Kapitel 27
Jennifer saß seit gut einer Stunde in ihrem Wagen vor dem Haus ihres Vaters. Dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, dem Haus, in dem sie so viel Leid erfahren hatte.
Heute Michelles Bluterguss zu sehen hatte so viel in ihr ausgelöst. Sie war fest entschlossen, ihrer Vergangenheit endlich ins Gesicht zu sehen, und das nicht nur in den Therapiestunden, in denen sie Dr. Robinson davon erzählte, was sie als Kind empfunden, wie verlassen sie sich gefühlt hatte. Nein, sie musste endlich demjenigen ins Gesicht sehen, der all das verursacht hatte, und das konnte nicht bis morgen warten.
Und doch brauchte es achtundsechzig lange Minuten, bis sie den Mut zusammengenommen hatte, aus dem Auto zu steigen. Dann aber ging sie heroisch auf das alte Haus zu, das inzwischen so schief aussah, dass man denken konnte, der nächste Windzug würde es umwehen. Es brannte kein Licht im Haus, aber das verwunderte sie nicht. Womöglich war Bennet Collins noch auf Sauftour, ja, vielleicht würde er sogar erst in den frühen Morgenstunden heimkommen. Doch das machte gar nichts, denn das würde ihr Zeit geben, alles auf sich wirken zu lassen und sich wieder in ihre Kindheit zu versetzen. Und sie wusste, dass genau das nötig war, um sich ihm zu stellen .
Sie hob den verrotteten Porzellanfrosch an, der noch immer an derselben Stelle stand, und hob den Ersatzschlüssel auf, der wie gewohnt darunter lag. Ganz, als würde er all die Jahre nur darauf gewartet haben, dass sie ihn hervorholte.
Sie stieg die vier hölzernen Stufen hinauf und musste zwanzigmal tief ein- und ausatmen, bevor sie dazu bereit war, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Zu ihrer Überraschung war die Tür aber überhaupt nicht abgeschlossen. Und als sie das Haus betrat, sah sie im Licht der Straßenlampe, dass es leergeräumt war.
Ihr Vater war fort? Wo war er denn hin? Hatte er etwas angestellt und war vor den Hütern des Gesetzes geflohen? Saß er im Gefängnis? Oder hatte er womöglich sogar eine Frau gefunden, die seine Ausbrüche ertrug, hatte wieder geheiratet und war weggezogen?
Sie betätigte den Lichtschalter, doch der Strom schien abgestellt zu sein. Deshalb schaltete sie die Taschenlampe auf ihrem Handy ein und war überrascht beim Anblick des leeren Wohnraumes, den sie so groß und grauenvoll in Erinnerung hatte, der aber in Wirklichkeit viel kleiner war und überhaupt nicht mehr furchteinflößend. Es waren einfach vier Wände, und darin befand sich gar nichts. Nicht mehr.
Sie ging durch die anderen Zimmer und fand heraus, dass alle leer waren. Nicht ein einziges Überbleibsel, gar nichts, das an Bennet erinnerte. Und sie musste gestehen, dass sie enttäuscht war. Ja, beinahe verzweifelt.
Wie sollte sie ihn denn jetzt zur Rede stellen? Wie sollte sie Erlösung finden?
»Jenny?«, hörte sie plötzlich eine Stimme und drehte sich erschrocken um.
Vor ihr stand im Dämmerlicht Mrs. Blunt, die Nachbarin, die schon seit bestimmt vierzig Jahren nebenan wohnte. Bei ihr hatte sie oft Trost gefunden, und manchmal etwas zu essen, wenn ihr Vater wieder einmal spurlos verschwunden war. Sie hatte ihr damals auch hundert Dollar mit auf den Weg gegeben, als sie fortgegangen war. Doch Hilfe gerufen hatte sie in all den Jahren nie.
»Mrs. Blunt!«, sagte sie und starrte die Frau an, die noch genauso aussah wie früher, nur dass ihr Haar jetzt weiß war. Sie war sicher Mitte siebzig. Sie hielt eine Laterne in der Hand, die den Raum erhellte. Ihr altes Kinderzimmer.
»Ich hatte mir gleich gedacht, dass du es bist«, sagte Mrs. Blunt.
»Wissen Sie, wo mein Vater ist?«, fragte sie ohne unnötigen Smalltalk.
Mrs. Blunt sah sie auf eine Weise an, die sie nicht verstand. Dann sagte sie: »Ja, weißt du es denn noch nicht?«
»Was?«
»Er ist vor zwei Monaten gestorben.«
Ihr Herz wollte stehenbleiben. Ihre Beine wollten versagen. Doch das würde sie nicht zulassen, nicht wegen ihm!
