Drama, das mit deutlichen Anspielungen auf die Evangelien durchwoben war. Ohne Darsteller, die mit dem ihnen vorgegebenen Drehbuch seit Langem vertraut waren, hätte es nicht gelingen können. »Wenn ein Geständnis abgelegt wird, dann müssen diejenigen unter uns, denen Unrecht angetan wurde, sagen: ›Wir vergeben euch.‹«[25] Hätte de Klerk(2) nicht sicher gewusst, dass Tutu(3) sich in diesem Sinne äußern würde, dann hätte er es womöglich nie gewagt, das Schicksal seines Volks der Bereitschaft der schwarzen Südafrikaner(10) anzuvertrauen, diesem seine Sünden zu vergeben. Derselbe Glaube, der die Buren(4) dazu inspiriert hatte, sich als auserwähltes Volk zu verstehen, hatte auf lange Sicht ihre Vorherrschaft zum Untergang verurteilt. Das Muster war nicht neu. Sei es bei der Zerstörung Tenochtitlans, bei der Besiedlung von Massachusetts oder beim Vordringen in die Provinz Transvaal(2)(11) – immer wieder leitete sich die Zuversicht, welche die Europäer dazu befähigte, sich jenen überlegen zu fühlen, die sie verdrängten, aus dem Christentum ab. Doch immer wieder war es im Kampf darum, dieser Anmaßung die Stirn zu bieten, ebenfalls das Christentum, das den Kolonisierten und Versklavten ihre markanteste Stimme verlieh.

Es war zutiefst paradox. Keine anderen Eroberer, die sich Reiche aneigneten, hatten das im Dienst eines Mannes getan, der auf Befehl eines Kolonialbeamten zu Tode gefoltert worden war. Keine anderen Eroberer, die verächtlich die Götter anderer Völker abtaten, hatten an deren Stelle eine anzubetende Gottheit eingesetzt, die so ambivalent war, dass sie die Idee von Macht an sich problematisch werden ließ. Keine anderen Eroberer, die das ihnen eigene Verständnis des Göttlichen exportierten, hatten so erfolgreich Völker rund um den Globus davon überzeugt, dass ihre Religion von universeller Bedeutung war. Als Mandela(4) einen Monat vor seiner Amtseinführung als Präsident nach Transvaal(3)(12) reiste, um dort in der heiligen Stadt Moria(2) Ostern zu feiern, verneigte er sich vor Christus als einem Erlöser, der für die ganze Welt gestorben war. »Ostern ist ein Fest der menschlichen Solidarität, denn es feiert die Erfüllung der Frohen Botschaft! Der Frohen Botschaft, die von unserem auferstandenen Messias ausgeht, der nicht eine Rasse, nicht ein Land, nicht eine Sprache, nicht einen Stamm erwählt hat, sondern die gesamte Menschheit!«[26]

Ironischerweise wurden jedoch zur selben Zeit, als Mandela Ostern als ein Fest für die ganze Welt beging, die Eliten in den alten Hochburgen der Christenheit immer nervöser, wenn eine solche Sprache verwendet wurde. Das lag nicht daran, dass sie aufgehört hatten, an die Universalität ihrer Werte zu glauben. Ganz im Gegenteil. Der Zerfall der Apartheid war nur ein Nachbeben eines sehr viel tiefergreifenden Erdbebens gewesen. Im Jahr 1989, als de Klerk beschloss, Mandela freizulassen, brach die Sowjetunion(4) zusammen. Polen(3), die Tschechoslowakei(1), Ungarn(14): Sie alle warfen die Ketten der Fremdherrschaft ab. Ostdeutschland, ein Rumpfstück, das die Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg abgetrennt hatten, wurde in ein wieder vereinigtes – und durch und durch kapitalistisches – Deutschland(37) absorbiert. Die Sowjetunion selbst gab es nicht mehr. Der Kommunismus(12) war auf der Waage der Geschichte für zu leicht befunden worden. Für de Klerk(3), den frommen Calvinisten(9), war im Weltgeschehen ganz deutlich die Schrift der Hand Gottes offenbar geworden.

