21

Jacob

M ehrmals glaubte Jacob, Schritte in der Nähe zu hören, und dann trieb er seine tauben Beine an, noch ein bisschen mehr zu geben. Aber nie war er schnell genug, um bei den Deutschen mitzuhalten. Er hätte jede Woche Cardio machen sollen. Sein Studierendenwohnheim hatte einen voll ausgestatteten Trainingsraum gehabt, und es wäre kein Problem gewesen, ab und zu ein bisschen auf dem Ergometer zu strampeln, während er durch seinen Instagram-Feed scrollte.

Zweimal rasteten sie, vermutlich zu lange, aber sie brauchten die Kraft, um weiterzugehen. Jedes Mal trug jemand anderes Kristinas Rucksack – den einzigen, den sie noch hatten.

Alice stolperte irgendwann schon mehr, als dass sie lief, sodass sie schließlich gezwungen waren, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Am Ende hatte fast nur noch Ole die Kraft zum Reden.

»Wir sollten eine Wache stellen«, sagte er.

Kristina erbot sich, die ersten zwei Stunden zu übernehmen. Ansonsten wurden noch Alexander und Jacob eingeteilt.

Sie alle wussten, dass eine Wache sie nicht vor den Verfolgern schützen würde. Wenn die Wache einen Lichtschein entdeckte oder Schritte hörte, war es zu spät – im Dunkeln konnten sie nicht wegrennen. Aber Jacob verstand Oles Logik: Sie mussten irgend etwas tun. Sie konnten sich nicht einfach wie Wildschweine auf der Treibjagd fühlen. So musste nur einer von ihnen angespannt in die Dunkelheit lauschen, und die anderen hatten eine echte Chance auf Schlaf. Es war Schutz für den Geist, nicht für den Körper.

Ohne viele Worte wurde beschlossen, dass Alice die Isomatte und den Schlafsack haben sollte. Alice war die Jüngste und vermutlich auch diejenige, die am schnellsten fror. Vor allem aber verhinderte diese naheliegende Entscheidung, dass Streit ausbrach.

Vor dem Einschlafen fragte sich Jacob, ob ihr Vorsprung groß genug war. Hatte Nick ihre Fährte bereits aufgenommen? Waren sie weit genug gelaufen, damit Nick und Rupert sie während des Schlafes nicht einholten?

Er hoffte, dass sie keinen Hund hatten, der ihnen schon jetzt jede Sekunde schnüffelnd durchs Unterholz näher kam. Wenn doch, würden sich die Zähne des Hundes vielleicht noch heute Nacht in seine Kehle schlagen. Bevor der Morgen anbrach, würden sie im Gras liegen wie Peter. Obwohl er ihn nicht selbst hatte fallen sehen, sah Jacob ihn jetzt vor sich. So würde es ihnen allen noch vor dem Morgen ergehen. Wie viele Schüsse würden sie für ihn brauchen?

Eingehüllt in alle Kleidungsschichten, die er noch hatte, lehnte er seinen Kopf an einen Baum. Die anderen hatten sich für mehr Wärme paarweise aneinandergedrängt, aber er saß allein. Die Arme um sich selbst geschlungen, fühlte er seinen Puls in den Oberarmen, er fühlte ihn überall. Wie ein greller Neonschriftzug – »Ich bin am Leben, ich bin am Leben« –, der verschwenderisch die ganze Nacht über einem unwürdigen Etablissement blinkte.

Kurz nachdem er endlich eingeschlafen war, weckte ihn Alexander. Er übergab ihm Oles beleuchtete Armbanduhr und Kristinas Bärenspray, bevor er wieder mit der Dunkelheit verschwamm, auf dem Weg zu seinem eigenen Schlafplatz. Ganz sicher hatte Nick bei seiner Einweisung nicht erwartet, dass sie das Bärenspray gegen ihn benutzen würden.

Jacob war eiskalt. Der Boden schien die Wärme aus ihm herauszusaugen, und er machte einige Kniebeugen, die ihn nicht sonderlich wärmten. Mir ist kalt. Mehr konnte er nicht denken, und obwohl ihm dadurch garantiert bloß noch kälter wurde, konnte er den Gedanken nicht abschütteln. Mir ist kalt. Mir ist kalt.

