16
Im letzten Licht des Nachmittags wirkte der Gastraum des Pubs schmuddelig und heruntergekommen. Die angelaufenen Zaumzeugbeschläge, die als Dekoration hinter dem Tresen hingen, der abgewetzte, verfleckte Teppich, die verblichenen Sepiafotografien, die Zeugnis ablegten vom einst florierenden Geschäft mit dem Fischfang und dessen industrieller Verarbeitung – lauter Relikte, die an bessere Zeiten erinnerten und jetzt einfach armselig und trostlos wirkten. An ihrem ersten Abend auf der Insel, als Micks Pub brechend voll gewesen war, hatte sie das nicht bemerkt. Was vermutlich nicht zuletzt an der schummrigen Beleuchtung lag.
Zwei ältere Männer saßen zusammengesackt in einer Fensternische an einem Tisch, der klebrig von verschüttetem Bier war, und umklammerten ihre vollen Pintgläser, die wässerigen Augen auf einen Fernseher an der Wand geheftet, auf dem ein lautlos gestellter Shoppingsender mit Untertiteln lief. Der Geruch nach ausgebranntem Kaminfeuer und kaltem Zigarettenrauch hing in der Luft. Hinter der Bar tippte Annag Logan mit den Daumen wie wild auf ihr Handy ein. Sie hatte kaum den Blick gehoben, als Zoe eingetreten war.
Horace trottete weiter zur Hintertür und wandte sich mit fragendem Blick um, wollte offensichtlich zu Charles’ Bank im Hof.
»Hallo«, rief Zoe dem Mädchen zu, das sie eindeutig zu ignorieren versuchte. »Ist Mick da?«
»Nein.«
Sie klickte weiter, und als Zoe sich vorbeugte, sah sie bunte Formen über das Display schwirren.
»Weißt du vielleicht, wo er ist?«
Sie verspürte keine Lust, sich von diesem dümmlichen Teenager, der an einer geradezu grotesken Selbstüberschätzung litt, vorführen zu lassen. Nicht nachdem der kleine Bruder ihr gesteckt hatte, wie seine Schwester über sie dachte – vermutlich würde Annag ihn wegen dieser Dummheit einen Kopf kürzer machen.
»Er ist auf dem Festland«, bequemte sich das Mädchen zu erklären.
Zoe wusste nicht, was sie davon halten sollte, und fragte sich unwillkürlich, ob das irgendwas damit zu tun hatte, dass mit seiner Vermietung so ziemlich alles aus dem Ruder lief. Gleichzeitig verunsicherte sie Micks Abwesenheit. Wenn in dieser Nacht wieder etwas passierte, würde ihr niemand zu Hilfe kommen.
»Nanu, davon hat er keinen Ton gesagt«, gab sie lahm zurück. »Und wann will er zurückkommen?«
Annag zuckte die Schultern. »Morgen vielleicht. Oder Mittwoch. Kann mich nicht erinnern. Wollte zur Brauerei. Normalerweise bleibt er bei solchen Gelegenheiten ein bisschen, fährt zum Großmarkt und so.«
»Okay. Danke. Ist wenigstens Kaye da?«
»Sie ist bei einer Probe. Mit der Band.«
»Und wo bitte?«
So langsam wurde Zoe ungeduldig, weil das Mondgesicht sich alles aus der Nase ziehen ließ und ihr am liebsten gar keine Auskünfte gegeben hätte. Bestimmt würde sie ihr am liebsten sagen, sie solle sich zum Teufel scheren. Nicht nur aus dem Pub, sondern von der ganzen Insel.
»Also bitte, wo ist Kaye? Herrgott, mach endlich den Mund auf«, herrschte sie Annag an.
»In der Schulaula«, erklärte die daraufhin, fügte jedoch voller Häme hinzu: »Wo die ist, werden Sie ja wissen.«
Der Klügere gibt nach, sagte sich Zoe und schluckte eine passende Antwort herunter.
»Danke. Komm, Horace.«
Sie schnippte mit den Fingern, woraufhin sich der alte Hundeherr schwerfällig aufrappelte und gemächlichen Schrittes zu ihr herüberkam. Hatte er tatsächlich die Augen verdreht, oder fiel das in die Rubrik Einbildung?