Die politischen Entscheidungsträger in Amerika und Europa zogen jedoch eine andere Lehre daraus. Dass das von Marx verheißene Paradies auf Erden sich eher als Hölle entpuppt hatte, zeigte nur das Ausmaß, in welchem die wahre Erfüllung des Fortschritts anderweitig aufzufinden war. Nun, da der Kommunismus(13) besiegt war, schien für viele im siegreichen Westen festzustehen, dass es ihre eigene politische und gesellschaftliche Ordnung war, welche die ultimative, die nicht weiter verbesserbare Regierungsform darstellte. Säkularismus, liberale Demokratie, die Idee der Menschenrechte: All das konnte von der ganzen Welt umschlungen werden. Das Erbe der Aufklärung gehörte allen, es war ein Besitz der gesamten Menschheit. Dieses Erbe wurde vom Westen nicht deswegen beworben, weil es westlich, sondern weil es universell war. Die gesamte Welt konnte von seinen Früchten profitieren. Es war ebensosehr hinduistisch, konfuzianisch oder muslimisch, wie es christlich war. Es gab weder Asiaten noch Europäer. Eine vereinte Menschheit hatte einen gemeinsamen Weg eingeschlagen.

Das Ende der Geschichte war eingetreten.

Die Verwaltung des Unzivilisierten

»Warum hassen sie uns?«

Der Präsident(1) der Vereinigten Staaten(31) wusste bei seiner Rede vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses, dass er für Amerikaner im ganzen Land sprach, als er diese Frage stellte. Neun Tage zuvor, am 11. September, hatte eine islamische Gruppierung namens al-Qaida(1) eine Reihe verheerender Angriffe gegen Ziele in New York(1) und Washington(1) unternommen. Flugzeuge waren entführt und dann ins World Trade Center(1) und ins Pentagon(1) geflogen worden. Tausende kamen ums Leben. George W. Bush(2), der keinerlei Zweifel an den Motiven der Terroristen hegte, beantwortete seine Frage selbst. Sie hassten die Freiheiten Amerikas: die Religionsfreiheit, die Redefreiheit in seinem Land. Dabei waren diese Freiheiten doch gar keine ausschließlich amerikanischen, sondern universale Rechte. Sie waren ebenso das Erbe von Muslimen(11) wie von Christen, von Afghanen(2) wie von Amerikanern. Der Hass auf Bush und sein Land in weiten Teilen der islamischen Welt beruhte also auf einem Missverständnis. »Wie die meisten Amerikaner kann ich es nicht fassen, weil ich weiß, wie gut wir sind.«[27] Wenn amerikanische(32) Werte universal waren und von allen Menschen weltweit geteilt wurden, ohne Ansehen von Religion oder Kultur, dann war es doch nur logisch, dass sie auch von Muslimen geteilt wurden.

Als Bush(3) über die Terroristen zu Gericht saß, die sein Land angegriffen hatten, verurteilte er sie nicht nur dafür, dass sie Flugzeuge entführt, sondern dass sie auch den Islam(14) selbst gekapert hatten. »Wir respektieren die Religion. Wir ehren ihre Traditionen. Unser Feind tut das nicht.«[28] In diesem Geist wollte der Präsident, während er noch die amerikanische(33) Kriegsmaschinerie anwies, an al-Qaida(2) fürchterliche Rache zu üben, der muslimischen Welt Freiheiten bringen, von denen er in aller Frömmigkeit annahm, dass sie nicht weniger islamisch als westlich waren. Erst in Afghanistan(3), dann im Irak(2) wurden mörderische Tyranneien gestürzt. Als die amerikanischen Streitkräfte im April 2003 in Bagdad(1) eintrafen, rissen sie Statuen des abgesetzten Diktators um. Während sie darauf warteten, dass ihnen ein dankbares Volk Naschwerk und Blumen überreichte, warteten sie auch darauf, dem Irak die Pflichten der Freiheit zu übermitteln, von denen Bush ein Jahr zuvor gesagt hatte, dass sie in vollem Umfang für die gesamte islamische Welt galten. »In der Frage der gemeinsamen Rechte und Bedürfnisse von Männern und Frauen gibt es keinen Zusammenstoß der Kulturen.«[29]

