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In jener Nacht träumte Zoe. Sie lag nackt auf einer niedrigen Couch in der Galerie mit den hohen Fenstern, die auf der ganzen Westseite des Hauses mit Blick aufs Meer verlief. Beide Arme waren über ihren Kopf nach hinten gestreckt und gefesselt, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum tiefe Schatten, nur ein fahler Streifen Mondlicht fiel herein und tauchte den polierten Dielenboden in einen silbrigen Schimmer.

Obwohl sie niemanden sehen konnte, spürte sie, dass jemand in der Nähe war und sich auf sie zubewegte.

Dann begannen zwei Hände, die sich aus dem Dunkeln nach ihr ausstreckten, Muster auf ihre Haut zu zeichnen. Heißer Atem strich über Hals und Schultern. Ihre Muskeln spannten sich an, ihre Brustwarzen richteten sich auf, und ihre Hüften hoben sich – am ganzen Körper spürte sie, wie ihre Erregung anstieg und sie sich öffnete. Trotz dieser ausgelieferten Position hatte sie keine Angst, verspürte sogar ungewohnte Freude und Stolz über ihren Körper – ein Gefühl, das sie veranlasste, sich ihm entgegenzustrecken, sich ihm darzubieten.

Irgendwie schien er sie zu kennen, dieser unbekannte Liebhaber. Er wusste genau, wie sie berührt werden wollte, was sie brauchte, und sie vertraute ihm, seinen geübten Händen, seinem Mund und seiner intuitiven Art, auf ihr Verlangen und ihre Bedürfnisse einzugehen. Sie lieferte sich ihm aus, wartete, was er tat, und akzeptierte es. Alles. Seine Lippen hauchzart auf ihren Brüsten, die Hände besitzergreifend um ihre Taille gelegt. Seine Zunge, die ihre Brustwarze umkreiste und eine Schockwelle in ihr auslöste, die ihren ganzen Körper erfasste, durch ihre Lenden schoss und sie erzittern ließ, als hätte ein Stromstoß sie getroffen. Sie wollte schreien vor Lust, doch wie immer in Träumen brachte sie keinen Laut heraus. Nicht einmal, als sein Mund sich über ihrer Brust schloss und an ihr saugte, erst sanft, dann immer fester und unterstützt durch kleine Bisse. Ungeduldig reckte sie ihm jetzt die Hüften entgegen, öffnete die Beine, damit er eine Hand dazwischenschieben konnte, während sein Mund über die Weichheit ihres Bauches glitt.

Gut, flüsterte er in ihrem Kopf.

Zwar konnte sie abgesehen von ihren gefesselten Händen die Bewegungen ihres Körpers steuern, vermochte hingegen keinen Einfluss auf den schattenhaften Liebhaber zu nehmen. Sie war machtlos, wenn er ihr vorenthielt, was sie begehrte, wenn er absichtsvoll die Folter in die Länge zog. Etwa indem er mit seinem heißen Atem langsam über das Zentrum ihrer Lust strich, sie erregte, um dann weiterzuwandern zur Innenseite ihrer Schenkel oder das Becken hinauf, wo er sich damit aufhielt, zärtlich an ihrer Taille zu knabbern.

Stumm versuchte sie ihn anzuflehen, ihn zu beschwören, wand sich in ihren Fesseln, bis seine Zunge endlich ihre empfindlichste Stelle fand und er mit zwei Fingern in sie hineinglitt. Endlich erhielt sie die Belohnung, ihr ganzer Körper schien mit einem Mal in leuchtenden Farben zu erstrahlen. Eine Hand hielt ihre Hüften fest, der Rhythmus seiner Zunge beschleunigte sich, und seine Finger drangen tiefer in sie ein, sodass sie sich aufbäumte und sich an ihm rieb.

Und plötzlich hörte sie sich selbst schreien.

