10
»Ich erwarte gar nichts von dir«, sagte Edward am nächsten Morgen, als sie zusammen den Klippenpfad entlanggingen, auf seine typisch offene Art.
Er hielt den Blick auf die Linie gerichtet, wo das Wasser mit dem Himmel verschmolz. Zoe wandte sich zu ihm um. Eine kräftige, nach Salz und Meer riechende Brise wehte ihnen entgegen, er blinzelte in die Sonne, sodass seine sommersprossige Nase und die Umgebung der Augen sich kräuselten.
»Ich könnte dir sowieso nichts bieten«, erwiderte sie schlicht.
Der Himmel wölbte sich über ihnen wie ein hohes blaues Zelt, das weiße Wolken sprenkelten. Möwen glitten auf den Luftströmungen dahin wie Papierflieger, die Flügel völlig reglos. Wieder ein für die Jahreszeit ungewöhnlich schöner Tag mit ungetrübtem Sonnenschein.
»Ich weiß, du bist lediglich auf der Durchreise«, fuhr er fort, während er Grasbüschel wegkickte. »Und das bin ich vermutlich ebenfalls. Aber solange wir beide hier sind …« Er schlug seinen Kragen gegen den Wind hoch. »Ich rede einfach gern mit dir«, sagte er, als würde er einen neuen Gedankengang beginnen. »Du störst dich an dem Altersunterschied, ich hingegen denke darüber gar nicht nach. Weißt du, ich war viel allein, seit ich hier gestrandet bin. Zu viel. Eine Zeit lang war es praktisch, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen, doch jetzt bin ich es leid. Okay, ich weiß, dass du eben erst den Absprung gewagt hast und noch keine Gelegenheit hattest, es leid zu sein. Du musst mich bremsen, wenn ich zu viel quatsche.«
»Ich bin aus meiner Ehe geflohen«, gestand Zoe unvermittelt.
Ihre plötzliche Offenheit verblüffte sie selbst, es war ein spontaner Entschluss. Jetzt indes, wo sie es ausgesprochen hatte, wurde ihr die Wahrheit ihrer Worte bewusst. Sie war tatsächlich aus ihrer Ehe geflohen. Ihr ganzes Gerede von Entscheidungen überdenken, sich einen Freiraum gönnen, Zeit zum Nachdenken brauchen, alles Unsinn. Man konnte ein Leben nicht einfach in eine Warteschleife legen, man konnte jemanden, der einen liebte, nicht bitten, Geduld zu haben, während man selbst überlegte, ob man ihn noch wollte oder nicht. Wenngleich sie auch bei Dan nicht mehr an die große Liebe glaubte – er war geblieben, sie war gegangen. Sie war es, die ihn ausgeschlossen hatte aus ihrem Leben. Gab es überhaupt noch eine Wahl, oder hatte sie mit ihrem Weggang schon Tatsachen geschaffen und die Türen hinter sich zugeschlagen? Ein Gedanke, der ihr einen schweren Schock versetzte und sie zwang, stehen zu bleiben und Luft zu holen.
»Ich dachte mir, dass es etwas in der Richtung sein könnte«, meinte Edward und fügte hinzu, als er ihre Blässe bemerkte: »Fühlst du dich nicht gut?«
Sie winkte ab. »Halb so schlimm, mir war gerade ein bisschen komisch. Ich bin verkatert, nehme ich an.«
»Da bist du nicht allein«, räumte er mit einem verlegenen Lachen ein, dabei sah er aus wie der junge Frühling, fand Zoe, sein Gesicht frisch und seine Augen strahlend, nichts von blass und trübe wie bei ihr. Das Vorrecht der Jugend eben. Mit dreiundzwanzig konnte man es sich leisten, mal einen über den Durst zu trinken, ohne dass es Spuren der Verwüstung hinterließ, dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit.
