Kapitel 29
September 2000
»Er muss doch etwas damit zu tun haben, oder?«, sagte Jennifer zum wohl hundertsten Mal seit dem Mord an Maria. Sie kletterte mal wieder auf einem Orangenbaum herum und suchte nach Früchten, die bei der Ernte übersehen worden waren.
Es war Anfang September, die Erntezeit war vorbei, und es war Lucinda so vorgekommen, als wenn mit den letzten Orangen auch das letzte bisschen Hoffnung verschwunden war. Hoffnung, denjenigen zu finden, der verantwortlich war für den Verlust ihrer Schwester, die Trauer ihrer Eltern und die Albträume, die Lucinda jede Nacht mit solcher Wucht packten, dass sie schweißgebadet aufwachte. Dann lag sie lange wach und weinte, weinte um ihre verlorene Schwester, die von ihr gerissen worden war. Die sie nicht mehr um Verzeihung bitten konnte. Doch sie war sich sicher, dass sie ihr den Streit nicht nachgetragen hatte. Sie waren Schwestern gewesen, da war es ganz normal, dass sie nicht immer einer Meinung waren.
Noch immer musste sie allerdings an Marias Worte denken, und sie verbrachte ihre Tage damit, darüber nachzugrübeln, wer nur Marias heimlicher Schwarm gewesen sein könnte. Inzwischen war sie sich ziemlich sicher, dass es kein gewöhnlicher Junge war, dass er etwas an sich gehabt haben musste, das sie dazu bewogen hatte, seinen Namen nicht preiszugeben. Oh, hätte sie ihn ihr doch verraten, dann hätte sie wenigstens einen Anhaltspunkt. Doch alles, was sie bisher herausgefunden hatte, war, dass Maria ihre über alles geliebte Kette an ihrem Todestag nicht getragen hatte. Zwar hatte sie das gleich Sheriff Hunter mitgeteilt, doch bisher hatte ihnen dieser Hinweis absolut überhaupt nichts genützt.
Die Kette war nicht wiederaufgefunden worden, obwohl die Polizei das ganze Grundstück abgesucht hatte. Es waren nachher sogar noch ein paar Detectives aus Bakersfield dazugekommen, die den Fall offiziell übernommen hatten. Auch sie hatten noch mal jeden vernommen, und Lucinda hatte gehört, dass sie sich nach dem alten Schuppen und den Möbeln darin erkundigt hatten. Ihr Vater hatte ihnen allerdings gesagt, dass der Schuppen ihm lediglich ab und zu als Nachtlager diene, wenn seine Frau ihn nach einem Streit mal wieder aus dem Bett geworfen hatte. Dabei hatte er gelacht, und die Detectives hatten mitgelacht. Lucinda aber hatte in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal mitbekommen, dass ihr Dad nicht in seinem eigenen Bett an der Seite ihrer Mutter geschlafen hätte.
»Ich glaube auch, dass Alejandro Marias Mörder sein könnte«, meinte Rosemary, die sich in diesem Sommer viele alte Kriminalfilme mit ihrer Grandma Tippi angesehen hatte. Die besaß nämlich die komplette Hitchcock-Kollektion auf Video.
»Mir ist er ja auch immer schon unheimlich vorgekommen«, steuerte Michelle bei.
»Leute, ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass Alejandro eines Mordes fähig wäre, oder?«, sagte Lucinda. »Meine Schwester wurde erdrosselt! «
»Ja, und? Warum nicht?«, fragte Jennifer.
»Weil ich es nicht glaube. Er ist vielleicht still und sogar ein bisschen unheimlich, aber er ist immer nett zu Maria und mir gewesen. Er hat Maria sogar immer besonders freundlich angelächelt, und ich hab ein paarmal gesehen, wie sie sich unterhalten haben.« Sie streichelte die Katze Idgie, die sich kurz mal von ihren Jungen getrennt hatte, um sie trösten zu kommen. Als würde sie spüren, wie sehr sie ein paar Kuscheleinheiten brauchte.