Es war ein wilder, animalischer Aufschrei, als sie das erste Mal kam und glaubte, über den Rand eines Wasserfalls geschleudert zu werden. Noch immer wurde sie von Wellen ekstatischer Lust überflutet, als er sich bereits von ihr entfernte und wieder mit den Schatten verschmolz, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, ihn zu rufen und festzuhalten. Stattdessen erwachte sie von ihrem eigenen leisen Wimmern. Aufgewühlt und orientierungslos blinzelte sie ins Dunkel und stellte fest, dass sie tatsächlich auf einer Couch in der Galerie lag, die Arme über den Kopf gestreckt und die Handgelenke gekreuzt. Ein kühler Luftzug ließ ihren nackten Körper erzittern und überzog ihn mit einer Gänsehaut.

Zoe brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, dass sie nicht länger träumte.

Wie war sie hierhergekommen? Behutsam nahm sie die Arme herunter, als müsste sie sich vergewissern, dass da wirklich keine Fesseln waren. Ihre Schultern schmerzten, und ihre Finger waren wie betäubt. Jede Erinnerung, wie sie ihr Bett verlassen und sich ausgezogen hatte, fehlte. Verwirrt sah sie an sich hinunter, als wäre ihr eigener Körper ihr fremd. Und als sie merkte, dass ihr Verlangen nicht mit ihrem Traum geendet hatte, glitten ihre Finger zögernd zwischen ihre Beine und begannen sich kreisend zu bewegen, steigerten ihr Tempo, bis sich ihre Erregung in einem keuchenden Höhepunkt entlud, der allerdings die überirdische Magie der Liebkosungen ihres Traumliebhabers vermissen ließ. Und dennoch war ihr, als hätte irgendetwas von ihr Besitz ergriffen, als wäre ihr Verlangen ein schlummerndes Tier, das zu lange so tief in ihr vergraben gewesen war, dass sie es beinahe vergessen hatte. Dabei war es niemand, den sie aus ihrem realen Leben kannte, sondern ein Produkt ihrer Fantasie – der Idealtyp eines Liebhabers vielleicht, den sie sich unbewusst ersehnt hatte.

Wie in ihrem Traum ergoss jetzt der Mond sein perlweißes Licht in die Galerie. Von draußen drang das Tosen des Meeres an ihr Ohr, das so aufgewühlt zu sein schien wie sie selbst.

Gerade war sie im Begriff, die Galerie zu verlassen, als sich draußen ein Schatten am Rand ihres Blickfelds regte, eine fast unmerkliche Andeutung einer Bewegung. Sie trat an eines der Fenster und spähte hinaus, um sogleich zurückzuzucken. Da war jemand am Strand, unter einem Felsvorsprung, und sah zum Haus hoch. Oder zumindest glaubte sie eine Gestalt auszumachen. Erschrocken wich sie zurück, schnappte sich eine Wolldecke von der Sofalehne und schlang sie um sich, bevor sie sich dem Fenster erneut näherte.

Inzwischen hatte sich eine Wolke vor den Mond geschoben, sodass der sichelförmige Strand in Dunkelheit getaucht war. Und als die helle Scheibe wieder zum Vorschein kam, waren da lediglich die Felsen, der weiße Sand und die gischtgekrönten Wellen. Zoe atmete aus, das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie musste sich regelrecht zur Ordnung rufen, um nicht panisch zu werden. Mit einem letzten Blick vergewisserte sie sich, dass dort wirklich niemand war, und wollte bereits beruhigt in ihr Bett zurückkehren, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Kaum hörbar, ein leises Kratzen wie von Fingernägeln auf Holz. Ihr Nacken begann zu kribbeln, und eisige Kälte durchflutete sie.

Irgendwer versuchte ins Haus zu gelangen.

Obwohl das Geräusch bald wieder aufhörte, war die Stille, die danach folgte, trügerisch. Die unsichtbare Person hielt bloß den Atem an. Sie konnte es spüren: Ohne jeden Zweifel lauerte jemand auf der anderen Seite der Tür. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, stand wie angewurzelt da, den Kopf gesenkt, als würde sie einen Schlag erwarten, die nackten Schultern zitternd vor Kälte und Angst.