Inzwischen war sie froh, dass er nicht gleich am Morgen gegangen war, wie er beabsichtigt hatte. Selbst beim zweiten Aufwachen hatte der Schrecken der vergangenen Nacht ihr nach wie vor in den Knochen gesteckt, und irritiert hatte sie sich gefragt, ob sie ein weiteres Mal genarrt wurde. Doch dann hatte sie Edward unten in der Küche getroffen, wo es nach frischem Kaffee roch, und hätte vor lauter Erleichterung weinen können. Ihn nach diesem Albtraum total normal am Frühstückstisch sitzen zu sehen, tat unendlich gut.
Allerdings missfiel ihr, dass er in Ailsas Tagebuch las. Das gönnte sie ihm noch immer nicht wirklich, und sie musste sich sehr zusammenreißen, es ihn nicht spüren zu lassen. Ihr Buch! Er hatte es, ohne zu fragen, aus ihrem Zimmer mitgenommen. Aber dann hatte sie tief durchgeatmet, ihre Vorwürfe hinuntergeschluckt und sich einen Kaffee eingeschenkt.
»Das ist wirklich außergewöhnlich«, sagte er und blickte auf. »Monatelang schreibt sie gar nichts, und dann kommen diese langen, ausführlichen Schilderungen ihrer nächtlichen Begegnungen mit ihrem Liebhaber. Was überdies höchst seltsam ist: Oft stellt sie alles so hin, als ob es lediglich in ihrem Kopf passierte.«
Eine Spekulation, die Zoe zusammenzucken ließ. »Du meinst, sie hat sich diesen Typen eingebildet?«
»Na ja, das kann eigentlich nicht sein, oder? Ich meine, wir müssen davon ausgehen, dass er tatsächlich existiert hat, allein wegen des Kindes. Dennoch lässt sich manchmal schwer sagen, ob sie Fantasien oder die Wirklichkeit schildert. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es selbst weiß. Erst am Ende des Buches scheint durch, als ob sie tatsächlich Angst vor ihm hatte. Und sich Sorgen um das Kind machte. Ein paar Monate bevor sie starben, schreibt sie, dass sie den Jungen Tag und Nacht ihr silbernes Kreuz um den Hals tragen lasse, damit Gott ihn beschützen möge.«
»Bist du etwa so gut wie durch damit? Dann musst du ja seit Stunden hier sitzen.«
Erneut hatte sie sich zwingen müssen, nicht gekränkt und vorwurfsvoll zu klingen.
»Na ja, ein paar vielleicht. Ich konnte nicht schlafen. Vieles habe ich bloß überflogen. Ihre Handschrift ist so schwer zu entziffern, dass ich eine Ewigkeit brauchen würde, um jedes Detail zu lesen.«
»Wovor sollte der Junge denn beschützt werden?«
»Vor IHM. Sie sagt, ER will das Kind.«
»Will ihn wie? Um ihn ihr wegzunehmen?«
»Vermutlich. Sie schreibt, dass sie IHN wütend gemacht hat, dass ER sagt, das Kind werde mit sieben Jahren IHM gehören, und sie habe das die ganze Zeit gewusst. Darum drehen sich die letzten Einträge des Jahres 1869 in erster Linie. Das war kurz vor den Morden. Sie hatte ganz offensichtlich schreckliche Angst – sie klingt fast verrückt vor Angst, die arme Frau.«
»Vielleicht ist das ja die Erklärung«, überlegte Zoe. »Der Vater drohte damit, ihr das Kind wegzunehmen, sie hielt ihn für gefährlich und weigerte sich. Daraufhin wurde der Vater wütend und hat sie beide getötet – er scheint ja kein netter Mensch gewesen zu sein.«
»Oder sie hat erst den Jungen und dann sich selbst getötet, um ihn nicht ausliefern zu müssen«, gab Edward zu bedenken. »Besser tot als in den Fängen des Vaters, mag sie gedacht haben.«
Der Professor hatte am Tag zuvor fast dieselbe Vermutung angestellt. Der Gedanke entsetzte sie nach wie vor. Für sie war nicht nachvollziehbar, dass eine Mutter den Tod ihres Kindes freiwillig einer anderen Option vorzog. Jetzt betrachtete sie Edward, der nachdenklich über die silbrige Weite des Wassers hinwegblickte. Das Licht spiegelte sich in seinen Augen und ließ dort goldene Pünktchen flackern. Er wirkte nicht entspannt, bereits den ganzen Morgen nicht. Zoe befürchtete, dass es ihre Schuld war.
