23
Ein elektronisches Piepsen zerriss den Schleier der Bewusstlosigkeit. Außerdem nahm sie ein seltsames Geräusch wahr, als würde jemand gleichmäßig in ihr Ohr atmen.
Und dann war da noch die leise Stimme eines Mannes. Zoe versuchte den Kopf zu heben, ließ es aber sogleich wieder, weil ein plötzlicher Schmerz sie durchfuhr wie eine weiß glühende Nadel, und wartete reglos darauf, dass die Stiche nachließen und der Nebel in ihrem Gehirn sich zu lichten begann.
Irgendwann begriff sie, dass die Atemgeräusche ihre eigenen waren, unterstützt und stimuliert von einer Plastikmaske. Das Gemurmel, das sie hörte, erinnerte sie an Dan, aber sie brachte nicht die Kraft auf, die Augen zu öffnen, um ihre Vermutung bestätigt zu sehen.
»Meine Frau ist psychisch labil«, sagte Dan plötzlich fast übertrieben laut. »Daher denke ich, es ist am besten, wenn Sie ihr das Schlimmste verschweigen. Sie wissen ja, dass sie schon einmal versucht hat …«, er stockte kurz, bevor er den Satz vollendete, »sich das Leben zu nehmen, vor ungefähr sechs Monaten. Letzten Mai. Sie ist mit ihrem Wagen an einer Kreuzung über eine rote Ampel gefahren, direkt vor einen Lastwagen. Wenn der Fahrer nicht …« Noch eine Pause, um zu schlucken. »Es war ein Wunder, dass sie mit einem gebrochenen Schlüsselbein davongekommen ist. Sie hat behauptet, es sei ein Unfall gewesen, aber der Trucker sagte, sie habe ihn genau angesehen und Gas gegeben.«
Dans Stimme klang, als stünde er genau neben ihr. Sie spürte, dass eine Hand die ihre drückte.
»Na ja, was hätte ich tun sollen?«, fuhr Dan fort. »Sie einweisen lassen? Sie hat Medikamente genommen und eine Therapie gemacht. Ich hatte gehofft, das würde ausreichen. Dass sie wegwollte aus Amerika, darüber war ich nicht glücklich, natürlich nicht, doch ich konnte sie ja schlecht aufhalten. Ehrlich gesagt, hoffte ich sogar, eine Auszeit würde ihr guttun. In letzter Zeit schien es ihr besser zu gehen – ich dachte, sie sei außer Gefahr. Sobald ich allerdings entdeckte, dass sie ihre Medikamente nicht mitgenommen hatte …«
Der Satz blieb in der Luft hängen, und eine andere Stimme schaltete sich ein, stellte eine Frage, deren Wortlaut sie nicht verstand.
»Depressionen hauptsächlich«, gab Dan zur Antwort, »zudem irgendeine Art Manie. Anhaltende Wahnvorstellungen. Das heißt, um Ihre Frage zu beantworten, Doktor, ich würde sagen, es besteht kein Zweifel, dass das hier ein erneuter Suizidversuch war. Die Schnittwunden an ihren Handgelenken, der Versuch, sich zu ertränken …«
Sich zu ertränken. Die Worte lösten einen Erdrutsch in ihrer Erinnerung aus, Bruchstücke von Bildern drangen an die Oberfläche wie Treibgut im Meer: der Sturm, die Wellen, die bleichen Hände, Caleb. Caleb.
Als sie ihre Augen öffnete, blendete sie ein grelles weißes Licht. Zoe richtete sich kerzengerade auf, ignorierte die Schmerzen in ihrer Brust, an ihrem Kopf, an Armen und Beinen. Eigentlich tat alles weh. Das gleichmäßige Piepsen des Monitors, der wahrscheinlich ihre Herzfrequenz kontrollierte, wurde unregelmäßiger und schneller, als sich ihr Puls vor Anstrengung und Aufregung beschleunigte. Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Worte wurden unter der Maske erstickt. Von beiden Seiten stürzten verschwommene Gestalten auf sie zu, um sie wieder hinzulegen. Eine Frau bellte ein paar Worte, schroff und professionell, ein Mann wies sie zurecht. Sie hörte das Wort Beatmungsgerät.