Nach einer Weile setzte das Kratzen wieder ein und hörte auf, als sie zu wimmern begann. Wer immer dort draußen war, wusste, dass sie sich im Haus befand. Sie spannte den Kiefer an, ballte die Fäuste so fest, dass ihre Fingernägel sich in die Handflächen bohrten, ging zur Tür und riss sie mit einer raschen Bewegung auf, bevor die Angst sie hindern konnte.

Nichts. Der Flur war leer. Sie sackte zusammen, keuchend entwich ihr angehaltener Atem, und sie schwankte zwischen Lachen und Weinen. Sie würde Mick Drummond morgen sagen müssen, dass er, all seinen umfangreichen Renovierungsarbeiten zum Trotz, nach wie vor Mäuse in den Wänden hatte.

Zoe schloss die Tür und schaute sich in ihrem Zimmer um, stutzte. Wieso lag ihre Kleidung ordentlich zusammengefaltet auf dem Sessel unter dem Fenster? Und wann hatte sie sich überhaupt ausgezogen? Immerhin wusste sie noch, dass sie sich, von den Stiefeln abgesehen, in voller Montur ins Bett gelegt hatte. Hatte sie sich wie ein Schlafwandler nachts ausgezogen und war nackt in die Galerie spaziert? Seltsam, aber eine bleierne Müdigkeit hinderte sie daran, der Sache auf den Grund zu gehen. Gerne hätte sie einen Pyjama angezogen, nur war der Koffer mit einem Vorhängeschloss gesichert, und sie konnte sich nicht aufraffen, nach dem Schlüssel zu wühlen. Also kroch sie samt Wolldecke um den Schultern ins Bett, ausgelaugt und erschöpft, und war fast wieder eingeschlafen, als der Gesang einsetzte.

Es war die alte gälische Weise, die Kaye im Pub gesungen hatte, jene Wehklage einer Frau, die um ihren Geliebten trauerte, den sie ans Meer verloren hatte. Auch Zoe hatte das Lied merkwürdig berührt, obwohl sie den Text nicht verstand. Und jetzt erklang irgendwo im Haus diese Melodie, wenngleich nicht so überwältigend und leidenschaftlich vorgetragen wie von Kaye. Nein, diese Frauenstimme war dünn und kränklich und trostlos. Hier hatte das Verlustgefühl über die Erinnerung an eine große Liebe gesiegt.

Zoe lag wie erstarrt unter ihrer Decke, wusste die Sache nicht einzuordnen. Gebannt hörte sie hin, und zugleich sagte sie sich, dass das alles nicht real war, sondern dass ihr erschöpfter Verstand sie narrte und ihre überreizte Fantasie ihr Trugbilder vorgaukelte. Akustisch wie optisch. Trotzdem ertrug sie es nicht, erhob sich, die Wolldecke um sich geschlungen, und öffnete erneut die Tür. Die Melodie schwebte vom zweiten Stockwerk zu ihr herunter.

Im Dunkeln, da sie den Lichtschalter nicht fand, tastete sie sich die Treppe hoch, hielt auf jeder Stufe inne, um zu lauschen. Wieder spürte sie diese unheimliche Kälte im Nacken, diesen Krampf in ihren Eingeweiden. Vielleicht hatte sie sich ja nicht getäuscht, vielleicht hatte tatsächlich jemand einen Weg ins Haus gefunden. In so einem alten Kasten gab es bestimmt Zugänge, von denen sie nichts ahnte. Doch warum sollte ein Eindringling sie auf seine Anwesenheit aufmerksam machen, indem er ein trauriges Lied anstimmte?

Das ergab alles keinen Sinn.

