Im Mittelpunkt der DDR-Auslandsspionage stand seit den Fünfzigerjahren bis zum Ende der DDR 1989 die Bundesrepublik Deutschland.
Die umfangreiche nachrichtendienstliche »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet« – wie die Bundesrepublik im Stasi-Jargon hieß – oblag in erster Linie der berühmt-berüchtigten »Hauptverwaltung Aufklärung« (HVA). Leiter war der legendäre HVA-Chef Generaloberst Markus Wolf. Unter seiner persönlichen Anleitung arbeitete die Abteilung X an sogenannten »Aktiven Maßnahmen«, die unter anderem darauf ausgerichtet waren, »den Feind bzw. einzelne feindliche Kräfte und Institutionen zu entlarven, zu kompromittieren bzw. zu desorganisieren und zu zersetzen«. Konkret waren das neben den Spitzenpolitikern der Bonner Republik auch die Bundespräsidenten.
75 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik und der DDR und 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer bringt der Blick auf die Ausspähung der Bundespräsidenten durch die Staatssicherheit unerwartete Erkenntnisse über die ersten 40 Jahre der beiden deutschen Staaten. Recherchen im Bundesarchiv, im Freiburger Militärarchiv und den Landesarchiven Sachsen-Anhalt in den Abteilungen Dessau und Magdeburg sowie das Studium der einschlägigen Stasi-Akten geben nicht nur Aufschluss über das Vorgehen und die Ziele des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), sondern fördern auch bislang unbekannte Aspekte über das Tun und Lassen, über verschwiegene oder wohlverborgene Verstrickungen der Staatsoberhäupter in der NS-Zeit und in der Zeit des Kalten Krieges zutage – Ergebnisse, die an zentralen Punkten der jüngsten Vergangenheit unvermittelt eine andere Geschichte der Bonner Republik sichtbar werden lassen.
An Theodor Heuss (FDP), erster Bundespräsident von 1949 bis 1959, schienen die »Schlapphüte« aus Ost-Berlin auf den ersten Blick nur geringes Interesse gehabt zu haben. Seine Vita bot keinerlei Anhaltspunkte für Verstrickungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Belastendes Material über Lebensführung und berufliche Tätigkeit existierte nicht. Daher konnte das Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin – heute Bundesarchiv – nur 110 Blatt als Stasi-Akte des ersten Bundespräsidenten zutage fördern. Doch darin befand sich brisantes Material. Es war kein Geringerer als der damalige FDP-Bundesvorsitzende und spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der von Bonn aus ab 1948 ein Spionagenetz in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) initiiert, kontrolliert und für dessen Finanzierung gesorgt hatte. Wenn das MfS das alles veröffentlicht hätte, wäre Theodor Heuss niemals zum Bundespräsidenten gewählt worden.
Das umfangreiche Aktenkonvolut des MfS über den zweiten Bundespräsidenten, den CDU-Politiker Heinrich Lübke, der sein Amt von 1959 bis 1969 ausübte, ist als Geheimdienst-Machwerk aus tatsächlichen und erlogenen Informationen nicht zu überbieten. Mit gefälschten Dokumenten wurde Lübke zum angeblichen »KZ-Baumeister« gemacht. Das war er sicherlich nicht. Der gelernte Vermessungsingenieur und stellvertretende Leiter der sogenannten »Baugruppe Schlempp« spielte aber eine herausragende Rolle bei sämtlichen Bauaufträgen im Dienste der NS-Rüstungsindustrie. Er hatte intensive Kenntnis vom Umgang mit KZ-Häftlingen – Männern und Frauen –, Zwangsarbeitern und Gefängnisinsassen. Bei zahllosen Bauvorhaben erlebte er hautnah den Einsatz dieser Menschen, ihre menschenunwürdige Behandlung, ihre Ausbeutung bis zur Erschöpfung und schließlich bis zum Tod. All das war Lübke über Jahre bekannt. Darüber hat der spätere Bundespräsident ein Leben lang geschwiegen.
Das Interesse des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit am dritten Bundespräsidenten, dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann (1969 bis 1974), war nicht besonders ausgeprägt. Bei Heinemann, einem der führenden Männer der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit, kamen die Spione zu dem Befund, dass der neue Mann an der Spitze der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit eine »fortschrittliche Rolle« gespielt habe, etwa durch seinen Kampf gegen die Wiederaufrüstung und für die Verständigung mit der DDR.
Die Stasi-Akte des vierten Bundespräsidenten, des FDP-Politikers Walter Scheel (1974 bis 1979), wurde bereits in den Fünfzigerjahren angelegt. Bei ihren Recherchen förderten die Stasi-Schnüffler unter anderem zutage, dass Scheel seit 1941 Mitglied der NSDAP gewesen war. Anders als in anderen Fällen nutzte der DDR-Geheimdienst sein Herrschaftswissen über Scheels NSDAP-Mitgliedschaft nicht, um Aktionen gegen ihn zu unternehmen. Der ehemalige Bundesaußenminister und Mitarchitekt der Bonner Ostpolitik wurde spürbar geschont.