Allerdings fielen Naschwerk und Blumen in den Straßen des Irak(3) vor allem durch ihre Abwesenheit auf. Stattdessen wurden die Amerikaner(34) mit Mörserangriffen, Autobomben und improvisierten Sprengkörpern begrüßt. Das Land begann, in Anarchie zu versinken. In Europa, wo man lautstark gegen die Invasion im Irak protestiert hatte, sah man die Aufstände mit häufig kaum verhohlener Genugtuung. Schon vor 9/11 hatten viele das Gefühl, die Vereinigten Staaten(35) hätten es »nicht anders verdient«.[30] 2003, als amerikanische Soldaten zwei muslimische Länder besetzten, wurde die Beschuldigung, Afghanistan(4) und der Irak seien Opfer eines nackten Imperialismus, immer nachdrücklicher. All das betuliche Gerede des Präsidenten von Freiheit war doch nichts weiter als eine Nebelwand. Dahinter mochte sich vieles verbergen: Öl, Geopolitik, die Interessen Israels. Aber auch wenn Bush(4) ein abgebrühter Geschäftsmann war, ging es ihm doch nicht nur um den Jahresabschluss.

Seine eigentliche Inspirationsquelle hatte er nie verschwiegen. Als er während seiner Präsidentschaftskandidatur gefragt wurde, wer für ihn der wichtigste Denker war, antwortete er ohne zu zögern: »Christus, weil er mein Herz verwandelt hat.«[31] Da sprach ganz offenkundig ein Evangelikaler(14). Bush(5) war in seiner Annahme, die Idee der Menschenrechte sei universal, vollkommen aufrichtig. Wie die Evangelikalen, die darum gekämpft hatten, den Sklavenhandel abzuschaffen, ging er selbstverständlich davon aus, dass seine eigenen Werte – die ihm im Herzen durch den Heiligen Geist zugesprochen worden waren – Werte waren, die für die ganze Welt passten. Er hatte ebensowenig die Absicht, dem Irak(4) das Christentum zu bringen, wie britische Außenminister in der Hochphase der Kampagne der Royal Navy gegen die Sklaverei beabsichtigt hatten, das osmanische Reich zu bekehren. Sein Ziel war vielmehr, in den Muslimen(12) ein Bewusstsein für die Werte innerhalb ihrer eigenen Religion zu wecken, das es ihnen ermöglichen würde, all das zu erkennen, was sie mit Amerika(36) gemeinsam hatten. »Der Islam(15), wie er von der großen Mehrheit der Menschen praktiziert wird, ist eine friedliche Religion, eine Religion, die andere respektiert.«[32] Wenn Bush aufgefordert worden wäre, seinen eigenen Glauben zu beschreiben, wäre die Formulierung wahrscheinlich ähnlich ausgefallen. Welches größere Kompliment hätte er Muslimen also überhaupt machen können?

Doch die Herzen der Iraker(5) wurden nicht für die Ähnlichkeit des Islam(16) mit amerikanischen(37) Werten geöffnet. Die Brände in ihrem Land loderten unvermindert weiter. Bushs(6) Kritiker fanden seine Formulierung von einem Krieg gegen das Böse grotesk unangemessen. Wenn irgendjemand Böses getan hatte, dann mit Sicherheit das Oberhaupt der größten Militärmacht der Welt, ein Mann, der alle ihm zur Verfügung stehenden irrsinnigen Ressourcen dazu benutzte, Tod und Verderben über die Ohnmächtigen zu bringen. Allein im Jahr 2004 bombardierten die amerikanischen(38) Streitkräfte im Irak eine Hochzeitsfeier, machten eine ganze Stadt dem Erdboden gleich und wurden dabei fotografiert, wie sie Gefangene folterten. Viele gewannen den Eindruck, dass Gewalt schon immer das Wesensmerkmal des Westens gewesen sei.