Insofern beruhigten sie derlei Selbstbeschwichtigungen nicht. Im Gegenteil. Zoe bedauerte zutiefst, dass sie nicht daran gedacht hatte, irgendeine behelfsmäßige Waffe mitzunehmen – einen Schürhaken oder wenigstens einen Regenschirm. Sie spähte über das Treppengeländer in das diffuse Dunkel unter ihr, dachte an das Telefon auf dem Tischchen in der Diele und überlegte kurz, Mick und Kaye anzurufen.

Wie lange würde es dauern, bis sie hier wären? Fünfzehn Minuten vielleicht, höchstens zwanzig.

Nein, das wäre zu peinlich. Schließlich gab es keinen handfesten Hinweis, dass jemand im Haus war. Irgendwie hatte sie sich ausgezogen und war splitterfasernackt schlafwandelnd in die Galerie gegangen. Und alles andere war eine Reaktion ihres Körpers auf die Strapazen der Reise, den Jetlag und den Whisky. Wer vermochte schon zu sagen, ob sie sich nicht nach wie vor im Halbschlaf oder in einer Art Trance befand. Sie konnte Mick und Kaye nicht mitten in der Nacht aufscheuchen, weil sie irgendwelche Dinge zu hören glaubte, die sich dann als ganz normal herausstellten oder sich ihren überstrapazierten Nerven verdankten.

Ein letztes Durchatmen, dann ging Zoe zielstrebig in die Richtung, aus der der weinerliche Gesang kam. Vor einer Tür am Ende des Flures blieb sie stehen, zögerte und griff schließlich nach dem Messingknauf. Abgeschlossen, da konnte sie rütteln, soviel sie wollte.

Trotzdem verstummte der Gesang nicht, wurde unbeirrt im selben trostlosen Ton fortgesetzt.

Wenngleich ihr die Sache mehr als unheimlich war, zog diese unendliche Trauer der Frau sie in ihren Bann, drang in jede Faser ihres Körpers ein, bis sie befürchtete, ihr Herz würde angesichts eines solch abgrundtiefen Schmerzes zerspringen. Sie riss sich zusammen, klopfte energisch und laut an der Tür.

»Wer ist da?«, rief sie. »Wer sind Sie? Kommen Sie heraus.«

Niemand antwortete, die Stimme indes schien ein wenig schwächer zu werden. Sie klopfte noch einmal, rüttelte an dem Türknauf, und beim nächsten Rufen verhallte das Lied allmählich. Es erinnerte sie an das langsame Verklingen einer Schallplatte auf einem alten Grammofon.

Zoe war so schlau wie zuvor.

Frustriert, erschöpft und wütend machte sie kehrt, um ihre Suche nach der Quelle des Gesangs abzubrechen, als sie einen Luftzug im Nacken spürte und ein leises Geräusch vernahm, das ebenso ein unterdrücktes Lachen wie ein unterdrücktes Schluchzen hätte sein können.

Es war bereits nach elf, als sie aufwachte. Sonnenlicht strömte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer. Sie lag nackt im Bett, die Wolldecke verheddert neben sich unter dem Bettzeug. Wenigstens das hatte sie nicht geträumt. Zoe setzte sich auf, zog die Knie an und blinzelte ins Licht. Nach dem strapaziösen Tag und der unruhigen Nacht hatte sie mit allerlei Beeinträchtigungen gerechnet, aber als sie sich dehnte und streckte, fühlte sie sich sogar ungewohnt leicht und erfrischt und schwang voller Elan die Beine aus dem Bett.

Ihr Anblick – lang, schlank, blass – ließ eine Flut von Bildern in ihr aufsteigen. Dieser Traum. Sie errötete bei der Erinnerung und presste die Schenkel zusammen. Früher, als sie jünger war, hatte sie oft äußerst lebhafte sexuelle Träume gehabt, doch im Laufe der Zeit waren sie in den Hintergrund getreten, genau wie ihr restliches Liebesleben. Damals allerdings waren die Liebhaber, die in ihren Träumen auftraten, Varianten von Männern gewesen, die sie kannte – oft Männer, für die sie im wirklichen Leben nie solche Gefühle gehegt hatte.