»Hey, da haben wir doch das Motiv!«, meinte Rosemary. »Er war in sie verliebt, und sie hat seine Liebe nicht erwidert!«
»Und warum sollte man jemanden töten, den man liebt? Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Menschen tun die verrücktesten Dinge aus Liebe«, wusste Rosemary. »In Vertigo …«
»Du guckst eindeutig zu viele Filme, Rosemary! Das echte Leben ist nicht so.«
»Und doch ist hier ein Mord geschehen, oder?«, sagte Jennifer. »Ich bin dafür, dass wir da mal nachforschen. Ich meine, er ist am Tag von Marias Tod verschwunden, oder? Der ist doch nicht ohne Grund abgehauen.«
»Ich bin auch dafür«, meinte Rosemary. »Lasst uns doch einfach mal in seiner Hütte nachsehen, ob wir irgendwas finden.«
»Das ist Einbruch!«, sagte Lucinda schockiert.
»Ist doch egal. Wenn wir etwas finden, war es das wert, oder?« Jennifer sah sie herausfordernd an.
»Und wenn nicht?«
»Dann war es wenigstens ein Versuch. Wir können doch nicht einfach dumm rumsitzen, während der Killer noch auf freiem Fuß ist. Was, wenn er wiederkommt und noch mal zuschlägt? Beim nächsten Mal könnte es dich treffen! «
Jennifer wartete nicht ab, ob sie noch etwas zu entgegnen hatte, sondern stolzierte davon. Rosemary folgte ihr, ohne zu zögern. Und Michelle sah sie nur kurz an, zuckte die Schultern und ging ebenfalls hinterher.
Lucinda seufzte. Okay, den Versuch war es wohl wert. »Wartet!«, rief sie und lief ihren Freundinnen nach.
Alejandros Schuppen war verschlossen, doch Lucinda wusste, wo ihr Dad einen Ersatzschlüssel aufbewahrte. Sie ging ihn schnell holen, und im Nullkommanichts waren sie in Alejandros vier Wänden, wo es so erbärmlich aussah, dass Lucinda gleich eine heftige Traurigkeit überfiel. Hier gab es nämlich weder einen Fernseher noch einen Kühlschrank noch irgendwelche persönlichen Dinge wie Bilder an den Wänden. Auf dem Bett lag eine dünne braune Wolldecke, die total kratzig aussah.
»Oh mein Gott, seht mal, was ich gefunden habe!«, hörte sie Michelle mit ängstlicher Stimme sagen und drehte sich um. »Ist das nicht Marias Strickjacke?« Ihre Freundin nahm eine grüne Jacke von der Stuhllehne und hielt sie hoch.
Lucinda blieb das Herz stehen. Sie entriss Michelle das Kleidungsstück und musste es gar nicht genauer betrachten, da sie bereits wusste, dass es Marias war. Es handelte sich dabei um eine alte ausrangierte Jacke ihres Dads, Maria hatte sie für sich beansprucht und oft getragen, obwohl sie ihr viel zu groß gewesen war. Sie roch noch immer nach ihrem Parfum. CK One – sie hatte den Duft geliebt!
»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. All die Zeit war sie so tapfer gewesen und hatte nicht vor ihren Freundinnen geweint. Sie bewahrte sich ihre Tränen für die Beerdigung auf, die noch immer nicht hatte stattfinden können, weil Marias Leiche noch nicht freigegeben worden war. Doch jetzt konnte sie es kaum mehr verhindern und ließ den Tränen freien Lauf.
Michelle legte einen Arm um ihre Schulter, um sie zu trösten. Rosemary reichte ihr ein Taschentuch.
»Scheiße, ich wusste es doch!«, rief Jennifer, und Michelle machte: »Pssst! Sonst hört uns noch jemand!«
Jennifer wurde zwar still, doch jetzt war sie erst richtig in Fahrt. Sie öffnete alle Schränke und Schubladen und suchte nach Beweisen. Und sie wurde richtig wütend, weil sie nichts fand. Mit voller Wucht trat sie gegen den einzigen Stuhl im Raum, der geräuschvoll umkippte.
Rosemary, die gedankenverloren dastand und wahrscheinlich an alte Hitchcock-Filme dachte, legte sich die Hand ans Kinn und begann zu nicken, als hätte sich ihr irgendetwas offenbart. Dann fing sie an, nach Geheimverstecken zu suchen, in Schubladen, unterm Tisch, im Lampenschirm, hinter Schränken, unterm Bett. Die anderen konnten ihr nur stirnrunzelnd zusehen, als sie sich nun auch noch flach auf den Boden legte und auf verschiedene Holzdielen klopfte.
»Wartet! Ich glaub, ich hab da was!«, rief sie plötzlich aus und verschwand noch weiter unter dem Bett, sodass nur noch ihre Füße herausguckten.