Die Dunkelheit war vollkommen. Er lauschte in sie hinein. Da war ein Rascheln, aber es schien nicht aus Bodenhöhe, sondern aus den Baumkronen zu kommen. Vögel. Hoffte er. Nick konnte jederzeit aus der Dunkelheit heraustreten und ihm eine Hand über den Mund legen. Er war sich sicher, dass Nick auf ihrer Fährte sein würde. Jeden Tag. Jede Minute. Ihnen dicht auf den wunden Fersen. Es war ein körperliches Wissen aus Adrenalin und kaltem Schweiß. Jeden Moment erwartete Jacob, dass der Geruch von Nicks Rasierwasser ihn einhüllte.

Auf einmal krähte ein Vogel los, und um ihn herum brach ein ganzer Chor davon aus. Bedeutete das, dass sich jemand näherte? Jacob lauschte so angestrengt, wie er konnte, aber als die Vogelstimmen allmählich verstummten, hörte er wieder nur den Atem der anderen.

Eine Stunde nach Beginn seiner Wache wurde es langsam hell. Tau hatte sich klamm über alles gelegt. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung, etwas Schwarzes, und stellte dann erleichtert fest, dass es nur eine Krähe war, die aus dem gelben Laub einer Birke hervorlugte und ihn geduldig aus ihren kleinen, runden Augen beobachtete.

»Hey, Vogel«, flüsterte Jacob.

Er entdeckte eine weitere Krähe zwei Äste höher, und dann mehr und mehr. Über Nacht musste ein ganzer Schwarm in dem Waldstück um sie herum gelandet sein. Es wirkte wie ein schlechtes Omen.

Kristina regte sich als Erste, und er spürte einen Schwall Erleichterung, dass er nicht mehr alleine wach war, nicht mehr alleine für die Leben der anderen verantwortlich.

»Hast du gut geschlafen?«, flüsterte Kristina. Sie löste sich von Valentina und machte ebenfalls Kniebeugen, um warm zu werden.

»Geht schon«, sagte er. Verspätet schob er hinterher: »Und du?«

»Irgendetwas am Aufwachen macht es echter«, sagte Kristina leise. Sie kauerte sich neben ihm auf den Boden. »Gestern Abend kam es mir noch wie ein Albtraum vor, aber heute fühlt es sich real an.«

Widerwillig weckten sie die anderen, und jedes neue Augenpaar sah dieselbe Situation: Sie hatten keine Ausrüstung. Kein Essen. Keine Ahnung, wo sie waren.

Sie hatten nur, was sich in ihren Jackentaschen oder Kristinas Rucksack befand.

Ole nahm ihm die Armbanduhr ab, als könnte er sie Jacob keine Sekunde länger als nötig anvertrauen. Arschloch.

»Wenigstens haben wir genug zu trinken«, sagte Valentina, nachdem sie in der Nähe einen kleinen Wasserlauf gefunden hatten. »Wo ist dein Wasserfilter, K.?« Es kam keine Antwort, und sie sah auf. »Kristina?«

»Ich hab keinen Wasserfilter dabei«, sagte Kristina kleinlaut. »Ich habe ihn vergessen und die ganze Zeit über bei dir oder den Jungs mitgetrunken.«

Valentina schloss die Augen. »Was ist überhaupt in dem Rucksack drin?«, fragte sie.

Wie sich zeigte, eine Isomatte, ein Schlafsack, Wechselkleidung, Socken und Unterwäsche. Das Bärenspray. Eine Trinkflasche aus Plastik. Eine Taschenlampe. Ein pinkfarbener Flachmann. Waschutensilien. Roter Lippenstift. Ohrringe. Ein Handtuch. Sie hatten außerdem das Brot und das lange Messer, das Valentina sich in der Küche gegriffen hatte. Kein Campingkocher, kein Zelt – das war alles in Valentinas Rucksack gewesen.

Valentina schnitt das Brot über einem ausgebreiteten T-Shirt in sieben gleich große Stücke und sammelte danach die Krümel auf. »Das ist alles, was wir noch haben«, sagte sie. »Teilt es euch gut ein.«

Den letzten Satz schien sie direkt zu Jacob zu sagen.