»Schatz, kannst du mich hören? Es wird alles gut.«
Langsam begann sie ihre Umgebung klarer zu sehen, ein Gesicht nahm Konturen an: kantig, fest, resolut. Es war Dan, der sich einen Bart hatte wachsen lassen.
»Sie versucht etwas zu sagen.« Dan blickte zu den anderen Gestalten im Zimmer, die sie nur als Silhouetten wahrnahm. »Können wir ihr das hier für einen Moment abnehmen?«
»Wo ist Caleb? Er ist untergegangen …«, stieß sie hervor, sobald sie von der Maske befreit war.
Ihre Lunge fühlte sich an, als wäre sie in einen Schraubstock gezwängt. Sie schnappte ein paarmal hektisch nach Luft und geriet in Panik, als sie nicht genug Sauerstoff bekam.
»Zoe.« Dans Stimme klang gepresst. »Caleb ist tot.«
Der Aufschrei, der ihr entfuhr, war elementar, animalisch, ein lang anhaltender Ton, der sich erst abschwächte, als sie keine Luft mehr in sich hatte und ihre Brust sich zu verschließen schien. Rasch wurde ihr die Maske wieder aufs Gesicht gedrückt, sie machte ein paar flache, gierige Atemzüge, bis der Schmerz nachließ. Jemand beugte sich über sie, dann ein Stich und ein Fluss von Wärme und Schwere in ihren Adern.
Als sie Stunden später die Augen wieder öffnete, war Dan nach wie vor an ihrem Bett. Sie deutete auf die Sauerstoffmaske, und er nahm sie ihr ab.
»Sie hat ihn genommen«, flüsterte Zoe mit schwerer Zunge, als wäre sie mit Wasser vollgesogen. »Ich habe versucht, ihn zu retten. Sie hat ihn unter Wasser gezogen. Es war Ailsa. Ich konnte ihn nicht rechtzeitig erreichen.«
»Schatz.« Dan sah sie mit unendlicher Traurigkeit an. »Caleb war nicht im Wasser. Er ist letztes Jahr gestorben, erinnerst du dich? Kurz vor Weihnachten. Er hatte eine Hirnhautentzündung. Das weißt du doch, oder?«
Sie glaubte einen leicht entnervten Ton, eine Spur Ungeduld aus seiner Stimme herauszuhören. Es klang wie etwas, das er ihr schon einmal gesagt hatte – etwas, das er sie glauben machen wollte.
»Ich habe neulich mit ihm gesprochen, er hat mich angerufen.«
»Nein, das hat er nicht. Du hast das ganze Jahr über mit ihm gesprochen, obwohl er nicht da war. Er ist gestorben, Zoe. Ich will dich nicht auch noch verlieren.«
Die Maske wurde ihr erneut aufs Gesicht gedrückt, und sie schloss die Augen, ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Wärme umfing sie, sie wurde ruhiger. Das Gerät atmete jetzt für sie: ein und aus, ganz gleichmäßig.
»Das ist es, wovon ich rede, Doktor.« Dan hörte sich jetzt fast an, als würde er sich beschweren. »Das ganze Jahr über, immer dasselbe. Sie redete von Caleb, als ob er am Leben wäre. Ständig erzählte sie mir seelenruhig von Gesprächen, die sie angeblich mit ihm geführt hatte, und ich hatte keine Ahnung, ob es eine bewusste Selbsttäuschung war oder ob sie tatsächlich dabei war, vor Trauer den Verstand zu verlieren. Und vor allem wusste ich nicht, ob ich es unterstützen oder Klartext mit ihr reden sollte. Abgesehen von diesen Phasen wirkte sie völlig vernünftig und normal – niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnte unter Wahnvorstellungen leiden.« Er seufzte, und sie hörte, wie er mit der Hand sein Stoppelkinn kratzte. »Sie gibt sich die Schuld, das ist es unterm Strich. Weil sie dachte, es sei bloß ein simples Fieber, hat sie ihm Ibuprofen gegeben und ihn ins Bett gesteckt, während sie an einem Bild weitermalte. Vier Stunden später lag er im Koma. Ich bin kein Seelenklempner, aber für mich scheint das ziemlich offensichtlich.«
Erneut ergriff der Arzt das Wort, sprach jedoch so leise, dass sie nichts verstand. Offenbar sagte er etwas, das Dan missfiel.