Der Traumliebhaber der vergangenen Nacht hingegen war anders gewesen: unwirklich, perfekt, aus ihren eigenen unausgesprochenen Sehnsüchten geformt. Zoe bedauerte, dass sie sich nicht wieder aufs Bett fallen lassen und die Vision noch einmal heraufbeschwören konnte. Sie war flüchtig, köstlich und vergänglich gewesen. Und genauso rückte sie alles, was danach passiert war – das Kratzen, der Gesang –, in einen Bereich zwischen Traum und Wirklichkeit und war froh, dass sie in diesem wirren Gefühlsgemenge nicht Mick und Kaye angerufen hatte. Heute würde sie deswegen in den Boden versinken.

Nachdem sie ein paar Sachen aus ihrem Koffer herausgenommen hatte, beschloss sie, erst mal die Küche zu suchen. Sie fand sie im rückwärtigen Teil des Hauses. Es war eine gemütliche, alte Bauernküche, die vorsichtig renoviert worden war, ohne ihren Charme zu zerstören, und die große Veranda davor eröffnete eine spektakuläre Sicht auf die Küste. Zoe öffnete ein paar Holzschränke. Alle Haushaltsgeräte und Kochutensilien waren Markenprodukte – eine Investition in Hinblick auf die gut betuchten Feriengäste, die man offensichtlich anzulocken hoffte.

Wie versprochen, waren die wichtigsten Lebensmittel vorhanden, und während die Kaffeemaschine lief, dachte Zoe zum wiederholten Mal darüber nach, wie seltsam es war, dass Mick und Kaye so viel Mühe und Kosten für die Renovierung aufgewandt hatten, um das Haus dann Fremden zu überlassen. Waren ihnen wirklich fünf Meilen Fahrt zu viel? Brauchten sie vielleicht zusätzliche Einkünfte, weil ihre Kneipe außerhalb der Saison nicht viel abwarf? Oder bestand die Gefahr, im Winter vom Ort abgeschnitten zu werden? Ein Gedanke, den sie ganz schnell verdrängte.

Die Tür zur Veranda war abgeschlossen und von innen verriegelt, die Schlüssel hingen an einem Haken, wie Mick gesagt hatte. Alle Fenster waren mit Schlössern gesichert. Völlig unmöglich, dass irgendjemand letzte Nacht hier hätte eindringen können. Sie öffnete die Tür, goss Kaffee in einen großen Keramikbecher und ging damit hinaus in den warmen, goldenen, spätherbstlichen Sonnenschein, um ihr neues Zuhause zum ersten Mal bewusst in sich aufzunehmen.

Das Meer hatte sich zurückgezogen, es herrschte Ebbe – da, wo sonst die Wellen anbrandeten, erstreckte sich jetzt eine von Rillen durchzogene, nasse, gelbbraune Fläche, durchsetzt von Kieselsteinen und Seetang, den das Wasser nicht ins Meer zurückgespült hatte. Der Wind der vergangenen Nacht war abgeflaut, das Meer lag ruhig da, sah träge aus wie geschmolzenes Blei, was sich mit der nächsten auflaufenden Flut sogleich wieder ändern würde. Seevögel kreisten an einem blauen Himmel, über den ein paar weiße Schäfchenwolken zogen, schwebten auf unsichtbaren Strömungen dahin auf ihrer Suche nach Nahrung.

Zoe schlenderte bis ans Ende der Veranda, wo sie an die Nordseite des Hauses stieß. Das Gesicht der Sonne zugewandt, atmete sie den Geruch von Salz, feuchter Erde und frischem Kaffee ein und ließ die Farben der Bucht – Violett und Gold, Azurblau, Smaragdgrün und Indigo – auf sich wirken. Und stellte sich vor, wie sie diese Farben auf ihrer Palette mischen, sie übereinanderlegen würde, um die Strukturen von Meer, Felsen und Wolken nachzugestalten.