»Muss gruselig sein, ganz allein da draußen«, schickte Annag ihr hinterher, als sie die Tür erreichte.
»Eigentlich nicht«, gab Zoe knapp über die Schulter zurück.
»Und warum haben Sie dann Horace?«
Eindeutig versuchte das Mädchen ihr eine unbedachte Bemerkung zu entlocken.
»Nun.« Zoe lächelte maliziös. »Horace möchte zu gerne mal auf Geisterjagd gehen.« Als das Mädchen daraufhin schwieg, fragte sie aufs Geratewohl: »Kennst du eigentlich das Haus?«
Annag riss ihre kleinen Augen weit auf und starrte Zoe an. »Was?«
»Du hast mich sehr gut verstanden. Ist ja eine einfache Frage. Also, wie gut kennst du das McBride-Haus? Hast du dort viel Zeit verbracht?«
»Nein.« Jetzt verengten sich die kleinen Augen des Mädchens zu Schlitzen. Die Verschlagenheit in ihrer Miene war einer misstrauischen Vorsicht gewichen. »Warum sollte ich dorthin gehen?«
»Es ist sehr hübsch, und es liegt sehr schön. Außerdem gibt es jede Menge Seevögel am Strand und in den Felsen.«
Eine Anspielung, die ohne Reaktion blieb.
»Und?«
»Ich dachte, vielleicht magst du Seevögel.«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden«, gab Annag pampig zurück und wandte sich wieder ihrem Spiel zu.
Sie war gut, wie sie auf ahnungslos machte, dachte Zoe. Wenn sie mit Dougie unter einer Decke steckte, wusste sie das geschickt zu verbergen. Bislang zumindest hatte sie keinen Fehler begangen.
»Übrigens solltest du mit deinem kleinen Bruder besser zum Arzt gehen«, sagte Zoe beim Hinausgehen. »Diese Platzwunde in seinem Gesicht sieht nicht gut aus.«
»Er ist ein ungeschickter kleiner Scheißer, fällt ständig irgendwo herunter«, erwiderte das Mädchen herzlos. »Und Sie – Sie sollten sich besser um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Okay. Ich habe eine Idee. Warum versuchen wir nicht alle, genau das zu tun?«
Mit diesen Worten zog sie die Tür des Pubs zu, ohne zu warten, ob Annag wenigstens diese Anspielung verstanden hatte und langsam begriff, dass Zoe etwas ahnte.
Es war fast vier, als sie das Schulgebäude erreichte. Die Kinder waren längst nach Hause gegangen. Statt Kinderlärm hallte Kayes Lachen in den Fluren wider. In der Aula roch es nach Bohnerwachs und Turnschuhen. Edward stand unter dem halbrunden Fenster gegenüber dem Eingang und stimmte mit geschlossenen Augen seine Geige, während das Licht des späten Nachmittags seine Haare vergoldete. Sie gestattete sich, ihn einen Moment zu betrachten, wobei sie sich durchaus der Tatsache bewusst war, dass die Blicke der anderen zwischen ihnen hin und her flogen.
»Kaye! Annag hat mir gesagt, dass ich Sie hier finde.« Sie zwang sich zu einem unbekümmerten Ton, um jeden Zweifel an dem Grund für ihr Erscheinen im Keim zu ersticken. Aber das leichte Kribbeln, das sie durchzuckte, als Edward die Augen aufschlug und sie mit aufrichtiger Freude entwaffnend anlächelte, ließ sich nicht unterdrücken.
»Kann ich Sie kurz sprechen?«, bat sie Kaye. »Draußen vielleicht.«
»Na klar. Bin gleich wieder da, Leute.«
Kaye nahm sie beim Ellenbogen und führte sie in einen Flur, der mit Kinderzeichnungen bestückt war. Bei den Strichmännchen, umgeben von spitzen Bäumen und wogenden Wellen, musste Zoe an Caleb denken, und das Herz wurde ihr schwer.
»Schön, dass Sie gekommen sind – ich wollte gleich nach der Probe sowieso anrufen.«
Kaye drückte Zoes Arm, ihre Finger waren wieder mit langen Silberringen gepanzert, und das starke Augen-Make-up und der fuchsienfarbene Lippenstift ließen sie völlig anders aussehen als letzte Nacht. Aus dem sanften Geschöpf im flauschigen Morgenmantel war eine mit Keltenschmuck ausstaffierte Walküre geworden. Bei ihren nächsten Worten senkte sie verlegen den Blick; schützte sich hinter violett schimmernden Lidern und dichten Wimpern.