Er betrachtete die schmale Scheibe Brot in seiner Hand. Ein Siebtel. Wenn sie doch nur weniger wären … Seine Gedanken brachen ab. Stattdessen nahm er einen Bissen von seiner Portion und kaute, bis der Brei in seinem Mund süß wurde. Wenn er solche Gedanken hatte – dachten die anderen das Gleiche? Hatte Valentina ihn deshalb gerade so unzufrieden angeschaut, weil sie ihm das Brot nicht gönnte?

Sein Herz schlug auf einmal sehr schnell. Wenn sich die Gruppe aufteilen sollte, dann war er aufgeschmissen. Er hatte keine Ahnung von Navigation, hatte bei Nicks Lektionen nicht einmal zugehört, und er hatte es sich mit allen Leuten um ihn herum auf die eine oder andere Weise verscherzt.

»Können wir das Wasser einfach so trinken?«, fragte Ole.

Schmerzhaftes Schweigen. Peter hätte es gewusst, aber Peter war nicht mehr da.

»Es wäre vermutlich sicherer, wenn wir es abkochen«, sagte Ole. »Dazu bräuchten wir aber mehr als eine Plastikflasche.«

»Wir können auch kein Feuer machen«, sagte Valentina. »Kristina hat dafür nämlich genauso wenig Ausrüstung dabei.«

»Das ginge sowieso nicht«, gab Kristina zurück. »Man würde den Rauch weithin sehen.«

»Ich hätte immerhin ein Feuerzeug«, sagte Alice.

»Und ich habe noch Jodtabletten«, sagte Tonya und holte mehrere Blisterpackungen aus ihrer Jackentasche. Jacob versuchte, sie unauffällig zu zählen. Waren das alle? Auch die Tabletten würden schnell ausgehen, wenn sie sie für sieben nutzen mussten.

»Wie lange hält es ein Mensch ohne Nahrung aus?«, fragte Ole.

Jacob erinnerte sich tatsächlich an etwas, das Nick gesagt hatte: »Kommt auf das Gewicht an und darauf, wie viel man sich bewegt.«

In Gedanken fügte er den offensichtlichen Fakt hinzu: Aber unsere Gruppe, die wird nicht so lange halten. Nur so lange, wie es dauerte, dass die vier den Ernst der Lage verstanden. Sie waren die wahrscheinlichsten Kandidaten für eine erfolgreiche Flucht: trainiert, stark, und sie kannten sich offenbar alle von Kindesbeinen an. Ohne Schwierigkeiten konnten sie ihm, Alice und Tonya alle sinnvolle Ausrüstung abnehmen – was im Endeffekt nur Tonyas Tabletten waren – und sich dann schneller und mit mehr Ausrüstung in Sicherheit bringen.

Es war eine rationale Entscheidung, und es ging um ihr Leben – wäre Jacob in der Lage gewesen, hätte er dieselbe Entscheidung getroffen. Alice, Tonya und er waren den anderen ein Klotz am Bein.

Er dachte an Valentina am Abend zuvor und daran, wie entschlossen sie gewesen war. Etwas sagte ihm, dass sie die Letzte von ihnen sein würde, die am Ende noch lief.

Valentina würde es als Erste verstehen – danach war es nur eine Frage der Zeit, dass sie die anderen überzeugte.

Die Worte seines Vaters aus ihrem letzten Gespräch kamen ihm in den Sinn. Er hatte Jacob kurz vor seinem Zwanzig-Uhr-Check-in mit dem Büro in Singapur reingequetscht: »Du bist schlau genug, um zu wissen, dass du gerade Scheiße baust«, hatte er gesagt. Damals ein hohler Satz für Jacob – genervt, enttäuscht, die übliche Mischung –, aber auf einmal verstand er, was sein Vater damit gemeint hatte: Jacob sah ganz genau vor sich, wie die Situation sich entwickeln würde – und er konnte nichts dagegen tun, außer es den vieren emotional so schwer wie möglich zu machen, sie zurückzulassen.

Am Rande bekam er mit, wie die anderen hin und her überlegten, wie sie am schnellsten genug Wasser für alle desinfizieren konnten, wenn Kristina nur eine Ein-Liter-Flasche dabeihatte. Die Tabletten mussten zwanzig Minuten einwirken, was bedeutete, dass sie jeden Tag fast fünf Stunden mit Wasseraufbereitung verbringen würden, wenn jeder zwei Liter trank. In seinem ganzen Leben hatte Jacob nie darüber nachgedacht, dass es lebenswichtig sein könnte, ein verschließbares Gefäß zu besitzen. Zu Hause warf er jeden Tag ein paar Plastikflaschen in den Müll. Am Ende der Diskussion hatte Kristina die Idee, ihren wasserdichten Wäschebeutel zum Wassertransport zu nutzen.