»Er ist tot?«, schaffte sie es irgendwie zu fragen, doch ihre Stimme hörte sich nicht an wie ihre.
Die Nachbarin nickte und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Ich dachte, man hätte dich informiert.«
»Er hatte meine Kontaktdaten nicht. Ich habe mich nie wieder bei ihm gemeldet, nachdem ich damals fortgegangen bin.«
»Oh« war alles, was Mrs. Blunt sagte.
»Woran ist er denn gestorben?«, wollte sie wissen, musste sie wissen.
»Leberversagen.«
»Ein gebührendes Ende für einen Säufer«, sagte sie gehässig .
»Ja, vielleicht.«
»Seit zwei Monaten ist er schon tot?«, fragte sie noch einmal nach. Wenn dem so war, wieso hatte Lucinda denn gar nichts davon mitbekommen? Sie hätte es ihr doch erzählt, wenn sie es gewusst hätte, oder? »Hat es denn nicht in der Zeitung gestanden? Gab es keinen Nachruf? Keine Beerdigungsanzeige?«
»Wer hätte die aufsetzen sollen?«, meinte Mrs. Blunt. »Nein, es gab nichts dergleichen. Auch keine Beerdigung. Er wurde anonym bestattet, die Stadt hat wohl die Kosten übernommen.«
Sie schüttelte den Kopf, konnte es noch immer nicht fassen. Konnte nicht glauben, dass es das gewesen sein sollte. Als sie damals von ihm ging, hatte sie zwar so weit weg wie möglich gewollt, aber dass sie ihn niemals wiedersehen würde … war nun doch ein Schock.
Wäre sie nur zwei Monate früher gekommen. Wäre sie letztes Jahr gekommen oder im Jahr davor. Doch es war zu spät und sinnlos, darüber nachzugrübeln.
»Wer hat das Haus so schnell leergeräumt?«, fragte sie.
»Das war auch die Stadt. Dein Vater hatte Schulden bei einer Menge Leute, das Grundstück wurde verkauft, und das Haus soll nächste Woche abgerissen werden. Sie wollen hier wohl einen Wohnkomplex bauen. Aber wenn du Anspruch darauf erheben möchtest, ginge das vielleicht, wenn du …«
»Ich will es nicht«, stellte sie klar.
»Das habe ich auch nicht erwartet.«
»Tut mir leid, das mit dem Bau des Wohnkomplexes. Es wird bestimmt eine Menge Lärm geben.«
»Dir tut es …?« Mrs. Blunt versagte die Stimme, und ihr stiegen Tränen in die Augen. »Mir tut es leid, Jenny. Oh, wenn du wüsstest, wie leid es mir tut. «
»Dass mein Vater tot ist?«
»Dass du jetzt ganz allein auf der Welt bist.«
»Ich bin nicht allein«, ließ sie sie wissen und dachte dabei an ihre Freundinnen.
»Du weißt, wie ich es meine. Außerdem tut mir leid, wie du aufwachsen musstest. So sollte kein Kind aufwachsen müssen.«
»Warum haben Sie es dann einfach mit angesehen? Sie hätten helfen können!«, sagte sie ihr das Offensichtliche.
»Ich weiß. Und das hätte ich. Damals dachte ich nur, lieber bei einem Alkoholiker als Vater aufwachsen als ganz ohne Eltern. Ich habe wohl falsch gedacht.«
»Das haben Sie wohl«, sagte Jennifer, doch dann musste sie daran denken, dass sie, wenn sie in ein Heim oder zu Pflegeeltern gekommen wäre, von Lucinda, Rosemary und Michelle getrennt worden wäre. Und da Mrs. Blunt die Reue anzusehen war, sagte sie ihr: »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich hätte ja auch selbst etwas unternehmen können, als ich alt genug war.«
»Er war dein Vater, und du hast ihn geliebt«, erinnerte Mrs. Blunt sie.
Hatte sie das? Ihn geliebt? Sie war sich da überhaupt nicht sicher. Denn gerade empfand sie keine Trauer, ganz im Gegenteil. Was sie empfand, war beinahe so etwas wie Erleichterung.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte sie und ging an Mrs. Blunt vorbei aus dem Raum. »Danke für Ihre ehrlichen Worte.«
»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann?«
»Ich bin okay«, sagte sie. Und das war sie wirklich.
Beim Rausgehen entdeckte sie dank Mrs. Blunts Lampe etwas, das sie mit ihrem Handylicht vorher nicht gesehen hatte. Er hing immer noch da, der Beweis für ihre Narben. Das einzige Überbleibsel einer Kindheit, die keine gewesen war.