»Ist das der Pullover deines Mannes, den ich hier trage?«, wiederholte er unvermittelt seine gestrige Frage, den Blick unverwandt auf die Landspitze in der Ferne geheftet.
»Nicht mehr.«
Er lachte unsicher auf, als hätte sie einen Witz gemacht, dann schlenderten sie eine Weile schweigend weiter. Der Pfad war hier so schmal, dass sie nicht nebeneinandergehen konnten, und fiel zudem zur Rechten so steil ab, dass Zoe sich dicht an die Böschung zu ihrer Linken hielt. Auf der anderen Seite ging es rund zwanzig Meter in die Tiefe zu schwarzen Felsen und wild anbrandendem Wasser. Es gab keinen Schutzzaun, keine Warnschilder, das hier war eine ungezähmte Landschaft, in der jeder selbst für sich verantwortlich war. Nie zuvor war ihr so deutlich bewusst gewesen, wie leicht man in Sekundenschnelle den Halt verlieren konnte, selbst bei Tageslicht. Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte sie an Iain, der im Jahr zuvor angeblich im Dunkeln von den Klippen gestürzt war. Robbies Freund. Genau auf diesem Weg musste es passiert sein.
Der Weg führte jetzt steil nach unten, vertiefte sich zu einer Rinne, und Edward streckte eine Hand aus, um ihr den Abhang hinunterzuhelfen.
»Letzte Nacht …«, begann er, während sie durch lockeres Geröll und Schlamm abwärtsstiegen, aber sie unterbrach ihn.
»Es tut mir leid«, beeilte sie sich zu sagen und packte sein Handgelenk fester, weil sie umzuknicken drohte. »Ich hatte nicht vor, dich zu verführen. Es war einfach ein emotionaler Tag.«
»Nein, ich meinte, als du in der Nacht aufgewacht bist und geträumt hast, es sei jemand im Haus.«
»Ach das.« Sie zwang sich zu einem Lachen über ihre eigene Dummheit. »Sagen wir, es lag am Wein und am Stress. Jetlag vielleicht. Ich glaube, diese Ausrede kann ich noch ein paar Tage länger benutzen.«
Sie sah, wie er die Stirn runzelte. »So einfach ist das nicht, denn ich habe dasselbe geträumt«, erklärte er sichtlich verunsichert. »Obwohl ich mir in dem Moment nicht ganz sicher war, ob es sich wirklich um einen Traum handelte. Als ich in deinem Zimmer war, bin ich irgendwann aufgewacht. Oder ich habe es eben geträumt …« Er stieß ein unfrohes Lachen aus. »Na ja, und da stand jemand neben dem Bett und hat auf mich hinuntergesehen.«
»Hat er dich angefasst?«
»Nein.« Edward sprang über ein Rinnsal, das den Pfad kreuzte, und half dann ihr hinüber. »Diese Gestalt stand einfach da und hat mich angestarrt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es ein Mann oder eine Frau war. Sicher bin ich hingegen, dass sie mich hasste, das habe ich deutlich gespürt.« Er schlug sich mit der geballten Faust an die Brust. »Es war eine geradezu mörderische Wut. Weil ich bei dir war. Als hätte ich kein Recht, dort zu sein. Es war ein absolut grauenhafter Traum, der in dem Moment so lebhaft war, dass ich gar nicht anders konnte, als zu glauben, ich sei wach. Ich wollte aufstehen und gehen, weil ich hoffte, dann würde der Spuk aufhören, doch die Person stand genau zwischen mir und der Tür.«
Er schüttelte den Kopf, rieb sich mit dem Handballen die Stirn.
»Träume können durchaus beunruhigend sein«, gab Zoe zu und dachte an ihre nächtlichen erotischen Erlebnisse, bei denen sie auch nicht zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden konnte.
Irrsinnig war es allemal.