»Wollen Sie heute vielleicht wieder im Pub übernachten? Und zum Abendessen kommen? Ich denke, das wäre das Beste.«
»Äh, na ja …«
Sie wollte erklären, dass sie einen Pseudowachhund hatte, doch Kaye schnitt ihr das Wort ab.
»Es ist so … Ich war mir nicht sicher, ob ich es Ihnen überhaupt sagen soll, und das Ganze ist mir sehr unangenehm …«, druckste Kaye herum und holte tief Luft. »Ich hab einen Anruf bekommen. Von Ihrem Mann.«
»Was?«
»Er wirkte ziemlich besorgt, weil er Sie unter der Nummer des Hauses nicht erreichen konnte und Sie seine Nachrichten auf dem AB nicht beantwortet haben.«
»Und woher hatte er Ihre Nummer?«
Kalte Wut breitete sich in ihr aus. Dan musste eine Möglichkeit gefunden haben, ihren Computer vor ihrer Abreise zu durchsuchen, obwohl sie ihr Passwort nach dem letzten derartigen Vorfall geändert hatte.
»Ich dachte, Sie hätten sie ihm gegeben, so für alle Fälle.« Kaye wirkte gleichermaßen verwirrt wie bestürzt. »Dann hat er sie vielleicht von der Website, nehme ich mal an, er weiß ja bestimmt, auf welcher Insel Sie sich befinden. Jedenfalls wollte er sich einfach vergewissern, dass es Ihnen gut geht – er erwähnte irgendwas von einer Krankheit, daher hat er gefragt, ob …« Ihre Stimme verlor sich, als sie Zoes Miene sah. »Ich weiß, Männer sind manchmal schlimm, stimmt’s? Wenn ich mit den Mädchen im Sommer für ein paar Wochen zu meinen Leuten fahre, ruft Mick alle fünf Minuten an: wegen jedem Scheiß. Manchmal frage ich mich, was er früher, vor meiner Zeit, gemacht hat. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob er je seine Klamotten gewaschen hat.« Sie lachte, um die Stimmung aufzulockern. »Im Ernst. Klingt, als ob Ihrer genauso ist, was?«
»Nein, er will … Was hat er denn gefragt?« Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Sie haben ihm hoffentlich nicht von letzter Nacht erzählt, oder? Dass ich im Pub übernachtet habe?«
Kaye reagierte nicht schnell genug, um es abzustreiten. Schuldbewusst und um Verzeihung bittend, sah sie Zoe an.
»Vielleicht habe ich erwähnt, dass Sie ein bisschen aufgewühlt waren«, gestand sie und fügte sogleich zu ihrer Verteidigung hinzu: »Ich war besorgt, verstehen Sie.«
»Was hat er sonst noch gesagt? Hat er Caleb erwähnt?«
»Ganz ruhig.« Kaye zog ihren Arm zurück, den Zoe umkrallt hatte. »Ist das Ihr kleiner Junge? Nein, ich glaube nicht. Er hat bloß gesagt, Sie seien nicht ganz Sie selbst, weil Sie krank waren, und dass er sich deshalb Sorgen macht, wie Sie allein zurechtkommen sollen …«
»Und Sie mussten ihm unbedingt sagen, was letzte Nacht passiert ist! Das war Wasser auf seine Mühlen. Herrgott noch mal!«
In diesem Moment fiel ihr Blick auf die Kinderzeichnung vor ihr. Das Blatt zeigte ein baufälliges Haus, das schwarz umrandet war, und in einem der Fenster war ein weißes Strichmännchen mit wilden Haaren zu sehen. Der grüne Hintergrund war inzwischen ein wenig verblasst. Unter die Zeichnung hatte der Lehrer geschrieben: Das Spukhaus, von Iain Finlay, zehn Jahre.