»Der Wohlstand und der Fortschritt Europas sind mit dem Schweiß und den Leichen der Schwarzen, der Araber, der Inder und der Asiaten errichtet worden.«[33] So Frantz Fanon(1), ein Psychiater aus der französischen Karibik(4), der sich 1954 der algerischen Revolution gegen Frankreich(42) angeschlossen und sein Leben dem Ziel geweiht hatte, die Kolonisierten gegen ihre Kolonisatoren aufzuwiegeln. Auf Rebellen, die sich nicht mehr mit Gerede von Frieden und Versöhnung hinhalten lassen wollten, wirkte Fanons Insistieren darauf, dass wahre Befreiung aus ihrer Knechtschaft nur durch einen bewaffneten Aufstand zu erreichen war, als erfrischendes Gegengift gegen den Pazifismus eines Martin Luther King(13). Allerdings war diese Botschaft nicht nur bei den Kolonisierten angekommen. Fanon galt bei vielen im Westen, die sich als progressive Vorhut verstanden, als Prophet. »Der Kolonialismus ist die Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren Gewalt beugen.«[34]

Fanons(2) Analyse des Imperialismus war für Bushs(7) radikalere Kritiker ebenso scharfsichtig wie vorausahnend. Die Besetzung des Irak(6) war nur ein weiteres blutbeflecktes Kapitel in der Geschichte der Kriminalität des Westens. Wer die Besatzungstruppen mit Autobomben oder Entführungen ins Visier nahm, kämpfte für die Freiheit. Wie sollten ohne bewaffneten Widerstand die Ketten des Imperialismus je abgeschüttelt und die »Verdammten dieser Erde« befreit werden? Wer dem zustimmte, der anerkannte auch – wie die »Stop the War Coalition«, eine englische Aktivistengruppe, es im Herbst 2004 formulierte – »die Zulässigkeit des Kampfs der Iraker mit allen Mitteln, die sie für notwendig halten, um diese Ziele zu erreichen«.[35]

Allerdings stand diese Rhetorik im Schatten einer wohlbekannten Ironie. Wovon ging man aus, wenn man unterstellte, dass Imperien böse waren? Gerade im Irak(7) war die Überzeitlichkeit des Imperialismus offenkundig. Perser, Römer, Araber, Türken: Alle hatten ihr Recht auf Herrschaft als selbstverständlich angesehen. Die Bereitschaft von Kriegsgegnern, den Westen wegen seines kolonialistischen Abenteurertums zu verurteilen, leitete sich nicht vom geistigen Erbe der kolonisierten Länder, sondern von dem der Kolonisatoren ab. Hinreichend deutlich wurde das an der Biographie Fanons(3). Er war zwar auf Martinique(1) geboren und aufgewachsen, doch seine Ausbildung war tadellos französisch. Seine Vision von Terror als einem Mittel, die Welt von allem Schmutz zu befreien, Unterdrückung zu beenden, die Armen zu erhöhen und die Reichen zu stürzen, wäre für Robespierre völlig vertraut gewesen. Fanon jedoch, ein Mann von seltener intellektueller Aufrichtigkeit, hatte auch die eigentliche Quelle seiner revolutionären Tradition erkannt. Zwar verachtete er Religion, wie es wohl für einen Mann, der seine Schulzeit in einer Bibliothek verbracht hatte, auf welcher der Name Voltaire prangte, nicht anders denkbar war, doch erzogen worden war er als Katholik. Er hatte die Bibel gelesen. Als er erklärte, was »Entkolonialisierung« bedeutet, hatte er sich der Worte Jesu bedient. »Ihre Definition ist, wenn man sie genau beschreiben will, in dem altbekannten Satz enthalten: ›Die Letzten werden die Ersten sein.‹«[36]