Sie griff danach und zog ihn vom Haken, nahm ihn mit nach draußen, warf ihn auf die Rückbank ihres Autos und stieg ein.
»Grüßen Sie Ihren Mann von mir«, sagte sie.
»Jerry ist schon vor einigen Jahren von uns gegangen.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte sie und meinte es so. Sie erinnerte sich daran, wie Jerry Blunt immer den Kopf geschüttelt hatte, wenn er ihren Vater betrunken nach Hause torkeln gesehen hatte.
»Das ist das Leben«, meinte Mrs. Blunt nur und ging zu ihrem Haus zurück. Auf der Veranda blieb sie stehen, blickte sich noch einmal zu ihr um und winkte ihr nach.
Jennifer fuhr davon, bei sich das Einzige, was ihr von ihrem Vater geblieben war, und sie wusste schon genau, was sie damit machen würde.
Als sie zurück zur Orangenfarm kam, brannte noch Licht im Haus. Sie konnte allerdings keine ihrer Freundinnen finden, weder im Wohnzimmer vor dem Fernseher noch in der Küche oder den Schlafzimmern. Sie durchstreifte das ganze Haus, umrundete es auf der Veranda und sah im Garten nach, doch keine Spur von Lucinda, Michelle oder Rosemary. Dann suchte sie nach einer Nachricht, ebenfalls erfolglos.
Sie setzte sich auf die Hollywoodschaukel und fragte sich, wo sie nur alle waren. Es war doch bereits kurz vor eins in der Nacht! Ob sie im Dunkeln noch einen Spaziergang machten? Ob Craig noch einmal aufgetaucht war oder Jonah? Ob in der Stadt wieder ein Bluegrass-Fest stattfand ?
Sie atmete die frische Luft ein, und nun überkam es sie doch. Ihr Vater war tot. Sie würde ihm niemals sagen können, was sie ihm hätte sagen müssen. Was sie schon so lange auf dem Herzen hatte. Was sie seit Jahren belastete. Wie sollte sie ihren Frieden finden, wenn sie nun gar keinen Schlussstrich ziehen konnte?
Und dann stieg ihr der Duft der Orangen in die Nase, und sie erkannte, dass sie ihren Frieden längst gefunden hatte. Dazu bedurfte es gar keiner Aussprache, dafür musste sie ihn gar nicht noch einmal sehen. Sie hatte bereits erkannt, dass sie einen Neubeginn wollte. Dass sie ihre Vergangenheit nicht mehr ihre Gegenwart bestimmen lassen wollte. Allein dass sie Daniel gebeten hatte, nach Kalifornien, an die Orte ihrer Kindheit, zu kommen, war der Beweis.
Vielleicht hatte es so kommen müssen. Vielleicht waren ihr Vater und sie nicht dazu bestimmt gewesen, sich noch einmal zu sehen. Wenigstens hatte sie das Haus noch einmal sehen und erkennen dürfen, dass es gar nicht mehr so furchteinflößend war. Jetzt konnte sie es sich leer und neutral vorstellen, wenn sie daran dachte. Das war doch ein guter Anfang und guter Gesprächsstoff für die nächste Therapiestunde.
Sie lächelte. Ja, sie war dabei, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Sie war sich klar, dass es sicher nicht leicht werden würde, aber sie wollte es in Angriff nehmen. Einen Schritt nach dem andern.
Ihr Handy piepte. Sie hatte eine Nachricht von Lucinda bekommen. Und als sie sie las, blieb ihr zum zweiten Mal an diesem Abend das Herz stehen.
Sind auf dem Polizeirevier. Russel ist plötzlich aufgetaucht. Alles Weitere erkläre ich dir später. Du musst nicht kommen, du bist nach dem Gespräch mit deinem Vater sicher aufgewühlt. Bleib im Haus und ruh dich aus. Wir sehen uns morgen früh.
Was, verdammt noch mal, war passiert, während sie weg gewesen war? Was meinte Lucinda damit, dass Russel aufgetaucht war? Etwa auf der Farm? Und warum waren ihre Freundinnen auf dem Polizeirevier? Was hatte Russel gemacht? Oh Gott, sie hoffte nur, er hatte Michelle nichts angetan. Wenn dem so wäre, würde sie den Mistkerl umbringen!
Und was zum Teufel meinte Lucinda damit, dass sie ruhig im Haus bleiben sollte? Kannte sie sie denn so wenig?
Sie sprintete zu ihrem Wagen, setzte sich auf den Fahrersitz und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Sie würde ihre Freundinnen auf keinen Fall alleinlassen. Vor allem nicht in solch einer Situation.
Oh, wenn sie doch nur wüsste, was passiert war.