Wie konnte Edward dieses Bild an der Wand hängen lassen nach dem Unglück und dem Tod des Jungen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Hören Sie, Zoe – es tut mir wirklich leid«, bemühte Kaye sich um Schadensbegrenzung. »Ich konnte ja nicht wissen, was ich sagen oder nicht sagen sollte. Schließlich haben Sie uns weder etwas erzählt noch uns gewarnt, dass wir keine Auskunft geben dürfen.« Sie hob eine Hand zum Zeichen, dass sie noch nicht fertig war. »Ihre Ehe ist Ihre Privatsache, genauso wie das, worauf Sie sich hier einlassen oder nicht. Ich bin nicht wie diese Dorfweiber, die nichts Besseres zu tun haben, als zu tratschen. Er hat mir leidgetan, Ihr Mann, das ist alles. Er schien ehrlich beunruhigt, als hätte er mit dem Schlimmsten gerechnet. Mick würde ausflippen, wenn ich allein nach Amerika führe, und würde genauso reagieren.« Sie hielt grinsend inne. »Schön wär’s, was.«
»Er muss Ihnen nicht leidtun«, beschied sie Kaye knapp und ein wenig barsch. »Er manipuliert Sie. Wir sind dabei, uns zu trennen, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Dennoch versucht er mich nach wie vor zu kontrollieren. Über dreitausend Meilen hinweg. Wenn er das noch mal tut, sagen Sie ihm bitte, dass Sie nicht meine Babysitterin sind. Und im Übrigen: Ich lasse mich auf gar nichts ein.«
Kaye schlug sich mit einer metallverzierten Hand an den Mund. »Entschuldigung, das war einfach so dahingesagt.«
»Ist schon okay. Sie haben ihm aber nichts von diesem Zeug erzählt, dass das Haus verflucht ist oder ich sensibel bin?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Kaye leicht pikiert.
»Hat Mick ihm möglicherweise irgendwas von gestern Nacht erzählt?«
»Nein, er war bereits auf dem Festland, als Ihr Mann anrief.«
»Gott sei Dank. Wann kommt Mick zurück?«
»Morgen. Deswegen wollte ich ja vorschlagen, dass Sie noch mal bei uns übernachten.« Kaye zögerte. »Zur Sicherheit, falls Sie wieder eine schlimme Nacht haben sollten. Ich könnte nämlich die Kinder nicht allein lassen, um zu Ihnen hochzufahren …«
Irgendetwas an Kayes Miene störte sie, die Art, wie ihr Blick zur Seite glitt. In ihrem Gespräch mit Dan war es um mehr gegangen, als sie zugab, da war sich Zoe sicher.
»Hat er Sie gebeten, mich im Auge zu behalten?«, hakte sie nach.
»Nein! Darum geht es nicht. Ich würde mich einfach besser fühlen, wenn Sie heute bei uns übernachten, das ist alles.«
Zoe sah sie an. Wäre das mit dem Anruf nicht gewesen, dann hätte sie Kayes Angebot sofort angenommen. Immerhin war sie selbst nicht gerade glücklich über Micks Abwesenheit. Doch jetzt nicht, da hatte sie ihren Stolz. Es war schlicht und ergreifend demütigend, wenn man befürchten musste, dass ihre Vermieter sie im Auftrag ihres Mannes beobachteten.
»Danke für das Angebot, trotzdem bleibe ich oben. Keine Sorge, ich werde bestens zurechtkommen.«
»Ich glaube, Mick wäre ebenfalls beruhigter«, versuchte Kaye sie umzustimmen.
»Ihr beide müsst euch nicht meinetwegen schlecht fühlen. Schließlich seid ihr nicht meine Babysitter, wenngleich mein Mann das gerne sähe und Sie vielleicht gedrängt hat, auf mich aufzupassen und ihm Bericht zu erstatten. So funktioniert das nicht, Kaye. Diesmal darf ich nicht einknicken, sonst schaffe ich den Absprung nie. Und das muss mein paranoider Ehemann langsam begreifen. Er hat kein Recht, Sie anzurufen und mich in ein falsches Licht zu rücken und Ihnen das Gefühl zu geben, für mich verantwortlich zu sein. Und nebenbei gesagt, bin ich es, die die Miete für das Haus bezahlt, nicht er. Also lassen Sie sich nicht von ihm einwickeln.«
»Das ist nicht, was …«
»Es ist mir egal, was er gesagt hat. Ich kann’s mir denken. Er ist ein Kontrollfreak. Und darin ist er richtig gut, daher mache ich Ihnen auch keinen Vorwurf, dass Sie seinen Worten geglaubt haben.«
»Es tut mir leid, Zoe.« Kaye spielte mit ihren Ringen. »Wie gesagt, ich wusste nichts von alledem und will nicht in Ihre Angelegenheiten hineingezogen werden …«
»Das werden Sie nicht – ich komme alleine zurecht.«
Eine lange Pause trat ein. Zoe wusste, dass sie nicht glaubwürdig war. Wenn sie lediglich daran dachte, in welchem Zustand Mick sie in der vergangenen Nacht angetroffen hatte! Gott sei Dank war das nicht bis zu Dan gedrungen. Nicht auszudenken, sonst würde er in diesem Moment zweifellos schon in einem Flugzeug sitzen.