Wer also meinte, die Aufstände im Irak(8) seien eine Dekolonisierungskampagne im Sinne Fanons(4), der sah die muslimische Welt durch eine Brille, die kaum weniger christlich gefärbt war als diejenige Bushs(8). Aufständische, die gegen die Amerikaner(39) kämpften, lehnten tendenziell nicht Imperien als solche ab, sondern lediglich Imperien, die nicht islamisch waren. Muslime(13) hatten wie Christen ihre Träume von der Apokalypse, doch diese nährten auf den Schlachtfeldern des Irak(9) nicht Phantasien von einer gesellschaftlichen Revolution, sondern vielmehr von weltweiter Eroberung. Wie die Welt einst gewesen war, so würde sie wieder sein. Der Kampf gegen die Amerikaner(40) war eine Spiegelung der Kämpfe in den frühen Jahrhunderten des Islam(17) gegen die Römer und gegen die Kreuzfahrer – und eine Vorahnung dessen, was noch kommen sollte.

»Hier im Irak(10) wurde der Funke entzündet, und seine Hitze wird – mit Allahs Zustimmung – weiterhin zunehmen, bis er die Kreuzfahrerheere in Dabiq(1) verbrennt.«[37] Diese bombastische Prophezeiung, ausgesprochen von einem Rebellen namens Abu Musab al-Zarqawi(1), zwei Wochen bevor »Stop the War« ihm und seinen paramilitärischen Kampfgenossen Unterstützung zusicherte, brachte eine altehrwürdige Sehnsucht zum Ausdruck: dass nämlich die ganze Welt dahin zu bringen war, sich dem Islam(18) zu unterwerfen. Dabiq war eine kleine Stadt in Syrien(5), wo – so ein angeblich von Mohammed(14) stammender Ausspruch – die Heere der Christenheit in einer letzten Niederlage endgültig vernichtet werden würden(2). Das Reich des Islam würde dann die ganze Welt umfassen. Die letzten Tage würden anbrechen; Gottes Pläne würden endlich in Erfüllung gehen.

Al-Zarqawi behauptete, er habe in einem Traum gesehen, dass ein Schwert vom Himmel auf ihn herabgesenkt worden sei. Die Wirklichkeit sah schäbiger aus. Al-Zarqawi, ein Schläger und Vergewaltiger, erfreute sich an so grausigen Abscheulichkeiten, dass sogar al-Qaida(3) sich schließlich von ihm distanzierte. Allerdings hatten seine Bombardierungen und Enthauptungen Methode. Zwar konnte er kaum lesen und schreiben, hatte jedoch eine ausgezeichnete Ausbildung durch einen der einflussreichsten muslimischen Radikalen erhalten. Als al-Zarqawi(2) 1994 festgenommen wurde, weil er Terroranschläge in Jordanien(1) plante, stand er neben einem palästinensischen(3) Gelehrten namens Abu Muhammad al-Maqdisi(1) vor Gericht. Fünf Jahre lang, während er seine Haftstrafe absaß, wurde er von al-Maqdisi über die Krise belehrt, in der sich der Islam(19) befand. Die Muslime(14) hatten zwar von Gott ein vollkommenes, ewiges Gesetz empfangen, doch waren sie dazu verführt worden, Gesetzen zu gehorchen, die von Menschen stammten. Sie waren, so al-Maqdisis Warnung, wie Christen geworden: Ungläubige, die Gesetzgeber als ihre Herren ansahen »anstelle von Gott«.[38] Regierungen in der gesamten muslimischen Welt hatten Verfassungen übernommen, die in direktem Widerspruch zur Sunna standen. Und schlimmer noch: Sie hatten sich internationalen Körperschaften angeschlossen, die trotz ihrer Behauptung, neutral zu sein, Muslimen fremde Gesetzgebungen aufdrängten. Am bedrohlichsten waren die Vereinten Nationen(1).

