Kapitel 33
Rosemary schaffte es einfach nicht einzuschlafen. Zwar döste sie hin und wieder für ein paar Minuten ein, doch an tiefen Schlaf war nicht zu denken, machte sie sich doch die ganze Zeit Sorgen um Michelle.
Also stieg sie um halb zehn aus dem Bett und ging duschen. Heute allerdings ließ sie beim Anziehen die Silikonkissen weg. Dass sie sie ins Feuer geworfen hatte, war etwas so Bedeutendes gewesen, bedeutend für ihr Ego und für ihren Lebensgeist. Sie hatte zwar noch weitere solcher Kissen im Koffer, nur für den Fall, dass eins kaputtgehen sollte, doch die hätte sie genauso gut in die lodernde Tonne werfen können. Denn sie brauchte sie nicht mehr. Schon ganz bald würde sie wieder eigene Brüste haben, und solange war sie eben der Mensch, der sie jetzt war. Sie fühlte sich nicht weniger als Frau, nur weil ihr ein paar weibliche Rundungen fehlten. Das, was sie als Frau ausmachte, waren doch ganz andere Dinge. Das waren ihr Charakter, ihre Großherzigkeit, ihre Familie, ihre Wünsche und Träume und Hoffnungen. All das hatte der Chirurg ihr nicht nehmen können, als er ihr die Brüste abgenommen hatte. Und er würde ihr mit der erneuten OP nicht mehr geben können als das, was das Publikum von ihr sehen wollte. Doch im Grunde war das nicht wichtig, das erkannte sie jetzt, das
hatte sie erkannt, als sie in Michelles Gesicht gesehen hatte, die bei ihrer Abfahrt voller Tatendrang und neuen Mutes war. Sie hatte es in Lucindas Augen erblickt, als sie davon sprach, die Farm retten zu wollen. Und sie hatte es gesehen, als Jennifer entschieden hatte, ihre Vergangenheit endlich ruhen zu lassen. Ihre Freundinnen waren wahre Frauen, tapfere Frauen, deren innere Stärke so viel bedeutungsvoller war, als es das Aussehen je sein könnte. Ja, sie hatte eine Erkenntnis gewonnen und war an diesem Morgen besonders zufrieden mit sich selbst.
Sie ging hinunter in die Küche, setzte Kaffee auf und suchte in Lucindas dickem Ordner nach dem Rezept für die Bonbons, damit sie schon mal anfangen konnte. Doch dann kam ihr der Gedanke, dass die Ereignisse von letzter Nacht vielleicht schon in den Promi-News sein könnten, und da sie auf keinen Fall wollte, dass Edward oder womöglich sogar Jeannie sie dort sahen und sich grundlos sorgten, wollte sie lieber erst einmal zu Hause anrufen, bevor sie weiter an Bonbons dachte.
»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte Edward sie.
»Guten Morgen. Wie geht es euch?«
»Uns geht es sehr gut, danke. Wir bereiten uns gerade auf einen Tag am Strand vor. Jeannie holt mehr Sandeimer herbei, als wir tragen können.« Er lachte, und Rosemary hätte mit Worten nicht beschreiben können, wie sehr sie die beiden vermisste.
»Ein Tag am Strand hört sich toll an.«
»Ja, wir sind sehr guter Laune heute. Besonders, weil du bald zurückkommst. Und nun erzähl du mal: Wie geht es dir?«
Sie schwieg einen Moment. Er hatte also tatsächlich noch nichts gehört? Konnte es wirklich sein, dass es noch
nicht durchgesickert war? Dass das Selfie der jungen Polizistin noch nicht die Runde gemacht hatte?
»Es ist anscheinend noch nicht in den Nachrichten gezeigt worden, hm?«, fragte sie also vorsichtig.
»Was denn?«, erkundigte sich Edward, noch immer fröhlich gestimmt.
»Vielleicht solltest du dich besser setzen«, sagte sie, und sie hörte, wie Edward nach Luft schnappte.