»Komm da raus, Rosie«, meinte Jennifer. »Wir können das Bett doch einfach beiseiteschieben.«
Gesagt, getan. Im Nu war das Bett aus dem Weg geräumt, und Rosemary suchte schnell nach einem Gegenstand, mit dem sie eine der Dielen anheben konnte, die an einer Ecke nur ein winziges bisschen hochstand. Mit einem Hebel aus der Werkzeugkiste, die noch immer auf einem der Regale stand, gelang es ihr, und sie lächelte breit, da sie nämlich recht gehabt hatte. Unter der Diele gab es einen Hohlraum, ein Geheimversteck, in dem sich eine metallene kleine Kiste befand.
»Dumme Cops! Wie sollen sie Marias Mörder finden, wenn sie nicht mal das hier entdeckt haben? Gut gemacht, Rosie!«, lobte Jennifer, holte die Kiste hervor und öffnete sie. Obenauf lag ein altes, zerknittertes Foto, das einen jüngeren Alejandro mit einem Latino-Paar und einem kleinen Mädchen zeigte, vielleicht seiner Familie. Jennifer nahm es heraus und warf es auf den hölzernen Tisch, der so morsch aussah, dass Lucinda sich wunderte, wie er noch aufrecht stehen konnte.
»Was ist da noch drin?«, wollte Michelle wissen und lugte über Jennifers Schulter.
»Briefe, wie es aussieht«, antwortete diese und holte einen ganzen Stapel hervor. Sie zog einen aus seinem Umschlag, überflog die Zeilen und erstarrte. Sie ließ sich aufs Bett sacken und sagte: »Das ist ein Brief von Maria. Die sind alle von Maria. Es sind Liebesbriefe.«
»Was?« Lucinda wollte ihrer Freundin nicht glauben. Doch diese hielt ihr die Briefe entgegen, und sie überzeugte sich selbst.
Jennifer hatte recht! Die Zeilen waren in Marias Handschrift geschrieben und mit ihrem Namen unterzeichnet. Ihr Spanisch war zwar nicht schlecht, doch sie konnte sich gerade nicht konzentrieren, deshalb bat sie Rosemary: »Kannst du das für mich übersetzen?«
Rosemary nahm einen der Briefe an sich und tat ihr den Gefallen.
»Lieber Alejandro, wie sehr du mir fehlst. Immer wieder muss ich an unsere gemeinsamen Stunden am See denken, und immer wieder kommen mir unsere Küsse in den Sinn.« Rosemary blickte auf und presste die Lippen fest aufeinander. »Soll ich weitermachen? «
Lucinda nickte. Sie musste alles wissen, alles !
»Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich es mir anders überlegt habe und nicht mehr nach Berkeley gehen will. Er war so sauer. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich nicht so weit fortgehen kann, weil ich dich liebe. Ich glaube, er wird bald zu dir kommen, also sei bereit, und bitte stehe zu unserer Liebe, wie ich es getan habe. Alejandro, ich kann nicht mehr ohne dich leben, und es – macht mich krank, heißt das, glaube ich –, dass ich Lucinda nichts von uns sagen kann. Aber sie würde es nicht verstehen, und ich muss warten, bis sicher ist, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben. Bitte … gedulde dich noch ein bisschen. Ich werde einen Weg finden. In ewiger Liebe, deine Maria.«
Lucinda starrte auf Marias Strickjacke, die sie noch immer hielt. »Maria und Alejandro?«, sagte sie ungläubig.
»What the fuck?« , kam es von Jennifer.
»Ich bin sprachlos!«, meinte Rosemary.
»Sie haben sich geliebt«, sagte Michelle. »Das ist so romantisch. Armer, armer Alejandro.«
»Und wo ist Alejandro?«, fragte Jennifer. »Wieso ist er abgehauen, wenn er Maria doch gar nichts getan hat?«
»Er ist doch illegal hier«, erinnerte Lucinda ihre Freundin. »Er konnte der Polizei die Wahrheit nicht sagen. Wahrscheinlich ist er aus Angst geflohen.«
»Er muss ganz schön in Eile gewesen sein, wenn er die Briefe zurückgelassen hat«, sagte Rosemary.
Sie hörten ein Geräusch, und als Nächstes öffnete sich die Tür, und Lucindas Vater trat ein. Und so, wie er sie alle anblickte, war sie sich sicher, dass er schon eine Weile draußen gestanden und ihnen zugehört haben musste.