Die Organisation war nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden, und ihre Abgeordneten hatten eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert. Als treuer Muslim(15) wusste man jedoch, dass Menschen keine Rechte haben. Es gab im Islam(20) kein Naturrecht. Es gab nur von Gott verfasste Gesetze. Muslimische Länder, die den Vereinten Nationen(2) beigetreten waren, hatten sich auf eine Unzahl von Verpflichtungen eingelassen, die sich nicht aus dem Koran oder der Sunna, sondern aus Gesetzeswerken ableiteten, die in Ländern des Christentums entwickelt worden waren: Mann und Frau sollten gleichberechtigt sein; Muslime und Nicht-Muslime sollten gleichberechtigt sein; Sklaverei war verboten; Angriffskriege waren verboten. Dergleichen Lehren, so das Diktum al-Maqdisis(2), hatten im Islam nichts zu suchen. Wer sich auf sie einließ, war ein Abtrünniger. Nachdem al-Zarqawi(3) 1999 aus dem Gefängnis entlassen wurde, vergaß er die Warnungen al-Maqdisis nicht. Im Jahr 2003 startete er seinen Feldzug im Irak(11) und wählte ein leicht verwundbares, bezeichnendes Ziel. Am 19. August zerstörte eine Autobombe das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Der Sonderbeauftragte der UN(3) wurde in seinem Büro zermalmt. Zweiundzwanzig weitere Personen wurden ebenfalls getötet. Über hundert wurden verkrüppelt oder verwundet. Kurz danach zogen sich die UN aus dem Irak zurück.

»Wir kämpfen nicht gegen eine Religion, nicht gegen den muslimischen Glauben.«[39] Diese Versicherung von Präsident Bush(9), die er vor der Invasion in den Irak(12) abgegeben hatte, nahm al-Zarqawi(4) ihm nicht einmal ansatzweise ab. Was die meisten Menschen im Westen unter dem Islam(21) verstanden, und was Gelehrte wie al-Maqdisi(3) darunter verstanden, war ganz und gar nicht dasselbe. Was in Bushs Augen Aspekte waren, die auf eine Vergleichbarkeit mit westlichen Werten hinwiesen, machte auf al-Maqdisi den Eindruck eines schnell metastasierenden Krebsgeschwürs. Seit eineinhalb Jahrhunderten, seitdem sich die ersten muslimischen Herrscher dazu hatten überreden lassen, die Sklaverei abzuschaffen, hatte sich der Islam auf einem zunehmend protestantischen Kurs befunden. Die Auffassung, dass der Geist den Buchstaben des Gesetzes übertrumpft, hatte sich bei Muslimen(16) weltweit im großen Umfang durchgesetzt. Dadurch konnten Reformer argumentieren, dass sämtliche Bräuche, die zwar tief in der islamischen Gesetzgebung verankert waren, aber im Widerspruch zu den Satzungen der Vereinten Nationen(4) standen, tatsächlich gar nicht islamisch sein könnten. Für al-Maqdisi(4) war das Schauspiel von muslimischen Regierungen, welche die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder die Gleichstellung des Islam und anderen Religionen gesetzlich verankerten, eine monströse Gotteslästerung. Die gesamte Zukunft der Welt stand auf dem Spiel. Gottes endgültige Offenbarung, die letzte Chance, die der Menschheit noch blieb, um der Verdammung zu entgehen, war unmittelbar bedroht. Helfen konnte nur noch die Rückkehr zur Schrift: Man musste den Islam von allen Nesseln und Dornen befreien, die im Lauf der Jahrhunderte die reine Offenbarung überwuchert hatten, wie sie die ersten Muslime – die »Altvorderen«, Salaf – gekannt hatten. Erforderlich war eine reformatio.

