PROLOG

Es beginnt, sagen sie, mit einer schreienden Frau.

Anfangs kann man nicht unterscheiden, ob es Lust oder Schmerz ist oder jener heikle Bereich, an dem die beiden zusammentreffen.

Man schämt sich fast, es zu hören, aber horcht man genauer hin, klingt es eher wie eine aus dem Herzen gerissene Wehklage: wie ein animalischer Schrei von Verlust oder Trotz oder Wut, vom salzigen Wind von Klippe zu Klippe über die Bucht getragen.

Wenn man abends am Strand steht mit dem Rücken zum Meer, werden sie sagen, und zum McBride-Haus hochsieht, wird man vielleicht hinter den hohen Fenstern im ersten Stock die fast unmerkliche Bewegung eines Schattens wahrnehmen. Alle Zimmer hinter den Scheiben sind dunkel; nicht einmal das Flackern einer Kerze ist zu sehen. Nur die unheimliche Gestalt, die stets an demselben Fenster steht und plötzlich schnell wie ein Atemzug im diffusen Widerschein des Mondes, der die Wolken durchbricht, verschwindet.

Sie werden sagen, dass das Wimmern der Frau lauter wird, sobald der Sturm ihm schutzlos preisgegebene Winkel des Hauses heimsucht, um die spitzen Giebel fegt, an der Wetterfahne auf dem Turm zerrt und an den Rahmen der Dachbodenfenster rüttelt. Lässt er jedoch nach, ist nichts mehr zu hören außer dem wilden Meer und dem lang gezogenen Heulen der Seehunde hinter der Landspitze.

Lediglich in bestimmten Nächten, erzählen die Inselbewohner den Neuankömmlingen, wenn der Mond hoch am Himmel steht und die Luft ebenso aufgepeitscht wird wie die schaumgekrönten Wellen in der Bucht, dann werden sie es vielleicht hören, sofern sie geduldig sind. Viele schwören darauf.

Die beiden Jungen kauern neben einem Felskamm am Fuß der Klippe und beobachten das Haus. Es ist beinahe eine Ruine, nackte Balken ragen aus dem Dach wie die Rippen eines riesigen, geschundenen Tieres. Zögernd warten sie darauf, dass der andere sich zuerst bewegt. Sie sind eigens gekommen, um den alten Geschichten auf den Grund zu gehen, können jetzt nicht das Gesicht verlieren. Die Sommernacht ist mild und klar, zu lau für Geister. Trotzdem wappnen sie sich innerlich. Als das Schreien beginnt, sehen sie sich erstaunt an und kichern ängstlich.

»Gehen wir«, flüstert der drahtige Rothaarige. Er hält sein Handy in der Hand, bereit, das Geschehen auf Film zu bannen.

Sein kräftiger Gefährte hingegen rührt sich nicht von der Stelle, ist starr vor Schreck, die Augen weit aufgerissen und aufs Haus geheftet.

»Komm schon, sonst verpassen wir es noch«, drängt ihn der Freund, aber er weicht ein paar Schritte zurück, schüttelt den Kopf.

Der Rotschopf zögert, kräuselt verächtlich die Lippen. »Angsthase.«

Er geht los über den Sand und durch das Dünengras auf die halb offen stehende Tür zu, hält das Handy mit ausgestrecktem Arm. Am Strand zurückgelassen, sieht sein Freund, wie er in den Schatten verschwindet.

Die Wellen brechen und weichen zurück, immer und immer wieder, spülen Schichten von Kies in das rastlose Wasser. Ein neuer Schrei hallt über den Strand, diesmal ist es der eines Kindes. Die letzten Spuren des Lichtes verschwinden vom Himmel, und hinter den Fenstern des McBride-Hauses bleibt nichts als tiefe Finsternis zurück.