»Nein«, empörte er sich. »Ich gebe ihr natürlich nicht die Schuld. Außerdem will ich nicht behaupten, dass ich die Symptome besser erkannt hätte als sie. Ich war beruflich verreist, an der Westküste – ich habe es durch einen Anruf erfahren. Als er ins Krankenhaus kam, war es bereits zu spät. Dieses verdammte Gemälde hat sie nach seinem Tod zerschnitten. Ach ja, und wer zum Teufel ist überhaupt Ailsa?«
Während Zoe ein weiteres Mal ins Dunkel zurückglitt, konnte sie die Wellen schlagen hören: auf und ab, auf und ab.
Sie wusste nicht, wie lange sie dahingedämmert hatte, jedenfalls war Dan, als sie die Augen aufschlug, verschwunden. Stattdessen stand ein Mann in einem weißen Kittel an ihrem Bett, der mit dunklen, klugen Augen zu ihr hinuntersah. Matt führte sie eine Hand an ihr Gesicht, um an der Maske zu ziehen, woraufhin der Weißbekittelte warnend eine Hand hob, kurz die Werte auf dem Monitor überprüfte und ihr daraufhin die Maske vom Gesicht nahm.
»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte er sich mit einem ausgeprägten schottischen Akzent.
»Ich weiß noch nicht.«
Er schenkte ihr ein knappes, professionelles Lächeln. »Ich bin Dr Chaudhry. Sie machen gute Fortschritte. Ich hoffe, wir können Sie in ein paar Tagen von den ganzen Gerätschaften befreien, wenn Sie so weitermachen.«
»War mein Mann hier? Oder habe ich das nur geträumt?«
»Nein, er war hier. Ich nehme an, die Schwester hat ihn nach Hause geschickt, damit er sich ein bisschen ausruht. Er war die letzten drei Wochen fast die ganze Zeit an Ihrer Seite, wissen Sie.«
»Drei Wochen?«
Sie versuchte sich aufzurichten, doch prompt setzte das Brennen in ihrer Lunge aufs Neue ein. Der Arzt drückte sie sanft in die Kissen zurück.
»Sie waren sehr krank, Mrs Bergman. Die ersten zehn Tage lagen Sie auf der Intensivstation.«
»Warum?«
»Eine Lungenentzündung infolge einer Unterkühlung. Und ein akutes Atemnotsyndrom. Sie wären fast ertrunken, wissen Sie. Viele erholen sich nie mehr davon – umso erfreulicher ist, wie gut es Ihnen schon wieder geht. Besser als erwartet. Sie hatten Glück, dass der Rettungshubschrauber so schnell zu Ihnen gelangt ist.«
»Ich kann mich gar nicht erinnern …« Sie sah ihn an, Bilder begannen sich vor ihrem Auge zu manifestieren. »Augenblick – Charles war da, er hat mich aus dem Wasser gezogen.«
»Sie hatten großes Glück«, wiederholte er, diesmal entschiedener, als wäre die Diskussion damit beendet.
»Was ist das Schlimmste davon?«
»Das Schlimmste haben Sie hinter sich, Mrs Bergman«, fuhr er fort. »Die Antibiotika haben sehr gut gewirkt. Ich musste bei der Dosierung aufpassen wegen …« Er brach abrupt ab und sah auf seine Unterlagen. »Wie ich bereits sagte, ich denke, Sie werden bald wieder allein atmen können.«
»Nein, ich meine etwas anderes. Mein Mann hat zu Ihnen gesagt, Sie sollten mir das Schlimmste verschweigen. Ich will nicht, dass man mir irgendetwas verschweigt – ich muss wissen, was passiert ist. Charles und Edward, sie waren beide am Strand. Geht es ihnen gut?«
Er ließ sich schrecklich viel Zeit mit seiner Antwort. Umständlich setzte er sich zu ihr auf die Bettkante – eine Position, die offenbar Mitgefühl vermitteln sollte. Noch bevor er weitersprach, wusste sie, was kommen würde.
