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Valentina

D ie Motorboote rauschten über den Slave River, und Valentina war froh über ihre Funktionsjacke. Der Wind raute das Wasser auf, und die Sonne glitzerte auf den Wellenkämmen.

Ein Kleinbus hatte sie vom Flughafen in Fort Chipewyan in weniger als zehn Minuten zum Ufer des Athabasca-Sees gefahren. Dort hatten zwei Motorboote vertäut gelegen, auf die sie sich mit ihren Rucksäcken gleichmäßig aufgeteilt hatten. Aus einem der braunen Pappkartons hatte Nick für jeden von ihnen ein Bärenspray und eine Gaskartusche geholt.

Hauptsache, sie waren vom Flughafen weg. Die Pilotin hatte Ole für Valentinas Geschmack einmal zu häufig angelächelt. Valentina hatte ihn zu lange nicht gesehen – sie war mal besser darin gewesen, einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, wenn sich jemand an Ole heranmachte.

Jetzt waren sie schon mehr als zwei Stunden unterwegs, und die Landschaft um sie herum sah immer noch gleich aus. Der Fluss wurde von Schilf gesäumt und war mehr als hundert Meter breit, dahinter begann direkt der Wald. Dunkelgrüne Nadelbäume, ein paar Birken, wie sie auch in Deutschland standen. Es schien Valentina, als könnten sie fahren, bis das Benzin ausging, und trotzdem nirgendwo ankommen.

Da mussten Vögel und andere Tiere um sie herum sein, aber Valentina hörte sie nicht. Sogar das Dröhnen des Motors klang leiser in der Weite. Als wollte der Wald ihnen zeigen, wie gleichgültig er ihrem lärmendem Boot gegenüber war. Vor ihnen Stille, nach ihnen Stille. Der Wald war geduldig, und sie waren nichts.

Ihre Finger und Ohren waren kalt, und sie zog sich die Kapuze über den Kopf und steckte die Hände in die Jackentaschen.

Mit ihr im Boot saßen Kristina, Alexander und Ole. Außerdem Jacob, der noch immer seine Sneaker an die Brust presste. Beim Anblick der Boote hatte er sich die Sneaker von den Füßen gerissen und zu Wanderschuhen gewechselt, der Trottel.

Der Fahrer drosselte den Motor und steuerte in einem Bogen auf das Ufer zu. Das andere Boot tat es ihm gleich. Ein Steg war nicht erkennbar, aber das Schilf wich an dieser Stelle einem Steinvorsprung.

Nick warf seinen Rucksack an Land und sprang hinterher. Der Sprung war nicht besonders weit, und allen aus Valentinas Boot gelang er mühelos, nur Peter musste Nick an dessen schmutziger Outdoorjacke packen, damit er nicht ins Wasser rutschte. Jacob machte mit seinen Sneakern in der Hand einen extra großen Sprung. Kristina dokumentierte das Aussteigen mit ihrer Einwegkamera.

»Bis in drei Wochen«, rief einer der Bootsführer, bevor sie mit einem Winken wendeten.

Das Röhren der Motoren verstummte zuerst, ein wenig später brachen sich die letzten von den Booten erzeugten Wellen an dem Stein unter ihren Füßen.

Niemand sagte etwas. Vor ein paar Stunden waren sie noch in einer menschengemachten Maschine mit gepolsterten Sitzen durch den Himmel geflogen. Jetzt standen sie mit den Füßen im Matsch. Mit allem, was sie für die nächsten fünf Tage brauchten, auf dem Rücken. Hoffentlich.

Nick lächelte in die Runde. »Drei Dinge, bevor wir loslaufen. Erstens: der GPS -Notfall-Beacon.« Er reckte ein handygroßes Kästchen in die Höhe. »Die Bedienung ist denkbar einfach. Ihr klappt die Kappe mit der Beschriftung ›SOS ‹ nach oben und drückt den Knopf darunter, bis das Gerät anfängt zu blinken. Kapiert? Gut. Dann bräuchte ich noch jemanden, der den Beacon trägt.«

Ole meldete sich sofort. Mit einem nervösen Flattern im Bauch sah Valentina ihm dabei zu, wie er das Gerät vorsichtig verstaute. Wenn Nick etwas passierte, dann war das Gerät ihre einzige realistische Hoffnung, es lebendig aus dem Wald zu schaffen.

»Zweitens: Ich brauche auch jemanden, der den Handspaten trägt.« Er hielt das Gerät nach oben. »Wenn ihr austreten müsst, dann entfernt euch hundert Schritte von Gewässern, Schlaf- und Essensstätten, grabt ein Loch und schüttet es hinterher wieder zu.«

Kristina meldete sich dafür.

»Sehr gut«, sagte Nick. »Letzter Punkt: Bärensicherheit. Es gibt im Park eine gesunde Schwarzbären-Population.«

»Sind das die Bären, die klettern können?«, fragte Kristina.

»Sie klettern sogar sehr gut«, sagte Nick. »Die einzigen Bären, die nicht klettern können, sind erwachsene Grizzlybären, weil sie zu schwer dazu sind.«

»Und Eisbären«, warf Peter ein. »Weil es am Nordpol keine Bäume gibt.«

»Und Eisbären«, sagte Nick. »Die meisten Begegnungen mit Bären verlaufen harmlos. Dennoch ist die sicherste Variante, sie gar nicht erst zu treffen. Dazu könnt ihr beim Laufen Lärm machen, damit der Bär euch früh genug hört und ausweichen kann. Was ist die wichtigste Verhaltensregel, wenn wir doch einem begegnen?«

»Ruhig bleiben?«, sagte Kristina.

»Genau, nicht davonrennen«, sagte Nick. »Macht euch nicht zur Beute. Wenn der Bär weit genug weg ist, entfernt euch langsam. Lasst ihm immer eine Fluchtmöglichkeit. Bleibt in der Gruppe zusammen. Wenn er auf euch zukommt, bleibt stehen und macht Lärm. Schreit ihn an. Werft Steine und Stöcke in seine Richtung. Macht euch bereit, das Bärenspray zu benutzen.«

Er demonstrierte, wie man das Spray mit dem mitgelieferten Halfter am Gürtel befestigte. Danach ließ er sie mehrmals üben, das Spray zu entsichern und in der richtigen Position zu halten.

»Ich weiß, dass das viel Information auf einmal ist«, sagte Nick. »Und es ist unwahrscheinlich, dass ein Bär angreift. Aber ihr müsst auch verstehen, dass die Gefahren hier draußen echt sind. Die Ausrüstung auf eurem Rücken ist lebenswichtig. Bis ihr ins Krankenhaus kommt, können Tage vergehen. Dafür werdet ihr hier draußen keine Autos hören, keinen Baustellenlärm, keine Wecker. Es gibt keine Lichtverschmutzung und kein Social Media. Mein liebster Ort auf der ganzen Welt.« Er lächelte. »Das werden drei Wochen, die ihr nie vergessen werdet. Versprochen.«