»Du glaubst also nicht …«
Edward wandte sich ab, die Frage kam ihm nicht über die Lippen. Zudem erforderte der Weg mal wieder seine ganze Aufmerksamkeit, da es auf matschigem Boden steil bergauf ging.
»Wir haben gestern Abend viel getrunken«, gab Zoe zu bedenken, als sie oben ankamen. »Die Erinnerungen geraten da bisweilen durcheinander. Außerdem sind wir inzwischen fast programmiert darauf zu denken, dass mit dem Haus etwas nicht stimmt, oder? Diese ganzen Geschichten, die auf der Insel kursieren und genüsslich breitgetreten werden … Egal wie rational und unempfänglich man für solchen Unsinn zu sein glaubt, irgendwas bleibt hängen. Insofern ist es kein Wunder, wenn unsere Fantasie mit uns durchgeht und wir uns exakt das einbilden, was von uns erwartet wird.«
»Beide in derselben Nacht?«
Edward blieb bei seiner Skepsis, und Zoe wandte den Blick ab.
Auf der Höhe angekommen, wurde der Weg breiter. Zur Linken erstreckte sich bis zu den im blauen Dunst liegenden Bergen die Heide, die allerdings ihre violette Blütenpracht inzwischen weitgehend eingebüßt hatte. Zur Rechten schimmerte das Meer im Sonnenlicht, und Seevögel kreischten über ihnen am Himmel.
»Ich könnte das Tagebuch heute Abend Charles bringen, wenn du willst«, schlug Edward nach einer Weile vor. »Ich bin mit ihm zum Essen verabredet.«
»Na so was, ich ebenfalls.«
Er schüttelte grinsend den Kopf. »So ein listiger alter Fuchs. Er scheint zu glauben, wir beide sollten uns unbedingt näher kennenlernen.«
»Eigentlich halte ich das nicht für seinen Stil. Ich hatte das Gefühl, dass er die Privatsphäre anderer Leute respektiert.«
»Ich meinte nicht, dass er uns verkuppeln will«, beeilte Edward sich zu sagen. »Er bringt einfach gern Leute zusammen, er weiß schließlich, wie verloren man sich an einem Ort wie diesem fühlen kann. Außerdem gibt es im Ort nicht viele Leute, deren Interessen über den eigenen Gartenzaun hinausreichen.« Eine kleine Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Ich gehe fast jeden Sonntag zum Essen zu ihm. Wir reden, hören Musik. Manchmal lesen wir Lyrik.«
»Gott. Werde ich etwa Gedichte aufsagen müssen?«
»Nicht wenn du nicht willst. Charles ist im Grunde der einzige Mensch auf dieser Insel, den ich als Freund bezeichnen würde. Ich glaube nicht, dass ich es hier so lange ausgehalten hätte, wenn er nicht wäre. Und er macht einen fantastischen Braten.«
»Wie, besser als meiner?«
Sie schnippte scherzhaft mit einem Finger gegen seinen Arm, woraufhin er sie treuherzig ansah, eine Hand flach auf sein Herz gelegt.
»Ich kann nicht lügen – ihn muss ich nicht zuerst nackt aus dem Meer fischen.«
Wieder dieser Seitenblick unter dem Vorhang seiner Wimpern, als würde er um Erlaubnis bitten, sie aufziehen zu dürfen. Sie lachte fröhlich auf, ohne jeden Zwang. Das Grauen der Nacht schien in der Sonne verdunstet zu sein wie Nebel.
»Du wirst Charles nicht erzählen, dass du gestern hier übernachtet hast, oder?«
»Nein, natürlich nicht, wenn dir das lieber ist. Ich dachte nur, du wolltest ihn wegen dieser … Träume fragen.«
»Bloß nicht. Er denkt schon jetzt, dass es hier spukt – wie alle Insulaner. Allerdings mit dem Unterschied, dass er die Sache unter wissenschaftlichen und parapsychologischen Aspekten betrachtet.«
Obwohl er enttäuscht wirkte, nickte Edward.
»Hey, du kannst über mich reden, so viel du willst, wenn ich wieder weg bin«, fügte sie hinzu in der Hoffnung, er werde es als Witz auffassen, aber sein Lächeln war melancholisch.