Nachfolger Walter Scheels wurde Karl Carstens, fünfter Bundespräsident von 1979 bis 1984. Ins Fadenkreuz des Ministeriums für Staatssicherheit geriet der CDU-Politiker bereits Mitte der Sechzigerjahre. Seine Vita wurde ausführlich erforscht und in seiner Stasi-Akte dokumentiert. Unter anderem fanden die Stasi-Rechercheure auch belastendes Material aus der Zeit des Nationalsozialismus, das sich bei heutigen Recherchen bestätigen lässt. Danach hatte Carstens im November 1937 die NSDAP-Mitgliedschaft beantragt. Detailliert beschäftigte sich das Ministerium für Staatssicherheit mit Carstens’ Militärkarriere. Schon wegen seiner steilen politischen Laufbahn als hoher Beamter in den Bonner Ministerien wie auch als Oppositionsführer der CDU/CSU-Fraktion und als Präsident des Deutschen Bundestages stand Karl Carstens unter ständiger Kontrolle der Berliner Schnüffler. In seine Amtszeit als Bundespräsident fiel die Perfektionierung der Funkaufklärung: das tausendfache Abhören und Abgreifen der Telefon- und Telex-Verbindungen zwischen BRD und DDR sowie BRD und West-Berlin.
Richard von Weizsäcker, der sechste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (1984 bis 1994), hatte schon als Regierender Bürgermeister von Berlin ab 1981 die Stasi-Spitzel an seinen Fersen. Weizsäckers Leben wurde ebenso ausgeleuchtet wie seine politischen Aktivitäten – ob als Regierender Bürgermeister oder als Bundespräsident. Die Mittel und Methoden des DDR-Geheimdienstes lassen sich am Beispiel des umfangreichen Aktenkonvoluts zu Richard von Weizsäcker besonders gut dokumentieren. Seine Gespräche mit Vertretern der Kirche in der DDR, mit Künstlern und SED-Spitzenfunktionären wurden minutiös dokumentiert. Auffallend war allerdings, dass in den Stasi-Auskunftsberichten über die Familie die Verstrickungen seines Vaters in der NS-Zeit als Staatssekretär im Außenministerium keine Rolle spielten. Dessen NSDAP- und SS-Mitgliedschaft ebenso wie die NSDAP-Mitgliedschaft von Richard von Weizsäckers Mutter fanden keine Erwähnung. Auch die steile Militärkarriere Richard von Weizsäckers als Hauptmann in der »faschistischen Wehrmacht« wurde im Gegensatz zu belastenden Befunden bei Weizsäckers Vorgängern Heinrich Lübke und Karl Carstens lediglich mit einem einzigen Satz erwähnt. Auch Weizsäckers Doktorvater, ein überzeugter Nationalsozialist mit NSDAP-Mitgliedschaft und einer aktiven Rolle im Nationalsozialismus, fand bei der Ausleuchtung der Familie, des Studien- und Freundeskreises durch den DDR-Geheimdienst keine Erwähnung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker erfuhr durch das MfS über Jahre eine bevorzugte Behandlung – nämlich die des Verschweigens und des Verzichts auf unangenehme Veröffentlichungen.
Eine der wichtigsten Quellen im Stasi-Unterlagen-Archiv, die einen Einblick in die MfS-Auslandsspionage gegen die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, ist die 1998 entschlüsselte sogenannte SIRA-Datenbank. In dieser Datenbank erfasste die HVA alle Informationen, die sie mit geheimdienstlichen Mitteln zwischen 1969 und 1989 beschaffen konnte. Dabei handelt es sich beispielsweise um Berichte von »Inoffiziellen Mitarbeitern« (IM) oder um Dokumente, die ein IM lieferte. Die SIRA-Datenbank wurde für das vorliegende Werk besonders ausgewertet. Ohne sie wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.
Die Recherche belegt, wie die Staatssicherheit keine Kosten und Mühen scheute, um die Bundespräsidenten zu Propagandazwecken auszuspähen – und wie sie, wenn es ihrer Sache diente, mitunter sogar fälschend tätig wurde.
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Mein allererster Dank gilt Roberto Welzel, der als Sachgebietsleiter des Referats Forschung und Medien in der Stasiunterlagenbehörde – nicht nur für dieses Projekt – bei Recherche und fachlicher Beratung wahrlich Herausragendes geleistet hat. Er war unverzichtbarer Ansprechpartner, auf dessen fachliche Kompetenz ich immer wieder bauen konnte.
Bedanken möchte ich mich bei Sabine Gresens vom Berliner Bundesarchiv (Referat BE 2). Ihr gelang es, eine Reihe von Dokumenten aus der NS-Zeit vorzulegen, die immer wieder überraschten.
Bei der statistischen Auswertung des Aktenkonvoluts hat mir Uschi Kadel sehr geholfen.
Besonderer Dank gebührt Roswitha Schwan-Michels, Historikerin und Germanistin, die seit meiner Dissertation vor mehr als einem halben Jahrhundert stets meine erste Lektorin war. Wie bei allen Publikationen zuvor begleitete sie mich als kluge und kritische Ratgeberin.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei dem Physiotherapeuten Alexander Finzel von der PhysioSport bedanken. Er verhalf mir zu schmerzfreier Arbeit am heimischen Computer.
Dank auch an Tobias Eckoldt. Auf diesen IT-Experten von INTAT war immer Verlass, wenn mein Computer Probleme bereitete.
Köln, im Frühjahr 2024