Als die Salafisten(1) sich daranmachten, den Islam(22) von fremden Einflüssen zu säubern, konnten sie also nicht umhin, für diese Einflüsse Zeugnis abzulegen. Die Islamwissenschaftlerin Kecia(1) Ali formulierte: »Der moderne Islam ist eine zutiefst protestantische Tradition.«[40] Über ein Jahrtausend hinweg hatten Muslime(17) als selbstverständlich angenommen, dass die Lehren ihres Din sich vom Konsens der Gelehrten bezüglich der Bedeutung des Koran(11) und der Sunna(5) ableiteten. Infolgedessen hatte sich um diese ursprünglichen Texte im Lauf der Jahrhunderte ein immenses Corpus an Kommentaren und Interpretationen angesammelt. Mit dem Ziel, eine ursprüngliche Form des Islam wiederherzustellen, waren die Salafisten(2) entschlossen, diese Hülle abzureißen. Al-Zarqawi(5) – bewaffnet mit den Bomben und Messern, die ihm bei den Irakern(13) den Namen »Scheich der Schlächter« eingebracht hatten – war sicherlich eine Ausnahme hinsichtlich der Brutalität, mit der er dieses Ziel anging. Doch obwohl er in der muslimischen Welt weitgehend abgelehnt wurde, gab es manche, die sein Beispiel bewunderten. Seine Tötung durch einen gezielten Angriff amerikanischer Kampfflugzeuge konnte die Hydra nicht umbringen. Unter der Oberfläche eines Irak, der im Jahr 2011 einen weitgehend befriedeten Eindruck machte, lauerte sie(3) und wartete den richtigen Augenblick ab.

Ihre Stunde war gekommen, als sich im selben Jahr der Griff der Diktatur, die seit Langem die Herrschaft in Syrien(6) innehatte, lockerte und das Land implodierte. Al-Zarqawis(6) Gefolgsmänner nutzten ihre Chance. Im Jahr 2014 waren sie zu Herrschern über ein Reich(1) geworden, das einen großen Teil Syriens und weite Bereiche des Nordirak umfasste. Mit blutiger Pedanterie machten sie sich daran, das Land in einen Staat zu verwandeln, aus dem jegliche Spur von Fremdeinfluss, jeder Hinweis auf ausländische Gesetzgebung getilgt war: einen islamischen Staat. Das Einzige, was zählte, war das Beispiel der Salaf(4). Wenn al-Zarqawis(7) Schüler die Statuen heidnischer Götter zerschmetterten, folgten sie dem Beispiel Mohammeds; wenn sie sich zu Stoßtrupps eines angestrebten globalen Reichs stilisierten, folgten sie dem Beispiel der Krieger, die Herakleios gedemütigt hatten; wenn sie feindliche Kämpfer enthaupteten, die Dschizya wieder einführten und die Frauen besiegter Gegner als Sklavinnen nahmen, dann taten sie nichts, worin sich nicht auch die ersten Muslime(18) gefallen hätten.

Die einzige Straße, die in eine unbefleckte Zukunft führte, war jene, die zurückführte in eine unverdorbene Vergangenheit. Von den Evangelikalen(15), die mit ihren Kanonenbooten und ihrem Gerede von Verbrechen gegen die Menschheit in die muslimische Welt eingebrochen waren, durfte nichts übrigbleiben. Nur noch die Schrift zählte. Allerdings war es gerade die Buchstäblichkeit, mit welcher der Islamische Staat(2) die verschwundenen Herrlichkeiten des arabischen(18) Imperiums wiederaufleben lassen wollte, die ihn so unglaubwürdig machte. Von den Schönheiten, dem Scharfsinn, der Kultiviertheit, für welche die islamische Kultur immer berühmt gewesen war, fand sich nicht die mindeste Spur. Der Gott, den sie verehrten, war nicht der Gott der muslimischen Philosophen und Dichter, ein gnädiger und all-erbarmender Gott, sondern ein Schlächter. Der Freibrief, auf den sie sich für ihre Brutalität beriefen, stammte nicht aus dem unvergleichlichen Erbe islamischer Gelehrsamkeit, sondern aus einer bastardisierten Fundamentalismus-Tradition, die im Kern protestantisch war. Der Islamische Staat war vielleicht tatsächlich islamisch, aber er stand auch in einer Abstammungslinie vom anabaptistischen Münster. Möglicherweise war das die grausigste Ironie in der gesamten Geschichte des Protestantismus(66).

