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Tonya

T onya hatte wieder nur Bruchstücke des Streits verstanden, aber die Tränen in Kristinas Augen waren selbsterklärend. Kaum war Valentina verschwunden, schluchzte Kristina los und stürzte in die andere Richtung davon. Es war dunkel und kalt, und es sah aus, als würde der Wald sie verschlucken.

Instinktiv machte Tonya ein paar Schritte ihr hinterher, bevor sie stehen blieb. Wie gut war ihr Verhältnis überhaupt? Wollte Kristina, dass Tonya ihr folgte, oder hoffte sie eigentlich auf Alexander und Ole?

Mitten in der Wildnis, Tausende Kilometer weit weg von Chicago, aber Tonyas Gedanken waren immer noch dieselben. Bin ich hier gewollt? Dränge ich mich auf? Ihre Gedanken waren die einzigen Dinge, die sie nie auf eine Packliste schreiben musste, weil sie sie immer im Gepäck hatte.

Und warum tat es jedes Mal gleich stark weh?

»Geh ruhig«, sagte Alexander. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«

Er lächelte Tonya leicht zu, und sie war froh, dass man die Wärme auf ihren Wangen nicht sah. Alexander war so still, dass es leicht war zu vergessen, was für ein guter Beobachter er war. Wann war es ihm aufgefallen? Und hieß das, Kristina wusste auch davon?

Sie schluckte. »Okay.«

Tonya fand Kristina neben zwei Baumstümpfen, wo sie zuletzt Holz gemacht hatten. Kristina hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Als sie Tonyas Schritte hörte, blickte sie auf und wischte mit ihren Socken-Handschuhen die Tränen weg. »Ich kann weinen hier draußen wirklich nicht empfehlen«, sagte sie in einem künstlich fröhlichen Ton. »Arschkalt.«

»Danke für den Hinweis«, sagte Tonya.

Kristina schaute in ihre Richtung und dann wieder weg.

Tonya räusperte sich. »Dieser Weg braucht noch einen Namen«, sagte sie. »Was meinst du?«

Kristina schniefte. »Wir könnten ihn einfach ›Sägeweg‹ nennen.« Sie atmete tief ein. »Ist jemand bei Valentina?«

Tonya nickte. »Jacob.«

»Gut. Sie macht lange Spaziergänge, wenn sie wütend ist. Wenn sie noch mal stürzt, würden wir sie vielleicht nicht rechtzeitig finden.«

»Es hört nie auf, hm?«, sagte Tonya leise. »Die Sorgen?«

Kristina lächelte schief und mit neuen Tränen in den Augen. In dem wenigen Licht sahen sie dunkel aus. »Nie«, bekam sie noch heraus, bevor ein tiefes Schluchzen sie schüttelte.

Tonya legte ihr die Hand auf die Schulter – wie eine Einladung zu einer Umarmung –, und einen Moment später hatte sie Kristina im Arm, nass und zitternd.

Eine Nacht-Umarmung war etwas gänzlich anderes als eine Tag-Umarmung, wurde Tonya plötzlich klar. Im Tageslicht umarmte man Bekannte zur Begrüßung, in der Dunkelheit nur Menschen, denen man vertraute.

»Hältst du mich auch für furchtbar?«, fragte Kristina.

Tonya hätte in Kristinas Situation dieselbe Frage gestellt, aber so, wie es leicht war, schlecht über sich selbst zu denken, war es auch leicht, bei Kristina mitfühlend zu sein.

»Ich glaube, nicht mal, wenn ich wollte, könnte ich dich furchtbar finden«, sagte Tonya. Sie war froh, dass Kristina ihr dabei nicht ins Gesicht sehen konnte.

»Was Valentina gesagt hat, stimmt«, legte Kristina unter Schniefen nach. »Sie hat diese unangenehme Fähigkeit, solche Sachen schmerzvoll genau auf den Punkt zu bringen.«

»Du wolltest eine Veränderung, und du hattest Angst, sie zu verletzen«, sagte Tonya, ihr Mund an Kristinas Kapuze. »Das ist auch wahr. Und menschlich. Das ist das Wort, das ich auswählen würde: menschlich.«

»Das wird eine furchtbare Nacht.« Kristina löste sich von ihr und schlang die Arme um sich selbst. »Ich hab überhaupt keine Lust, zurückzugehen, aber ich will nicht, dass Valentina mir auch noch vorwirft, du hättest meinetwegen deinen kleinen Zeh verloren.«

»Ich bin schon groß und kann auf mich aufpassen«, sagte Tonya.

Kristina schniefte. »Ich will aber auch nicht, dass du deinen kleinen Zeh verlierst.« Sie nahm Tonyas Hand, und es war anders als bisher. Als zweifelte sie dieses Mal daran, dass Tonya ihre Hand festhalten würde.

Tonya war gerührt, verwirrt, sie wusste nicht, was dieses Handhalten bedeutete. Ein Teil von ihr sorgte sich: Empfand Kristina sie lediglich als ihre Verbündete? Wollte sie nur nicht alleine zu den anderen zurückkehren?

Aber am Ende war es egal, denn als sie gemeinsam mit Kristina aus der Finsternis im rot-goldenen Licht des Schlupfs auftauchte, spürte sie ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht aufziehen, unaufhaltsam, und sie drückte Kristinas Hand einmal zurück.

Zu ihrer Erleichterung waren Jacob und Valentina noch nicht wieder da. Nur Bombe, Alexander und Ole saßen um den neu befeuerten Kamin, neben ihnen der bis zum Rand mit Wasser gefüllte Topf wie ein dunkler Spiegel.

»Warum schlaft ihr nicht schon längst wieder?«, fragte Kristina. Sie war in dieser Hinsicht genau wie Valentina und ging direkt in die Offensive über.

Besonders in Oles Stirn hatte sich eine tiefe Sorgenfalte gegraben. »Wir gehen noch ein paar logistische Fragen für die Jagd morgen durch«, sagte er.

»Und warum seht ihr aus, als hättet ihr Nicks Taschenlampe entdeckt?«

Eine andere Kleinigkeit, die Tonya erst jetzt an Kristina bemerkte: Wenn sie verletzt war, wurde ihr Ton spitzer. Auch das teilte sie mit Valentina.

»Jacob hatte ja schon erklärt, dass wir das Fleisch vermutlich in mehreren Touren transportieren müssen«, sagte Bombe. »Aber was wir bisher nicht bedacht haben, ist die Frage, wie wir das zurückbleibende Fleisch in unserer Abwesenheit schützen sollen.«

Kristina suchte sich eine neue Stelle auf dem Boden, weit weg von Valentinas Schlafplatz. »Können wir es nicht aufhängen, so wie sonst auch?« Sie lächelte Tonya an und klopfte neben sich auf den Boden.

»Aber wir haben nur zwei Seile«, sagte Bombe. »Sogar ohne Eingeweide und Fell bleiben nach dem ersten Transport noch mehr als hundert Kilo Bison übrig, das heißt, wir brauchen schon beide Seile, um das Fleisch zu sichern. Und das wiederum heißt, dass wir unser restliches Trockenfleisch hier im Lager nicht aufhängen können, sondern in der Hütte lagern müssen.«

Tonya krabbelte zu der Stelle neben Kristina. Sie wünschte, ihr Herz würde nur wegen Kristina so schnell schlagen, aber sie hatte bereits verstanden, was Bombe sagen wollte. »Wir müssen das Fleisch in der Hütte lagern, in der wir schlafen? Das Fleisch, das jeder Bär angeblich schon aus tausend Kilometer Entfernung riecht?«

»Ganz genau«, sagte Ole.