»Was ist passiert?«
»Also, du kennst doch Michelle, oder?«
»Nicht persönlich, nein, nur aus deinen Erzählungen.«
»Ja, also … an diesem Wochenende sind so einige Geheimnisse ans Licht gekommen. Unter anderem habe ich meinen Freundinnen auch endlich von meiner OP erzählt.«
»Ich finde, das war die richtige Entscheidung, Rosie. Aber was ist denn nun mit Michelle?«
»Michelle hat uns gestanden, dass ihr Mann Russel sie tyrannisiert, sie sogar schlägt … ja, und gestern am späten Abend ist er plötzlich hier aufgetaucht. Er war rasend eifersüchtig, dachte, sie mache hier sonst was, und wollte sie mit sich zerren.«
»Oh, mein Gott, das ist ja schrecklich.«
»Ja, das war es. Bis Lucinda ihm eins über den Kopf gehauen hat. Mit einem Stein. Und er in die Notaufnahme gekommen ist.« Sie hasste es, Edward anzulügen, aber sie mussten das Geheimnis unbedingt bewahren, damit Alejandro entlastet war.
»Um Himmels willen, Rosie … das klingt ja nach einem Albtraum. Ist Michelle denn okay? Bist du okay?«
Sie überlegte. Sollte sie ihm erzählen, dass Russel auch ihr gegenüber handgreiflich geworden war? Sie wollte ihm allerdings nicht noch etwas verheimlichen, also sagte sie: »
Ich bin okay. Ich wurde in dem Chaos ebenfalls geschubst, aber mir geht es gut.«
»Etwa von Russel?« Sie hörte die Wut in seiner Stimme, obwohl er so gut wie nie wütend wurde. Edward war ein Lamm, aber wenn es um sie ging, konnte er zum Löwen werden.
»Ja. Aber wie gesagt, er ist jetzt außer Gefecht gesetzt. Er liegt im Krankenhaus und wird von einem Polizisten bewacht. Und wenn er wieder bei Kräften ist, wird er ziemlich sicher angeklagt werden, weil Michelle sich nämlich endlich getraut hat, ihn anzuzeigen.«
»Da hat sie ganz richtig gehandelt. Den Kerl sollten sie wegsperren!« Edward wirkte richtig aufgebracht. »Und du bist wirklich nicht verletzt? Denk dran, dass du am Donnerstag bei vollständiger Gesundheit sein musst.«
»Mir geht es gut, Edward. Aber Michelle nicht, die gleich heute Morgen abgereist ist, um zu ihren Kindern nach Austin zu kommen, wo die nämlich von Russels Mutter betreut werden. Und wenn die etwas von den Ereignissen mitbekommt, könnte das schlimm enden.«
»Was sollte denn im schlimmsten Fall passieren?«
»Sie könnte mit ihren Enkeln über alle Berge sein, bevor Michelle zu Hause ankommt. Deshalb muss ich ganz genau wissen: Stand sicher noch nichts davon in der Zeitung, im Internet, irgendwo?«
»Wie gesagt, ich habe nichts mitbekommen. Sonst hätte ich mich doch längst bei dir gemeldet. Ich dachte ehrlich, ihr habt den Spaß eures Lebens, liegt faul in der Sonne und trinkt Cocktails.«
»Genau das haben wir auch getan, bis Russel aufgetaucht ist und Jennifer erfahren hat, dass ihr Vater gestorben ist.
«
»Du meine Güte, was ist denn da bei euch an einem einzigen Wochenende alles passiert?«
»Ich bin selbst noch total geschockt. Und das ist nicht alles. Lucinda steht nämlich kurz vor der Pleite, und nun müssen wir mit vereinten Kräften versuchen, die Farm zu retten. Denn sonst gibt es im nächsten Jahr keine Orangentage mehr.«
»Oh. Deshalb der Instagram-Post? Ich habe mich schon gewundert, warum du plötzlich Werbung für Bonbons machst.«
»Ja. Das ist eine lange Geschichte, die ich dir ausführlicher erzählen werde, wenn ich wieder zurück bin. Und was das anbelangt, möchte ich dich um etwas bitten …«
»Du möchtest länger bleiben?«
»Ja. Wäre das okay? Nur ein, zwei Tage.«
»Natürlich ist das okay, ich war doch derjenige, der dir das vorgeschlagen hat. Und in der jetzigen Situation, wenn wirklich was davon durchsickert, werden dir hier die Paparazzi auflauern, um zu erfahren, inwieweit du in die Sache verwickelt bist.«
»Ja, ich denke, dass das schon sehr bald passieren wird. Ich habe nämlich dummerweise ein Selfie mit einer Polizistin gemacht. Auf dem Revier letzte Nacht.«
»Warum machst du denn so was?«
»Sie war nett. Und ich war müde. Aus irgendeinem Grund hielt ich es zu dem Zeitpunkt für eine gute Idee …«
»Hm … bleib wirklich besser noch dort. Nur auf der Farm kannst du vor der OP noch ein wenig Ruhe finden. Fahr aber nicht nach Bakersfield rein, ja? Halte dich bedeckt.«
»Das werde ich. Ich bin spätestens Dienstagabend wieder zu Hause. Jetzt muss ich aber erst mal Lucinda wieder auf die Beine helfen.
