25

»Sie werden bald nach Hause fahren, meine Liebe.« Schwester Andreou war eifrig dabei, Dans Blumen in einem Glas auf dem Nachttisch zu arrangieren. »Ich werde Sie vermissen. Und Ihren Mann – er hat uns alle um den Finger gewickelt mit seinem Charme. Sehen Sie sich diese hinreißenden Rosen an.«

»Ich glaube, ich war keine besonders angenehme Patientin«, meinte Zoe, die sich die meiste Zeit schlafend stellte, um nicht reden zu müssen.

»Unsinn. Dr Chaudhry ist sehr zufrieden mit Ihnen. Er will Sie erst einmal mit einem Stimmungsaufheller stabilisieren, was natürlich besondere Umsicht erfordert wegen Ihres Zustands …«

»Meines Zustands?« Zoe richtete sich mühsam im Bett auf. »Sie meinen meine Lunge?«

Die Schwester wurde blass unter ihrem sorgfältigen Make-up. »Oh, warten Sie kurz, ich hole den Arzt.«

Dr Chaudhry erschien mit der üblichen gequälten Miene. Er scheuchte die Schwester hinaus, bevor er die Tür hinter sich schloss.

»Soweit ich verstanden habe, war Schwester Andreou soeben etwas indiskret.« Er stellte sich neben das Bett und spielte mit seinem Kugelschreiber. »Ich wollte eigentlich noch ein bisschen mit diesem Gespräch warten, aber wir können auch gleich darüber reden. Mrs Bergman, Sie sind im frühen Stadium einer Schwangerschaft. Soweit ich das beurteilen kann, hat Ihr kürzlich erlittenes Trauma keinerlei Beeinträchtigungen nach sich gezogen. Sie sind vielleicht etwas untergewichtig …«

Zoe blinzelte ihn an. »Das kann nicht sein.«

»Inwiefern?«

»Ich habe nicht …, na ja, ein einziges Mal. Und da hat er sich rechtzeitig zurückgezogen.«

Er lächelte matt. »Ich denke, Sie sind alt genug, um zu wissen, dass das kaum eine pannensichere Verhütungsmethode ist.«

»Nein, das nicht. Aber ich hatte erst ein paar Tage zuvor meine Periode, die erste seit Monaten und gerade mal für einen Tag – und da dachte ich …«

»Sperma kann bis zu fünf Tage am Leben bleiben, wie Sie sicher wissen. Offenbar hatten Sie einen verfrühten Eisprung, was bei unregelmäßigen Zyklen nicht selten vorkommt.«

»Ich bin fast dreiundvierzig. Das kann nicht sein. Sie müssen sich irren.«

»Kein Irrtum, das steht hundertprozentig fest.«

»Weiß Dan Bescheid?«

»Bislang habe ich nichts zu Ihrem Mann gesagt. Allerdings drängt die Zeit. Von der Schwangerschaft hängt ab, welche Medikamente ich Ihnen gegen die Depression verschreiben kann, und das wiederum hat Einfluss auf Ihren Entlassungstermin.«

»Sagen Sie es ihm nicht.«

»Mrs Bergman, mir ist bewusst, dass das eine sensible Angelegenheit ist. Immerhin weiß ich von Ihrem Mann, dass Sie seit einer Weile getrennt leben – und dass die Schwangerschaft nicht vorher eingetreten ist, liegt auf der Hand. Aus diesem Grund habe ich ihm gegenüber nichts erwähnt. Es ist wie gesagt noch ein sehr frühes Stadium, sodass Ihnen ausreichend Zeit bleibt, die entsprechenden Schritte zu unternehmen, falls Sie die Schwangerschaft beenden wollen.«

»Wie lange?«

»Fast vier Wochen. Die Empfängnis muss kurz vor Ihrem Unfall stattgefunden haben – wäre das zutreffend?«

Sie lehnte sich in die Kissen zurück und nickte, schloss die Augen und beschwor Edwards Bild herauf, sein schüchternes Lächeln, die Sommersprossen auf seiner Nase, die Art, wie ihm die Haare in die Augen fielen. Auch dieser hastige, total unromantische Akt in der Küche fiel ihr wieder ein, die Wildheit seines Verlangens, mit der er sie gegen die Spüle gedrückt hatte, seine Scham danach, seine rührenden Entschuldigungen.