Inzwischen war die Sonne mehr und mehr hinter einer Wolkendecke verschwunden, die die Insel erreicht und sich mit düsterer Endgültigkeit über die Landschaft gelegt hatte. Zeit, sich auf den Rückweg zu machen, bevor sie womöglich noch vom Regen überrascht wurden.
Plötzlich spürte Zoe, wie er sich anspannte, als ihnen in gemächlichem Tempo eine Gestalt entgegenkam. Edward murmelte einen leisen Fluch und verlangsamte seine Schritte, dann verzog er unwillig den Mund und verdrehte genervt die Augen. Offensichtlich war er wenig begeistert über die bevorstehende Begegnung.
Jetzt erkannte sie ihn ebenfalls.
Es war Doug Reid, der mit seinem seltsam schwankenden Gang auf sie zusteuerte, einen langbeinigen Hund, vielleicht einen Whippetmischling, an seiner Seite. Mit einem vordergründig freundlichen Nicken grüßte er und tippte sich mit einem Finger an die Schläfe, doch das verschlagene Grinsen und die demonstrativ hochgezogene Augenbraue waren nicht zu übersehen und sprachen Bände.
»Morgen, Leute. Schöner Tag für einen Spaziergang.«
»Du bist ungewöhnlich weit weg von zu Hause, Dougie«, spottete Edward.
»Könnte dasselbe von dir sagen, Kumpel. Dachte mir bereits, dass ich dort unten deinen Wagen erkannt habe.«
Zoe fand es absolut nicht komisch, dass er beim Haus vorbeigeschaut hatte. Was sollte das? Was hatte er da zu suchen? Wollte er sie etwa kontrollieren? Der Gedanke, dass einer so mir nichts, dir nichts auftauchte wie ein Hilfssheriff, weil er meinte, nach dem Rechten schauen zu müssen, beunruhigte sie zutiefst.
Oder hatte er ganz anderes im Sinn, was ihr mindestens genauso viel Unbehagen bereitete? Allzu gut erinnerte sie sich an die Art, wie er sie von Kopf bis Fuß gemustert und so ganz nebenbei ihre Brust gestreift hatte. Wenn ein Typ wie er sie gestern nackt beim Schwimmen erwischt hätte, nicht auszudenken. Sie beschloss, für alle Fälle das Nacktbaden in Zukunft lieber zu lassen.
»Wollte mal nachfragen, wie die junge Dame mit dem Wagen zurechtkommt«, meinte er. »Alles okay? Ölstände in Ordnung?«
»Seit gestern? Das will ich schwer hoffen«, gab sie spitz zurück, aber der Anflug von Sarkasmus schien Dougie zu entgehen.
»Na, dann ist ja alles wunderbar«, erwiderte er völlig unangekränkelt von ihrer Zurechtweisung. »Behalten Sie trotzdem das Öl im Auge. Die alte Lady muss immer schön geschmiert werden, wie das mal so ist«, fügte er mit einem anzüglichen Grinsen hinzu – dass sie ihn am liebsten mit ihren Blicken erdolcht hätte, nahm er ebenfalls nicht wahr. »Gehen Sie oft hier oben spazieren?«, fragte er stattdessen mit hinterlistiger Miene.
O Gott, hatte er etwa vor, ihr hier oben aufzulauern, überlegte Zoe und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein? Ist doch ein hübsches Stück Küste«, fuhr er unbeirrt fort. »Ich mag die Aussicht. Allerdings gefährlich.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner schmutzigen Jeans und wies mit einem knappen Nicken aufs Meer. »Und du kommst regelmäßig her, Edward?«
Wieder dieser zweideutige Ton.
»Warum nicht? Es gibt hier schließlich ein paar schöne Spazierwege, oder nicht?«, antwortete Edward mühsam beherrscht, was zur Abwechslung sogar Dougie bemerkte.
»Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause komme«, versuchte Zoe einen Befreiungsschlag, der zu ihrem Ärger das Gegenteil bewirkte.