»Was wollten Sie mich eigentlich fragen?«, erkundigte Kaye sich und warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Oh, es hat sich erübrigt – ich wollte Sie bitten, nichts von letzter Nacht herumzuerzählen.«
Mit dem Vorhängeschloss konnte sie jetzt nicht kommen. Kaye würde ausrasten und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Und dann, als sie eher zufällig die Hände in die Jackentaschen steckte, traf sie der Schlag: Das Schloss war weg. War es im Wagen herausgefallen, auf dem Parkplatz oder im Pub?
Sie musste es umgehend finden, es war ihr einziger hieb- und stichfester Beweis, dass der Eindringling über die Kellerluke nach Lust und Laune im Haus herumspazieren konnte. Dass es sich um Dougie handelte, war bislang eine Vermutung, wenngleich eine wohlbegründete. Plötzlich wurde ihr mit einem Anflug von Angst bewusst, dass Dougie höchstwahrscheinlich über Micks Reise aufs Festland informiert war und die Gelegenheit für eine neuerliche Attacke auf ihre Nerven oder für Schlimmeres nutzen könnte. Sie war kurz davor, ihre Entscheidung wegen der Übernachtung zu revidieren, aber sie brachte es nicht fertig, über ihren Schatten zu springen.
Irgendwie schien Kaye Zoes Schwanken und die aufkommende Angst zu spüren. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm.
»Sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun?«
»Ja, heute geht es mir gut. Wirklich. Gestern Nacht war … untypisch. Und Kaye, es tut mir leid, dass mein Mann Sie in unsere Eheprobleme hineingezogen hat – das war nicht fair von ihm.«
»Nein. Ich bin es, die sich entschuldigen sollte. Nächstes Mal weiß ich Bescheid.«
Trotz dieser Versicherung merkte Zoe an ihrem Ton, dass sie nicht wirklich wusste, wem sie glauben sollte.
»Kaye?« Der bärtige Musiker mit dem grauen Pferdeschwanz steckte den Kopf durch die Tür. »Ich will ja nicht stören, aber wenn du nicht bald kommst, wird Bernie an deiner Stelle singen, und das hat niemand verdient.«
»Ach zum Teufel mit euch allen«, rief eine gutmütige Stimme aus der Aula, die vermutlich Bernie gehörte.
»Halt die Klappe, ich bin gleich da. Hier.« Sie zog mit einer einzigen schnellen Bewegung eine ihrer Silberketten über den Kopf, an der ein gezackter schwarzer Stein hing. »Nehmen Sie das. Der schwarze Turmalin ist ein mächtiger Schutz gegen böse Geister und negative Energien. Na los, tun Sie mir wenigstens diesen Gefallen, dann fühle ich mich besser. Und Sie haben den Salbei – vergessen Sie nicht, den zu verbrennen.«
»Okay, danke.« Zoe beugte den Kopf vor, um sich die Kette umhängen zu lassen. »Sie haben nicht zufällig etwas, um Exmänner fernzuhalten?«
»Ich glaube, so etwas nennt man Anwalt«, warf der Mann mit dem Pferdeschwanz ein, der im Türrahmen lehnte.
Zoe lachte und hob eine Hand zum Abschied, Kaye hingegen blieb ernst und bewegte lautlos die Lippen, als würde sie ein Gebet oder eine Beschwörungsformel sprechen. Vermutlich Letzteres, nahm Zoe an.
Als sie gerade Horace’ Leine vom Schultor losband, kam Edward über den Hof auf sie zugesprintet.