»Ihr habt es nun also herausgefunden, hm?«, sagte er und sah Lucinda herzzerreißend an .
»Du wusstest es die ganze Zeit?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort ja schon kannte.
Ihr Dad nickte. »Ja. Es muss gewesen sein, kurz nachdem Maria ihm diesen Brief geschrieben hatte, dass ich zu ihm gegangen bin. Ich wollte ihn zur Rede stellen, wollte ihm sagen, dass er Maria nicht davon abhalten solle, aufs College zu gehen. Dass er ihr nicht die Möglichkeiten nehmen solle, die ihr offenstünden. Doch er sagte mir, dass er das gar nicht wolle. Dass er die vier Jahre auf sie warten würde, doch dass er sie eines Tages heiraten wolle. An diesem Tag bat er mich um die Hand meiner Tochter.«
»Hast du Ja gesagt?«, fragte Lucinda.
»Das habe ich. Denn ich habe die Liebe in seinen Augen gesehen, die er für Maria empfand. Ich habe zugestimmt, aber nur unter der Bedingung, dass Maria erst einmal nach Berkeley ging. Danach könnten sie heiraten, und Alejandro würde durch sie sogar eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und in den USA bleiben können.«
»Wahrscheinlich wollte er sie nur deswegen heiraten«, sagte Jennifer gehässig.
»Nein!« Ihr Dad sah ihre Freundin ernst an. »Er hat sie geliebt. Er hätte alles für sie getan.« Er musste einmal tief durchatmen, und dann sprach er mit zitternder Stimme weiter. »Bevor er ihr den Antrag machen konnte, wurde sie tot aufgefunden. Und es gibt da noch etwas, das ihr nicht wisst … Maria war schwanger. Es wurde bei der Obduktion festgestellt.« Jetzt liefen ihrem Vater selbst Tränen die Wangen hinunter, und Lucinda fiel ihm um den Hals.
»Oh nein, arme Maria«, schluchzte sie, und zusammen weinten sie eine Weile. »Hat sie es gewusst?«, fragte sie dann.
»Das weiß nur der liebe Gott«, antwortete ihr Vater .
Als sie sich voneinander lösten, sah sie, dass auch ihre Freundinnen schwer mitgenommen waren von dieser Offenbarung.
»Ich möchte euch um einen großen Gefallen bitten«, wandte Hank sich nun an sie alle. »Erwähnt der Polizei gegenüber nichts von Alejandro. Ich habe ihn fortgeschafft und werde ihn hierher zurückholen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Kann ich auf euch zählen?«
Er sah sie alle der Reihe nach an. Michelle nickte als Erste, und die anderen taten es ihr gleich.
»Danke«, sagte Hank. »Das werde ich euch nie vergessen. Und nun kommt, gehen wir ein paar Orangen pflücken.«
»Es sind keine mehr an den Bäumen«, erinnerte ihn Jennifer, die den Stuhl aufhob, während die anderen die Kiste mit den Briefen wieder in ihr Versteck legten und das Bett an seinen Platz zurückschoben.
»Ich weiß, wo noch welche hängen«, sagte er augenzwinkernd und wartete ab, bis sie alle den Schuppen verlassen hatten. Er zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel einmal um.
Lucinda sah, wie ihr Dad für einen Moment die Augen schloss und dann lächelte. Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie nahm wahr, wie ein anderes Gefühl die Traurigkeit ein wenig verdrängte. Es war Gewissheit. Die Gewissheit, dass Alejandro nicht der Mörder war, die Gewissheit, dass Maria die Liebe hatte erleben dürfen, bevor sie gestorben war. Und es war die Gewissheit, sich auf ihre Freundinnen verlassen zu können, egal, was komme. Sie alle teilten jetzt ein Geheimnis, und das war so gewaltig und so tragisch und doch so wundervoll, dass es sie noch lange nicht loslassen würde, das wusste Lucinda schon jetzt. Vielleicht würde es für immer ein Teil von ihnen sein und sie für den Rest ihres Lebens begleiten .
Einige Dinge würden zwar ungewiss bleiben, doch sie konnte jetzt damit abschließen, nach Antworten zu suchen, und endlich ihre Trauer zulassen.
Sie zog sich Marias Strickjacke über und sog ihren Duft tief ein. Und auch Maria würde für immer ein Teil von ihr sein.