»Nun, leider hatten die beiden Männer, die Ihnen ins Meer nachgelaufen sind, weniger Glück. Der jüngere wurde zwar aus dem Wasser gezogen und ebenfalls hierhergebracht, allerdings konnten wir nichts mehr für ihn tun. Der ältere Mann wurde vermutlich ins Meer gespült. Man hat die Suche nach zwei Tagen abgebrochen. Es tut mir sehr leid, Mrs Bergman.«
»Und was ist mit Robbie?«, stieß sie hervor.
Der Doktor runzelte verständnislos die Stirn. »Wer ist denn Robbie?«
»Robbie Logan.«
»Ich fürchte, ich weiß nicht …«
»Oh, das ist der Junge, der auf der Insel vermisst wurde«, schaltete sich eine weibliche Stimme vom anderen Ende des Raumes ein.
Als Zoe den Kopf wandte, sah sie eine Frau mit einem rundlichen Gesicht und ordentlichen schwarzen Zöpfen, die einen Rollwagen mit Handtüchern und Plastikschüsseln vor sich herschob.
»Schwester Andreou verfolgt die Lokalnachrichten gründlicher als ich«, warf der Arzt ein und neigte entschuldigend den Kopf.
»Man hat ihn an jenem Abend hier auf dem Festland gefunden«, erklärte die Schwester. »Gesund und munter.« Sie warf ein Handtuch auf Zoes Bett und lächelte sie an. »Er hat es geschafft, sich auf der letzten Fähre, die an dem Morgen ging, als blinder Passagier an Bord zu schmuggeln, können Sie das glauben? Hat sich auf der Ladefläche eines Kleinlasters versteckt, der Fahrer hat es erst bei einem Tankstopp bemerkt. Zu dem Zeitpunkt waren sie schon auf halbem Weg nach Glasgow. Er hat den Jungen umgehend auf der nächsten Polizeidienststelle abgeliefert.«
»Geht es ihm gut?«
»Das Letzte, was ich gelesen habe, war, dass er derzeit bei Verwandten in Inverness wohnt. Und der Fall des anderen Jungen, der dort oben verschwand, wurde in diesem Zusammenhang noch einmal neu aufgerollt, da gab es seltsame Verstrickungen. Zeit, Sie zu waschen, wenn es Ihnen recht ist?«
»Dann lasse ich Sie beide jetzt allein«, meinte Dr Chaudhry. »Versuchen Sie sich auszuruhen, Mrs Bergman. Sie haben überlebt. Jetzt müssen Sie erst einmal gesund werden.«
»Warten Sie, Doktor. Haben Sie Edward gesehen? Haben Sie ihn behandelt?«
»Edward?«
»Den jungen Mann, der ertrunken ist.«
»Nein. Ich habe ihn nicht behandelt. Er ist noch vor Ort gestorben, hat man mir gesagt. Es tut mir leid.«
»Er hat mich zu retten versucht – er und Charles.«
Tränen brannten in ihren Augen, ihre Brust wurde eng, ihr Atem flatterte, als wäre ein Vogel unter ihren Rippen gefangen.
»Das habe ich gehört. Die Polizei will mit Ihnen darüber reden, sobald sie gesund genug sind. Erst mal müssen Sie sich noch ein paar Tage erholen, Ihre Atmung stabilisieren, und auf keinen Fall dürfen Sie sich zu sehr aufregen.«
Er drückte ihr wieder die Maske aufs Gesicht, bevor sie protestieren konnte.
»Ich werde Ihnen die Zeitung heraussuchen, wenn Sie wollen«, flüsterte die Schwester, nachdem er gegangen war. »Dann können Sie die Geschichte nachlesen, wenn Sie mögen.«
Zoe nickte und ließ das Waschen reglos über sich ergehen. Sie fühlte sich wie betäubt. Edward und Charles. Und es war ihre Schuld. Sie hatte nie die Absicht gehabt, irgendjemanden mitzunehmen. Ailsa hatte allein sie gewollt, da war sie sich ganz sicher.