Der Gedanke belebte sie. Die Aussicht, etwas aus nichts zu erschaffen, leere Tage und leere Leinwände zu füllen, sich einzig und allein auf das Gemälde zu konzentrieren, mit dem sie sich ausdrücken wollte, gab ihr Auftrieb, erfüllte sie mit erwartungsvoller Freude.

War das Freiheit? Die Freiheit, nach der sie suchte – nach der sie sich in den vergangenen zehn Jahren insgeheim gesehnt hatte? Eine Freiheit ohne Ehemann, ohne Kind, nur sie allein mit einer Leinwand und der Aussicht auf das wilde Meer?

Sie ließ den Blick über den verlassenen Strand schweifen. Die Antwort lautete natürlich Nein. Das hier war keine wahre Freiheit, nicht die unbelastete Freiheit ihrer Jugend. Schließlich hatte sie inzwischen Verpflichtungen und Bande, die sie hätten verankern sollen. Für sie konnte es keine Freiheit mehr geben, die nicht mit Schuld befleckt war.

»Ich hoffe, du findest, was du suchst.«

Das waren die letzten Worte gewesen, die Dan, die Stimme voll unterdrückter Wut, an sie gerichtet hatte, bevor sie ging. Er wollte ihr zu verstehen geben, dass nichts, was sie zu gewinnen hoffte, den Preis je wert sein würde. Im Flur an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, sah er ungerührt zu, wie sie mit ihren Koffern kämpfte, um sie die Treppe hinunterzuwuchten, und rührte keinen Finger. Nicht dass sie am Ende auf die Idee kam, er würde ihr in letzter Minute noch seinen Segen für ihren verrückten Plan geben.

»Wie bitte?«, war sein erster Kommentar gewesen, als sie eines Abends beim Essen ohne Vorwarnung verkündete, dass sie für eine Weile weggehen werde. »Das heißt, du hast das alles einfach geplant, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen?«, hatte er verständnislos hinzugefügt.

»So ist es. Ich mache es jetzt genau wie du, als du im Alleingang entschieden hast, deinen Job aufzugeben«, entgegnete sie gleichmütig.

»Was? Das kann man wohl nicht vergleichen …« Er legte sein Besteck hin, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Da gab es nichts zu diskutieren – es war ein gutes Angebot. Besser, als ich erwartet hatte. Architekten sind immer die Ersten, die es bei einem Konjunkturabschwung trifft, das weißt du selbst. Die ganze Baubranche bekommt es zu spüren. Überall werden Leute entlassen. Ich musste auf diesen Deal eingehen, bevor mir keine Wahl mehr geblieben wäre. Es war das verdammte Gegenteil von Weglaufen, was du jetzt tust.«

Zoe schwieg, zog es vor, Dan in dem Glauben zu lassen, dass er recht hatte. Wie könnte sie es ihm überhaupt erklären? Die letzten zehn Jahre hatten ihn, im Gegensatz zu ihr, nicht in seiner Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt. Er hatte nicht seinen Platz in der Welt aufgeben müssen, seit ein Kind da war, konnte jeden Tag zur Arbeit fahren, Probleme lösen, seinen Intellekt und seine Fähigkeiten einsetzen. Konnte, mit anderen Worten, aus dem Vollen schöpfen und sich beweisen. Mehrmals die Woche ging er abends mit Kunden und Kollegen essen, nahm sie manchmal mit, sofern sie einen Babysitter fanden, reiste nach wie vor zu Vertragsverhandlungen und Konferenzen vor allem nach Seattle, um mit der dort ansässigen Niederlassung der Firma Projekte zu besprechen.