«
»Weißt du was? Das liebe ich so an dir, mein Schatz, dass du selbst in der dunkelsten Stunde noch so ein großes Herz für andere hast.«
»Tja, so bin ich halt«, erwiderte sie lächelnd. »Deshalb hast du mich doch geheiratet, oder?«
»Oh, wenn du wüsstest. Da gibt es noch so viel mehr.«
Wie gerne würde sie sich jetzt von Edward umarmen und küssen lassen, wie gern würde sie ihm ins Gesicht sagen, wie sehr sie ihn liebte. Doch das musste warten. Die Orangenbonbons konnten es nicht.
»Ich liebe dich, Baby«, sagte sie stattdessen. »Ich denke die ganze Zeit an dich und auch an Jeannie.«
»Jeannie fragt auch die ganze Zeit nach dir. Willst du sie kurz sprechen?«
Er reichte ihr ihre Tochter, und die erzählte ihr aufgeregt von den Sandburgen, die sie bauen wollte. Als sie sie wieder an Edward zurückreichte, bat Rosemary ihn: »Wärst du so lieb und könntest mir sofort Bescheid sagen, wenn du irgendwas in den News hörst?«
»Aber natürlich.«
»Danke. Ich liebe dich«, sagte sie noch einmal.
»Ich liebe dich auch. Pass bitte gut auf dich auf, ja?«
»Das werde ich. Viel Spaß am Strand!«
Edward legte auf, und Rosemary starrte auf ihr Handy. Sie konnte es kaum glauben, dass wirklich noch nichts an die Öffentlichkeit gelangt war. Also googelte sie sich. Sah auf Instagram nach. Außerdem auf Twitter und auf Facebook. Nichts. Absolut gar nichts. Das war kaum zu fassen. Wäre so etwas in Los Angeles passiert, würde es im Netz vor Meldungen davon nur so wimmeln. Aber das hier war, wie sie des Öfteren einfach vergaß, eben Lamont, ein Ort, wo die Uhren anders tickten und wo sie eben doch nur
Rosemary Stutter war und wahrscheinlich immer bleiben würde.
Trotzdem wollte sie auch unbedingt noch Grandma Tippi anrufen, denn die konnte ja von jedem x-Beliebigen hier in Lamont von dem Vorfall hören. Nachdem sie ihr versichert hatte, dass alles in Ordnung war, und sie ihr versprochen hatte, am Abend zu Besuch zu kommen, legte sie auf und schenkte sich endlich einen Kaffee ein. Damit setzte sie sich an den Tisch und sah sich das Bonbonrezept genauer an. Sie hörte jemanden die Stufen herunterkommen und blickte auf. Es war Lucinda, die sich die Hand vor den Mund hielt, weil sie laut gähnte.
»Hey. Hast du ein bisschen schlafen können?«, fragte ihre Freundin.
»Nicht wirklich. Und du?«
Lucinda schüttelte den Kopf. »Oh, Kaffee, sehr gut.« Sie nahm sich einen Becher aus dem Schrank, füllte sich ein und stellte sich neben Rosemary. »Was machst du da?«, wollte sie wissen.
»Ich suche nach dem Rezept für deine Orangenbonbons.«
»Oh Gott, das ist total verrückt. Ich habe eben mein E-Mail-Postfach geöffnet. Es sind knapp fünfzig Bestellungen eingegangen seit gestern Abend.« Lucinda machte große Augen.