Wie Nietzsche verstanden die Terroristen des Islamischen Staats(3) die Frömmeleien der Kultur des Westens – die Sorge um die Leidenden, das Geschwätz von Menschenrechten – als Quelle einer furchtbaren und widerlichen Macht. Wie de Sade hatten sie begriffen, dass der sicherste Schlag, den sie dieser Kultur versetzen konnten, die Zurschaustellung ausgelassener und skrupelloser Grausamkeit war. Das Kreuz musste vom Christentum erlöst werden. Im Koran war es wieder das, was es unter den Caesaren gewesen war: Zeichen einer durch und durch legitimen Bestrafung. »Der Lohn derjenigen, die Krieg führen gegen Allah und Seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften, ist der, dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden …«[41] Wohin auch immer der Islamische Staat mit seiner Gerechtigkeit vordrang, wurden grob gezimmerte Kreuze aufgerichtet. Verbrecher und Heiden wurden daran festgebunden. Vögel sammelten sich auf den Kreuzbalken. Leichen verrotteten in der Sonne.

Einige Gefangene erlitten aber auch eine noch öffentlichere Bestrafung. Am 19. August 2014 erschien ein Video im Internet. Es zeigte James Foley(1), einen amerikanischen Journalisten. Er kniete vor einem maskierten, ganz in Schwarz gekleideten Mann, der ein Messer in der Hand hielt. Der Mann – er sprach mit einem englischen Akzent – klagte Amerika(41) seiner Verbrechen an, und dann – im Off – hackte er Foleys Kopf ab. Weitere Morde, ebenfalls ins Internet hochgeladen, schlossen sich in den folgenden Wochen an. Der Mörder – im Jahr danach stellte sich heraus, dass es sich um einen Londoner namens Mohammed Emwazi(1) handelte – war den Unglücklichen in seinem Gewahrsam als »John« bekannt. Die drei Männer, die mit ihm als Wachen tätig waren – alle waren wie Emwazi maskiert und sprachen mit englischem Akzent –, hatten die Spitznamen »Paul«, »George« und »Ringo«. Die ganze Gruppe hieß natürlich »Die Beatles(9)«.

Innerhalb weniger Tage nach der Ermordung Foleys(2) erschien der noch anonyme Emwazi(2) in den Schlagzeilen weltweit als »Jihadi John«. Es war ein bezeichnendes Attribut. In Berichten von Foleys Tod kamen seine katholische Kindheit und Jugend nicht vor, ebensowenig, wie ihm während einer vorausgegangenen Phase als Geisel seine Gebete die Sicherheit verschafft hatten, dass er »aufgrund einer kosmischen Verbindung des Universums« mit seiner Mutter kommunizieren konnte.[42] Mother Mary comes to me. Für die Außenwelt war die Gotteslästerlichkeit von Foleys Schicksal(3) nicht gegen den Herrn gerichtet, der, wie die Christen glaubten, demütigend und öffentlich getötet worden war, sondern gegen etwas ganz Nebulöses: die Überzeugung, dass alles, was alle brauchten, Liebe war, und dass man dem Frieden eine Chance geben sollte. »Das ist Bullshit. Was die da draußen machen, widerspricht allem, wofür die Beatles(10) standen.«[43] So lautete der Protest eines entrüsteten Ringo Starr(2). Sein Namensvetter stimmte ihm zu. Nach seiner Gefangennahme wurde »Ringo« gefragt, wie er es fand, den Namen eines Beatles als Spitznamen zu haben. »Ich höre keine Musik«, erwiderte er in dumpf-monotonem Tonfall, »ich rede also lieber nicht über eine Rockband.« Dann jedoch, nach einer langen Pause, zog er plötzlich die Augenbrauen hoch und warf einen schnellen Blick auf das Mikrophon. »John Lennon(11) würde es nicht gefallen.«[44]

Aber etwas anderes hatte man ja auch gar nicht beabsichtigt.