Irgendwann fiel ihr auf, dass die Meetings ungewöhnlich oft auf einen Montagmorgen angesetzt wurden, sodass er bereits am Wochenende anreiste. Und nicht weniger verwunderte sie, dass seine erste Ansprechpartnerin in Seattle, eine Kollegin namens Lauren Carrera, offenbar keine Vorstellung von Zeitzonen hatte und ihn oft noch nach Mitternacht auf seinem Handy anrief. Dann zog er sich jedes Mal nach unten in sein Arbeitszimmer zurück, um den Anruf entgegenzunehmen. Seine sanfte Stimme, sein unbeschwertes Gelächter versetzten ihr regelmäßig einen Stich – so redete er schon lange nicht mehr mit ihr.

Lauren Carrera war Anfang dreißig, und ihre Facebook-Fotos zeigten sie entweder beim Skifahren oder Surfen, bei einem Benefizmarathon oder beim Tequilatrinken mit einer großen, bunt gemischten Clique von Freunden. Zoe hatte Dan nie offen gefragt, ob er mit dieser Lauren geschlafen hatte. Er war kein guter Lügner, und sie wollte nicht mit ansehen müssen, wie er versuchte, ihr etwas vorzumachen.

Wie auch immer. Jedenfalls hielt Dan die verschiedenen Bereiche seines Lebens getrennt, konnte es, durfte es wie die meisten Männer. Ehe und Vaterschaft schränkten ihn kaum ein.

Von vornherein galt es hingegen als ausgemacht, dass sie nach Calebs Geburt zu Hause bleiben würde. Und ehrlich gesagt, was hätte sie dagegenhalten können? Schließlich verdiente sie mit ihren Gemälden bei Weitem nicht genug, um eine Familie zu ernähren. Trotzdem nagte es fortgesetzt an ihr, dass sie nicht einmal die Chance bekommen hatte, es zu versuchen. Immerhin hatte sie einige vielversprechende Anfangserfolge vorzuweisen.

»Du kannst malen, wenn das Baby schläft«, hatte Dan unbekümmert erklärt, als er sich nach fünf kurzen Tagen Vaterschaftsurlaub anschickte, wieder seinen Geschäften nachzugehen.

Mit diesen wenigen Worten brachte er zum Ausdruck, was er von ihrer Arbeit hielt, und in diesem Moment setzte sich ein kleiner Eissplitter in ihrem Herzen fest, der das Bild, das sie von ihrer Ehe hatte, veränderte. Bis es nach fast zehn Jahren ziemlich verkümmert und ihr Leben zusammengeschrumpft war auf einen Kreislauf aus Kuchenverkäufen und Schwimmteamtrainings.

Mit der Folge, dass sie sich panisch immer öfter die Frage stellte: Ist das alles? In ihren düstersten Momenten allerdings grübelte sie darüber nach, ob es nicht ebenfalls an ihr lag, an ihrer Unfähigkeit, zufrieden zu sein.

»Was soll das denn bringen?«, hatte Dan an dem Abend, als sie ihm von der Insel erzählte, geringschätzig geäußert. »Wie du weißt, habe ich ständig vorgeschlagen, wieder mit der Therapie anzufangen. Aber nein, du willst davonlaufen wie ein unreifer Teenager«

»Was hat die Therapie denn gebracht? Nichts.«

»Das ist keine verdammte Magie.« Er raufte sich die Haare. »Da muss man dranbleiben. Mein Gott, Zoe …« Die Wut wich verzweifelter Resignation. »So können wir nicht weitermachen. Das weißt du selbst.«

»Ich brauche Zeit für mich.«

»So läuft das nicht in einer Ehe. Man kann sich nicht einfach eine Auszeit nehmen, wenn es schwierig wird – man steht es gemeinsam durch. Das habe ich jedenfalls immer geglaubt. Und was sagt eigentlich Dr Schlesinger zu deinem großartigen Plan?«

Sie verriet ihm nicht, dass sie bereits vor Wochen aufgehört hatte, Dr Schlesinger zu konsultieren. Außerdem ging ihr die indirekte Andeutung, sie hätte ihren Plan von berufener Stelle absegnen lassen sollen, gegen den Strich.