Zögernd schob sie eine Hand unter die Decke und legte sie flach auf ihren Bauch. Die ganze Sache schien unmöglich. Sie hatte Edward so gut wie gar nicht gekannt, wusste nichts von seiner Herkunft, nichts von seinen Eltern – und die wiederum wussten nichts von ihr und von ihrer Rolle, die sie beim Tod ihres Sohnes gespielt hatte. Vielleicht sollte sie Kontakt zu ihnen aufnehmen. Würden sie sich freuen, wenn sie wüssten, dass ein Teil von ihm noch da war? Dass sie ein Enkelkind bekommen würden? Wäre es grausamer, es ihnen zu sagen oder es zu verschweigen? Sie fürchtete sich vor ihrem Urteil: eine Frau, doppelt so alt wie er, der würde man bereitwillig die Schuld an seinem Tod geben.

Und damit einher ging jener andere, düstere Gedanke, den sie seit der Mitteilung des Arztes zu verdrängen versuchte. Schließlich gab es da noch etwas anderes als ihr Quickie mit Edward in der Küche. Was, wenn ihr wiederkehrender Traum gar kein Traum gewesen war und der schattenhafte Liebhaber gar kein Schatten? Dieser Mann, der zu schön war, um ihm ins Gesicht zu blicken, und der sie so völlig besessen hatte, wie es ihr zuvor nie als denkbar erschienen wäre. Wenn … Sie durfte sich diesen Gedanken nicht gestatten, sonst würde sie den Verstand verlieren.

Es war unmöglich.

Aber es schien noch unmöglicher, geradezu unrealistisch, dass Charles an jenem Abend dem Meer heil entkommen war. Eine logische oder nur einigermaßen plausible Erklärung gab es nicht. Jedes Mal, wenn sie sich seinen Besuch in Erinnerung rief, war sie in Versuchung, ihn als eine weitere Halluzination abzutun, nur dass dort in ihrer Nachttischschublade Ailsas silbernes Kreuz lag, das er ihr in die Hand gedrückt hatte. Seien Sie tapfer, hatte er gesagt. Es ist noch nicht vorbei. Und er hatte davon gesprochen, dass Ailsas Sohn die Wahl gehabt hatte, sich dem Licht zuzuwenden. Besinnen Sie sich darauf, wenn die Zeit kommt. Hatte er es etwa gewusst? Dass sie eine Saat dieser dunklen Inselgeschichte in sich trug?

Sie presste die Augen fester zusammen, spürte heiße Tränen über ihr Gesicht strömen. Es war so leicht gewesen, im Gespräch mit Charles an eine Welt hinter dem Sichtbaren zu glauben; ohne ihn hingegen brach das alles weg im grellen Neonlicht der Krankenhauslampen. Alles, was auf der Insel plausibel erschienen war, kam ihr jetzt absurd vor und wie ein böser Traum. Was, wenn Charles lediglich ein alter Spinner war, der zu viel Ayahuasca genommen hatte, und sie nicht mehr als eine trauernde Mutter, die unter dem Einfluss von Psychopharmaka stand und aus dem Gleichgewicht geworfen worden war von ihren eigenen unterdrückten Sehnsüchten?

Und sie musste an Dan denken. Charles hatte recht, er war ein guter Mann auf seine Art. Er war bei ihr geblieben, trotz allem. Doch würde er auch mit dem hier bei ihr bleiben? Ihre Finger glitten zögernd über ihren Bauch, sie konnte kaum glauben, dass dort irgendein Leben entstanden sein könnte – sie fühlte sich zu ausgelaugt und leer. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie es ihm nie sagen müsste.

Als sie die Augen wieder aufschlug, war der Arzt gegangen. Sie öffnete die Schublade des Nachtkästchens und holte Ailsas Anhänger hervor, drehte ihn zwischen den Fingern. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Dan stürzte ins Zimmer, ließ sich in den Sessel fallen und hielt ihr eine Tüte mit Starbucks-Brownies hin, erzählte allerlei Belanglosigkeiten, den Mund voller Kuchen.

Ihn zu sehen, versetzte ihr einen schmerzlichen Stich, denn in diesem Moment begann sie zu begreifen, was für sie auf dem Spiel stand. Egal, welche Entscheidung sie traf, es würde ihr etwas Unersetzliches rauben.