»Soll ich mitkommen und mir das Öl ansehen?«, nutzte Dougie die unverhoffte Gelegenheit gleich aus. »Macht mir nichts aus.«
»Nein, danke. Ich bin sicher, es ist alles in Ordnung. Insofern besteht keinerlei Notwendigkeit für Ihre Begleitung«, wies sie ihn schroff zurück.
Endlich schien er zu begreifen – zumindest halbwegs – und hob die Hände, als wollte er einen Angriff abwehren.
»Na schön, Püppchen – ich wollte bloß helfen. Gehört alles zum Service. Na ja, dann lasse ich euch zwei lieber mal allein.«
Ohne die Selbstgedrehte aus dem Mund zu nehmen, steckte er zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, woraufhin der Hund sofort an seine Seite sprang. Ein letztes Salutieren, ein letztes schmieriges Grinsen, und Dougie schlenderte in die andere Richtung davon.
Was blieb, war eine stinkende Rauchfahne und das unbehagliche Gefühl, sich gerade einen Feind gemacht zu haben.
»Großartig, das wird sich bis heute Abend im ganzen Ort herumgesprochen haben«, meinte Edward mit düsterer Miene.
»Ich habe diesen Typen von Anfang nicht gemocht«, machte Zoe ihrem Ärger Luft. »Er ist mir so was von zuwider.«
»Du bist nicht die erste Frau, die das sagt. Ich habe ihn an ein paar Abenden im Pub erlebt. Wenn er trinkt, kann er regelrecht zudringlich werden. Und übergriffig.«
»Ehrlich, so richtig schlimm?«
»Wenn er genug intus hat, ja. Wobei er plumpe und kränkende verbale Entgleisungen vorzuziehen scheint, die sind seine Spezialität, damit kommt er sich wie Superman vor. Komischerweise sehen die meisten ihm das nach, obwohl er ja weiß Gott kein Charmebolzen ist. Sie denken, er meint es nicht so. Irrtum, er meint genau, was er sagt.« Nachdenklich sah er sie an. »Unter der Oberfläche schwelt bei ihm immer eine gewisse Aggression, wenn du weißt, was ich meine. Er ist einer dieser Typen, die immer versuchen, dich zu einer Reaktion aufzustacheln, deshalb gehe ich ihm nach Möglichkeit aus dem Weg. Ich nehme an, es bräuchte nicht viel, um ihn zum Ausrasten zu bringen. Kaye kann ihn nicht ausstehen – sie würde ihm am liebsten Hausverbot erteilen, Mick hingegen lässt ihn nicht fallen. Sie sind zusammen aufgewachsen, und er hat geholfen, das Haus zu renovieren. Das verbindet, selbst bei einem Ekelpaket.«
»Ich hoffe, er hat nicht vor, jeden Tag nach diesem verdammten Wagen zu sehen«, seufzte Zoe und spähte über ihre Schulter zurück, als könnte Dougie jeden Augenblick erneut hinter ihr auftauchen.
»Vielleicht hält er sich ja künftig fern, weil er zu denken scheint, dass ich bei dir ein regelmäßiger Gast bin«, scherzte Edward mit einem hoffnungsvollen Lächeln.
Ganz eindeutig war es ein ernst gemeintes, wenngleich nicht ganz uneigennütziges Angebot, auf das Zoe lieber nicht einging. Sie wich seinem Blick aus, sah stattdessen auf das dunkler werdende Meer hinaus.
»Ich sollte wirklich langsam zusehen, dass ich nach Hause komme«, sagte sie lahm.
Der Gedanke an das Tagebuch, das auf dem Küchentisch lag, trieb sie voran, gepaart mit einer Sehnsucht nach Einsamkeit, die sie mit Ailsa teilen wollte, mit niemandem sonst. Sich in der eigenartigen Stille des verwunschenen Hauses in diese unglaubliche Geschichte zu vertiefen, wog mehr als jeder Wunsch nach Geselligkeit.
Und Edward?
Nun ja, wenn es ihn nach ihr und ihrer Gesellschaft verlangte, würde er lernen müssen, sie mit dem Haus zu teilen.