»Mein Gott, es ist für gerade mal einen Monat«, gab sie zurück, wenngleich sie das keineswegs für sicher hielt, und ebenso locker kam ihr die nächste Lüge über die Lippen. »Ich werde vor Thanksgiving zurück sein.«

Jetzt änderte Dan seine Taktik, brachte statt des Zeitfaktors den Geldfaktor ins Spiel.

»Und wovon willst du das bezahlen?«

»Ich habe gespart.«

»Oh, du hast gespart?«

Er zog eine Augenbraue hoch. Alles, was er darüber dachte, schwang in dieser einen Frage mit, die gar keine Frage, sondern ein Vorwurf war. Was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein, oder? Allerdings war das, was sie durch ihren Kunstunterricht, zwei Tage die Woche an einer katholischen Mädchenschule, verdiente, von vornherein für sie allein gedacht gewesen, darauf hatten sie sich verständigt. Für persönliche Dinge wie ein schickes Teil zum Anziehen, ein teures Parfum, gelegentliche Ausgehabende mit ihren Freundinnen. Und genau darauf hatte sie seit fast einem Jahr verzichtet und das Geld gespart, ohne dass es aufgefallen wäre.

»Und was ist mit uns?«, flüsterte er daraufhin leise. »Und mit ihm?«

Er deutete zur Decke, hoch zu Calebs Zimmer, hob sich den schmerzhaftesten Schlag bis zuletzt auf.

An dem Punkt hatte sie ihm Einhalt geboten, war vom Tisch aufgestanden und hatte das Haus verlassen.

Jetzt, angesichts des silbrigen Meeres, das Gesicht von der Sonne bestrahlt, zwang sie sich, ihre Schuldgefühle abzuschütteln.

Es war Dans alleinige Entscheidung gewesen, freiwillig seinen Job für eine gute Abfindung aufzugeben. Okay, damals hatte sie es als gewissen Vorteil betrachtet, dass er mehr zu Hause sein, mehr Zeit für Caleb haben würde. Sie trank den letzten Schluck ihres Kaffees, stellte den Becher auf der Veranda ab und stieg die hölzernen Stufen, acht an der Zahl, hinunter zum Strand. Die Kälte des Sands zwischen ihren Zehen ließ sie nach Luft schnappen, dennoch balancierte sie vorsichtig über Steinchen, Muscheln und Tang, bis sie die filigranen Schaummuster der zurückweichenden Wellen erreichte. Am Saum des Wassers entlang schlenderte sie bis zu dem Felsvorsprung am südlichen Ende der Bucht und schaute zurück zum Haus. Sie blinzelte in die Sonne, schirmte die Augen mit einer Hand ab.

Im morgendlichen Licht sah es idyllisch aus mit seinen verschnörkelten Giebeln und Simsen, den kirchenartigen Fenstern und dem kleinen Turm, der das Dach krönte. Wo sie jetzt stand, genau an dieser Stelle, hatte sie in der Nacht eine Gestalt zu sehen geglaubt. Aber menschliche Spuren waren keine zu entdecken. Der Sand war glatt und unberührt in dieser geschützten Ecke, wo das Meer ihn nicht erreichte. Lediglich die Möwen hatten hier und da einen Abdruck ihrer Krallen hinterlassen.

Ein weiterer Beleg, dass sie sich alles eingebildet hatte.

Später indes, als sie unter der heißen Dusche stand und zufällig an sich hinunterblickte, bemerkte sie einen kleinen, rötlich-violetten Bluterguss an der Außenseite ihrer linken Brust. Vermutlich vom Riemen ihrer schweren Tasche, die sie gestern den ganzen Tag umgehängt hatte, sagte sie sich. Doch als sie den Bluterguss im Spiegel betrachtete, schien es fast, als ob es sich um einen leichten Biss handeln würde.