»Nur?« Sie hatte ehrlich gesagt mit mehr gerechnet.
»Nur? Machst du Witze? Ich weiß nicht mal, wie ich die fünfzig bewältigen soll.«
»Ach, das werden wir schon schaffen. Lass uns gleich anfangen. Was brauchen wir?«
Lucinda zählte die Zutaten auf, und sie holten alle herbei und begannen, Orangen auszupressen, diesmal allerdings mit einer elektrischen Saftpresse, die Lucinda aus dem
Schrank hervorkramte. Sie holte eine weitere Kiste Orangen herein, während Rosemary den bereits aufgefangenen Saft siebte und in eine Karaffe füllte. Dann schmolz Lucinda eine Riesenmenge Zucker in einer Pfanne, um ihn zu karamellisieren, und gab den Orangensaft und einige Gewürze dazu. Als alles zu einer zähen Masse eingedickt war, gab sie sie in vorgestanzte Bonbonformen, die niemals ausreichen würden, weshalb sie gleich per Eilexpress noch eine Ladung dazu bestellte.
»Wow, so macht man also Bonbons«, staunte Rosemary.
»So macht man Bonbons«, erwiderte Lucinda.
In dem Moment piepte Rosemarys Handy, und sie las die Nachricht, die Edward ihr geschickt hatte.
Die News haben nun auch Hollywood erreicht,
schrieb er und hatte einen Link angehängt, den sie sogleich öffnete. Er stammte von Starnews.com und zeigte ein Foto von ihr, allerdings eins von einer Filmpremiere im Mai, nicht das Selfie mit der Polizistin. Die Schlagzeile lautete: Rose Steen in brutalen Angriff verwickelt!
Sie hielt das Display so, dass auch Lucinda mitlesen konnte, die schon ganz neugierig hinschielte. Gemeinsam lasen sie den Artikel.
Hollywoodstar Rose Steen war am Samstagabend in eine Schlägerei in ihrem Heimatort Lamont nahe Bakersfield verwickelt. Wie wir von einem Insider erfahren haben, hat sie die Nacht auf dem Polizeirevier verbracht. Ob sie aber selbst das Opfer war oder nur eine Zeugenaussage machen musste, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit bestätigen. Wir halten Sie aber auf dem Laufenden.
Rose Steen hat bereits zwei Golden Globes und vier
Emmys gewonnen, sie spielt seit vierzehn Jahren die Cynthia Cole in der Serie Wild Hearts
, die Sie hier abrufen können …
»Shit!«, sagte Lucinda.
»Ach, alles gut. Die wissen überhaupt nichts.«
»Na, wenn du meinst.« Lucinda betrachtete sie plötzlich genauer. Dann legte sie sich eine Hand auf den Mund und sah ganz ergriffen aus.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Du hast deine Kissen ja gar nicht drin. Ich weiß, du hast sie symbolisch verbrannt, aber du hast doch sicher noch Ersatz dabei, oder?«
»Ja, aber ich brauche sie nun nicht mehr.«
Lucinda lächelte sie an, und sie sah so viel Stolz im Gesicht ihrer Freundin, dass sie selbst ganz berührt war.
Lucinda bewegte ihre Hand auf sie zu und legte sie sachte auf ihr flaches Dekolleté. Auf ihr Herz, das solch eine Wärme verspürte, dass sie fast platzte vor Dankbarkeit, diese wunderbare Freundin zu haben.
»Du wirst das packen«, flüsterte Lucinda.
Rosemary konnte nur nicken. Sie hoffte es so sehr.
»Und ich werde dich gleich nach der OP besuchen kommen, wenn du das möchtest.«
Sie lächelte tapfer. »Komm mich lieber am Wochenende besuchen, wenn ich wieder zu Hause bin. Dann können wir auf meiner Veranda sitzen und aufs Meer hinausschauen.«
»Das hört sich märchenhaft an.«
Sie nickte erneut. Ja, das tat es. Denn auch wenn das Leben wahrlich kein Märchen war, gab es da immer noch diese kleinen märchenhaften Momente, die es besonders machten. Und dieser Moment war einer davon.