Ein Wäschebeutel, der jeden Moment ein Loch bekommen konnte. Ein weiteres Stück Ausrüstung, das die vier mitnehmen würden, sobald ihnen klar wurde, dass sie als kleine Gruppe schneller vorankamen.

»Da passen sechs Liter rein«, sagte Kristina und schöpfte flaschenweise Wasser aus dem Bach in den Beutel.

»Dann sollten wir gleich einen Beutel trinken und ihn dann noch einmal auffüllen und mitnehmen«, sagte Tonya. Sie zählte mehrere Jodtabletten ab. »Den Flachmann sollten wir auch füllen.«

»Sehr gut«, sagte Ole und warf einen Blick auf seine Uhr. »Dann können wir in zwanzig Minuten aufbrechen.«

»Hast du eine Orientierung?«, fragte Valentina.

»Das Wichtigste ist weiterhin, dass wir nicht im Kreis laufen«, sagte Ole. »Der Nordstern lag genau über dem Berg da vorne.«

»Gibt es im Norden überhaupt noch Straßen?«, sagte Jacob.

»Hat irgendjemand zu Hause auf die Karte geschaut?«, fragte Ole.

Alexander starrte zu Boden.

»Ich kenne nicht mal die deutschen Autobahnen«, sagte Kristina.

Valentina winkte ab.

»Mich braucht ihr nicht anzusehen«, sagte Jacob. Das war der Nachteil eines Chauffeurs: Man kannte sich nirgendwo aus.

Schließlich landeten die Blicke auf Alice. »Ich darf nicht mal Auto fahren«, protestierte sie.

»Weiß wenigstens irgendjemand, wie weit der Park an seiner breitesten Stelle ist?«, fragte Ole.

Schweigen, dicker als die Kumulus-Wolken über ihnen.

»Also sind wir alle in die Wildnis marschiert, ohne eine Ahnung von unserer Umgebung zu haben?«, sagte Ole.

Ganz genau, dachte Jacob. Und diese Wildnis wird uns umbringen. Eine Siedlung konnte zwei Tage von ihnen im Osten liegen, und sie wüssten nichts davon.

»Zu unserer Verteidigung: Wir hatten einen Guide mit Karte und GPS und Satellitentelefon«, sagte Valentina. »Wer von uns hätte ahnen sollen, dass das in einer Episode Survivorman endet?«

»Der Süden ist vermutlich dichter besiedelt«, sagte Tonya.

»Dann sollten wir nach Süden gehen«, sagte Ole. »Also genau in die entgegengesetzte Richtung.«

Mühsam verkniff sich Jacob einen sarkastischen Kommentar. Je gelassener sich Ole gab, desto mehr hatte Jacob das Gefühl, er müsste ihn schütteln, um ihm die Situation begreiflich zu machen. Verstand er nicht, dass diese Landschaft sie innerhalb eines Mondzyklus umbringen konnte? Sie war eine menschenleere Einöde gewesen, bevor sie hier hereingestolpert waren, und genau das würde sie wieder sein, wenn die Krähen ihnen die Augen auspickten.

Aber je länger Ole positiv eingestellt war, desto später würden sich die vier alleine absetzen, um ihre eigene Haut zu retten. Und wenn Jacob irgendeine Chance haben wollte, dann musste er diesen Zeitpunkt so weit wie möglich nach hinten verschieben.

Keiner dieser Gedanken kam über seine Lippen, während er sich voranschleppte. Eine der Blasen hatte sich geöffnet, und seine Füße waren wund und rosa wie Zahnfleisch. Er wollte gar nicht daran denken, was das in Kombination mit den durchgeschwitzten Socken bedeutete, die er seit mehreren Tagen trug. Er band sich den Schuh noch einmal neu, damit die anderen an ihm vorbeiliefen und er am Ende der Gruppe humpeln konnte, ohne dass es jemand sah. Aber er fühlte den Blick der Krähen, schwarz und still, als rechneten sie damit, dass er als Erster in die Knie ging.