Kapitel 11
Januar 2000
Lucinda und ihre drei Jahre ältere Schwester Maria saßen bei einem Picknick im Garten und träumten von der Zukunft.
»Du willst wirklich weg von der Farm? Und mich ganz allein lassen?«, fragte Lucinda, nachdem Maria ihr gebeichtet hatte, dass sie sich an verschiedenen Colleges im ganzen Land beworben hatte.
Maria sah sie zufrieden lächelnd an und spielte dabei mit ihrer Kette, wie sie es so oft tat. Ihre Mutter hatte sie ihr zum Junior-High-Abschluss geschenkt, sie war ein Familienerbstück, das schon Lilianas Großmutter gehört hatte. »Du wirst doch nicht allein sein. Mom und Dad sind schließlich bei dir.«
»Das ist aber nicht dasselbe«, sagte Lucinda gekränkt und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit denen kann ich nicht so reden wie mit dir. Über Jungs und so.«
Lucinda war vierzehn, hatte vor Kurzem angefangen, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, und wollte am liebsten die ganze Zeit nur über dieses eine Thema reden.
»Wir können doch telefonieren, du kannst mir Briefe schreiben. Und ich komme euch in den Ferien besuchen.«
»Das ist nicht dasselbe!«, wiederholte sie.
Sie sah Maria an, die so ganz anders aussah als sie selbst.
Während sie das blonde Haar, die blauen Augen und die helle Hautfarbe von ihrem Vater geerbt hatte, war Maria ein Ebenbild ihrer Mutter Liliana. Die war als kleines Kind mit ihren Eltern aus Guatemala in die Vereinigten Staaten gekommen und war noch heute eine Latina, wie sie im Buche stand. Sie hatte wunderschönes, langes, dunkles Haar und Augen, die beinahe schwarz wirkten. Liliana trug gerne bunte Kleider und allerlei goldenen Schmuck, kochte lateinamerikanische Gerichte und fluchte auf Spanisch, wenn ihr etwas nicht passte. Und auch wenn Lucinda und Maria das Heimatland ihrer Mutter leider niemals besucht hatten, so hatten sie doch schon früh die Sprache gelernt, die auf der Farm fast jeder sprach. Alle außer ihrem Dad, der zwar versucht hatte, ebenfalls Spanisch zu lernen, der aber außer ein paar Brocken nicht viel behalten konnte.
»Sei mir nicht böse, Lucy«, sagte Maria, die sie immer so nannte.
»Kannst du nicht wenigstens auf ein College in der Nähe gehen?« Bisher hatte Lucinda immer geglaubt, ihre Schwester und sie würden ewig auf der Farm bleiben. Niemals hätte sie gedacht, dass Maria weggehen wollte, sie verstand überhaupt nicht, warum sie das auf einmal vorhatte. Sie selbst wusste, seit sie ein kleines Mädchen war, dass sie niemals irgendwo anders glücklich sein könnte als hier. Sie wollte, sobald sie mit der Schule fertig war, ihrem Dad zur Hand gehen. Vielleicht könnte sie eines Tages die neue Vorarbeiterin werden, wenn Onkel Miguel das nicht mehr konnte. Der beste Freund ihres Vaters war nicht mehr der Jüngste, er war mindestens fünfzig! Und er fasste sich des Öfteren ans Knie, wie ihr aufgefallen war. Es schien ihm wehzutun, was ihr natürlich leid für ihn tat, doch ihr kam es ganz recht. Sie würde seinen Job gut machen, das wusste sie mit Sicherheit
.
»Warten wir doch erst mal ab, von wo ich überhaupt Zusagen erhalte, ja?«, bat Maria.
»Okay«, sagte Lucinda, obwohl die Sache noch lange nicht aus der Welt war. Doch sie wollte an diesem schönen Tag nicht streiten. »Isst du das noch?« Sie deutete zu dem kalten Hühnerschenkel, der vom Abendessen übrig geblieben war. Sie hatten den Kühlschrank geplündert und alles mit nach draußen genommen, was appetitlich ausgesehen hatte.
Maria reichte ihr den Schenkel. »Hier, nimm ihn.«
»Danke.« Sie knabberte ein bisschen daran herum und sah dabei zu den Orangenbäumen rüber, von denen die Erntehelfer eifrig Früchte pflückten. Es war Januar, Navel-Orangen-Erntezeit, und die Pflücker wurden nach den riesigen Behältern bezahlt, die sie vollmachten.
Ihr Dad entdeckte sie und winkte ihnen zu. Lucinda winkte zurück, doch Maria schien ihn gar nicht zu sehen. Sie träumte vor sich hin, und Lucinda fragte sich, wo sie wohl in ihren Gedanken war. In Yale? Harvard? Auf der Brown? UCLA? Mehr Colleges fielen ihr auf die Schnelle nicht ein. Sie biss erneut in ihren Hühnerschenkel und beobachtete Onkel Miguel dabei, wie er nun zu ihrem Dad trat und ihnen ebenfalls zuwinkte. Und jetzt blickte endlich auch Maria auf und winkte ihnen lächelnd zurück.
Die beiden Männer kamen auf sie zu, und ihr Dad schnappte sich ein paar Weintrauben aus der Tupperdose. »Ihr seid meine Rettung, ich bin nämlich fast am Verhungern«, sagte er.
Maria reichte ihm ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich und bat auch Onkel Miguel eins an. Der nahm dankend an und sagte: »Ihr beiden werdet auch von Tag zu Tag hübscher, was?«
»Rede ihnen bloß keinen Unsinn ein«, mahnte ihr Dad lachend. »Schönheit vergeht. Heimat bleibt.
«
Das war etwas, das er oft sagte. Wahrscheinlich hatte er auch recht damit. Und wenn sie sich jetzt ihre Schwester ansah, schienen dieser Miguels Worte auch ziemlich egal zu sein, vermutlich weil sie so oft Komplimente wegen ihres Aussehens bekam. Lucinda aber musste zugeben, dass sie sich doch darüber freute. Sie strahlte den lächelnden Onkel Miguel an, und dabei sah sie, wie sein goldener Zahn in der Sonne funkelte.