9

Tonya

A m Mittag des fünften Tages aßen sie ihren Proviant auf.

»Das war die letzte Portion«, sagte Peter feierlich nach dem Essen.

»Freut euch über die leichten Rucksäcke«, sagte Nick. »Heute Abend packen wir Nahrung für die nächsten zehn Tage ein.«

»Sollen wir schon mal unser Geschirr spülen?«, fragte Kristina Tonya.

Seit dem vorigen Abend waren sie wieder in bewaldetem Gebiet. Die Blätter der Birken waren deutlich gelber als zuvor, es war wie Herbst im Zeitraffer. Kristinas Haare wirkten in all dem Gelb noch bunter.

Tonya nickte, und sie schlenderten zu dem See, in dessen Nähe sie gelagert hatten und wo sich gerade spektakulär der Himmel spiegelte. In Kristinas Haaren hielt sich tapfer ein letzter Rest von einem deutschen Haarpflegeprodukt, dessen Geruch Tonya jetzt ins Gesicht wehte. Ihr Mund war trocken. Fast hätte sie gelacht – sie war endlich auf ihrer Traumwanderung, das Wetter war perfekt, die Natur war von einer wilden Schönheit, und jemand wie Kristina war auch noch mit von der Partie. Wohin schickte man seine Dankesbriefe, wenn man nicht mehr an Santa glaubte?

Sorgfältig wusch sie ihren Campingtopf aus. Momente alleine mit Kristina waren kurz und selten. So wie jetzt, wenn sie die anderen auch schon Richtung Wasser trampeln hörte.

Jacob ließ sein Campinggeschirr ins seichte Wasser plumpsen. Natürlich. Gerade Jacob.

Seit Alice ihr erzählt hatte, warum er an der Wanderung teilnahm, hatte sie es vermieden, mit Jacob zu sprechen. Im Allgemeinen fiel es ihr schwer, auf Leute wütend zu sein. Nicht einmal gegen ihren Ex-Freund konnte sie Wut aufbringen – sie hatte ihn sich schließlich irgendwann einmal ausgesucht, und es war ihre Schuld, dass sie ihm gegenüber immer wieder nachgab. Aber Jacob … auf Jacob konnte man wütend sein. Jacob konnte man hassen.

Jacob, der es sich leisten konnte, unfreundlich zu sein, weil er sich Hilfe kaufen konnte. Jacob, der die beste Ausrüstung hatte, für eine Reise, für die sie sich den Buckel krumm gearbeitet hatte, und er wollte nicht einmal hier sein . Er hatte keinen einzigen Blick auf den Sternenhimmel geworfen, den Tonya in Chicago jeden Abend vor dem Einschlafen auf dem Handydisplay bestaunt hatte. Weil er zur Strafe hier war. Und das ließ ihre Anstrengung, ihr Erfolgsgefühl so mickrig und sinnlos erscheinen, dass sie nur die Wahl hatte zwischen Wut auf Jacob und sofortigem, umfassendem Aufgeben.

»Ich kann immer noch nicht glauben, wie gut es hier draußen riecht«, sagte Kristina.

Tonya wusste genau, was sie meinte. Harzig. Nach Tannennadeln und Pilzen, die sich unter dem Moos versteckten. Als wäre man ganz tief drin in einem Geheimnis.

»Ah«, sagte Jacob. »Harz. Der gute Geruch eines Baumes, der aus offenen Wunden blutet, bevor die Parasiten ihn von innen heraus zersetzen. Der gute Geruch des Sterbens.«

Natürlich. Natürlich musste er ihr auch diesen Moment mit Kristina kaputt machen. Sie würde nach Hause kommen, und all ihre Erinnerungen wären nur diese halben Momente: der Anfang von etwas Schönem und dann Jacobs hämisches Lachen.

»Niemand hat dich gefragt«, sagte Valentina, und Tonya grinste in sich hinein.

Jacob verdrehte nur die Augen.

Hinter Valentina tauchten nun auch noch Ole und Alexander auf, die sich neben ihnen hinknieten, um die Essensreste von ihren Tellern zu spülen.

Tonya wartete mit Kristina, bis die anderen fertig waren, damit sie gemeinsam zurückgehen konnten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, wenn die anderen zuhörten. War Kristina das Schweigen unangenehm? Langweilte sie sich mit Tonya, oder hing sie einfach ihren Gedanken nach?

Alexander war der Letzte, der sein Geschirr trocken schüttelte. Ihre Blicke begegneten sich, und er schenkte ihr sein kleines Lächeln.

Plötzlich runzelte er die Stirn. Sein ganzer großer Körper machte sich ein bisschen kleiner. Dann öffnete er den Mund. »Ich habe … ein schlechtes Gefühl«, sagte Alexander.

Ruckartig blieb Ole stehen.

Alexanders Stimme war tief und weich. Es war der erste Satz, den Tonya ihn je hatte sprechen hören, und sie war gerührt davon, dass er ihn auf Englisch formuliert hatte.

»Es spricht«, sagte Jacob, aber die anderen drei sahen nur beunruhigt Alexander an.

Ole fing sich als Erster wieder. »Wobei?«, fragte er.

Alexander zuckte verwirrt mit den Schultern. »Für heute.«

»Den ganzen Tag?«

Alexander nickte. Ole musterte ihn. Die Schwestern tauschten einen Blick, dem Tonya entnahm, dass den beiden diese Situation ebenfalls fremd war. Der Moment zog sich in die Länge, und Tonya spürte, wie die Anspannung auch ihr an die Kehle griff.

Schließlich klopfte Ole Alexander auf die Schultern. »Dann frage ich gleich mal Nick, was der Plan für heute ist.«

Valentina nahm Oles Platz an Alexanders Seite ein. »Ich hab mich auch unwohl dabei gefühlt, mein Geschirr im gleichen Wasser wie Jacobs zu waschen«, sagte sie und warf einen vorsichtigen Blick auf Alexanders Gesicht.

Er schüttelte mahnend den Kopf, aber das Lächeln war in seine Mundwinkel zurückgekehrt.

»Nicht trödeln«, sagte Jacob. »Ich habe gehört, dass es heute Abend Chocolate-Chip-Cookies geben soll. Vielleicht sogar welche mit weißer Schokolade.«

»Weiße Schokolade ist keine Schokolade«, sagte Valentina.

Tonya musste ein paar Tränen fortblinzeln. Alexander hatte aus dem Nichts ein Gefühl geäußert, und die anderen hatten es tatsächlich ernst genommen. Wie fühlte es sich an, wenn das die Realität war, die man erwarten konnte?