»Hey.«
Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen. Sie sahen sich an, nicht sicher, wie sie sich künftig zueinander verhalten sollten.
»Sie werden mich hassen«, meinte sie mit einer Geste in Richtung Aula. »Ich habe Kaye viel zu lange aufgehalten. Und jetzt dich. Du solltest zurückgehen.«
»Sie kommen durchaus eine Minute ohne mich klar.« Er strich sich die Haare aus den Augen, und wieder fiel ihr auf, wie jung er aussah. »Ich sehe, du hast Horace bei dir. Geht es Charles nicht gut?«
»Er ist okay, keine Sorge. Horace übernachtet heute bei mir, damit ich ein bisschen Gesellschaft habe.«
Edward streckte eine Hand nach dem Hund aus, der sie kurz leckte, weil sich das seinem Verständnis nach so gehörte.
»Es fällt mir schwer, ihn mir als Wachhund vorzustellen.«
»Alles Tarnung«, scherzte Zoe. »Unter der harmlos-treuherzigen Oberfläche ist er ein gnadenloser Killer.«
»Eigentlich hatte ich mich gefragt, ob du heute Abend vielleicht gerne eine andere Art Gesellschaft hättest?«
»Na ja, das ist …« Sie zögerte, aber ein Blick in seine aufrichtigen braunen Augen gab den Ausschlag. Scheiß drauf, sagte sie sich und betrachtete es gleichzeitig als Rache an Dan. Wenn der glaubte, er könnte sie nach wie vor wie eine Schachfigur hin und her schieben, hatte er sich getäuscht. Und zwar gewaltig.
»Klar, gerne. Sofern du nichts Ausgefallenes erwartest. Es gibt irgendeine Pasta.«
»Klingt super. Ich komme, sobald wir hier fertig sind, und bringe Wein mit.«
»Wird dankend angenommen. Jetzt solltest du allerdings besser zurück zu deinen Freunden gehen, sonst musst du am Ende nachsitzen.«
Er nickte, kraulte Horace hinter den Ohren und eilte winkend über den Pausenhof davon.
Zoe sah ihm nach, bis er im Schulgebäude verschwunden war, und ging über den Dorfanger zu den Läden, um ein paar Sachen fürs Abendessen einzukaufen. Vor der kleinen Drogerie, in deren Schaufenster Stützstrümpfe mit Abführmitteln um Aufmerksamkeit wetteiferten, blieb sie kurz stehen und spielte mit dem Gedanken, eine Packung Kondome zu erstehen. Nein, verwarf sie die Idee, das wäre ja, als würde sie im Voraus entscheiden, Sex mit Edward zu haben. Dabei machte gerade die Aura des Nichtwissens, des Schwebenden den Charme ihrer Beziehung aus. Und ein Teil von ihr hatte sogar das Gefühl, dass sie lieber ihre Fantasie ausleben und genießen wollte, statt sie womöglich durch enttäuschenden Sex zu ruinieren. Nichtsdestotrotz war sie froh, dass ihre Blutung so schnell wieder aufgehört hatte, wie sie gekommen war. Offenbar war ihr Körper auch in dieser Hinsicht aus der Übung. Insofern blieben alle Optionen einschließlich Sex offen.
Echtem Sex, dachte sie mit einer Portion Selbstironie.
Erst nachdem sie sich bereits gegen den Kauf von Kondomen entschieden hatte, fiel ihr ein, was sie damit angerichtet hätte. Innerhalb einer Stunde würde es der ganze Ort gewusst haben. Da könnte sie es genauso gut plakatieren. Ob Kaye Edward bei dem Telefongespräch mit Dan erwähnt hatte? Eher nicht, es sei denn, er hatte sie mit einer Fangfrage zum Reden gebracht. Mittlerweile war Zoe sich endgültig nicht mehr sicher, wem sie hier wie weit trauen konnte.
Wie mochte Dan sich überhaupt bei Kaye gemeldet haben? Hi, ich bin Daniel Bergman? Dann wüssten alle auf der Insel jetzt ihren Ehenamen und könnten Nachforschungen im Internet anstellen, was es mit dieser merkwürdigen Amerikanerin auf sich hatte. Irgendwas fand sich bestimmt, und wenn es der Unfall war.
O Gott, das konnte ja heiter werden, dachte sie, während sie zurück zu ihrem Auto ging.