19

Es war noch immer dunkel, als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte. Sie spürte einen heißen Atem an ihrem Gesicht, hörte ein keuchendes Geräusch an ihrem Ohr. Irgendetwas Kaltes und Feuchtes berührte ihr Kinn; sie schrie auf und schlug es weg, aber gleich darauf folgte ein sanftes Kratzen über ihre Wange und ein leises Winseln. Als sie blinzelnd die Augen aufschlug, sah sie zwei helle Lichtpunkte, die aus der Dunkelheit auf sie gerichtet waren, und eine schwarze Schnauze zitterte zwei Zentimeter vor ihrer Nase.

»Gott, Horace.« Sie lachte erleichtert auf. »Du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt.«

Ein breiter Lichtstrahl drang durch den Türspalt der Kohleluke zu ihr herunter, und allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Schatten. Mühsam hob sie den Kopf, stützte eine Hand auf dem Boden auf, um sich hochzustemmen, und riss sie mit einem Aufschrei zurück, da sie in Glasscherben gegriffen hatte. Der Schmerz brachte die Erinnerung zurück.

Sie sah sich im Keller um, konnte jedoch außer Horace kein lebendes Wesen sehen und rappelte sich vorsichtig hoch, schob die Glasscherben beiseite, damit der Hund sich nicht noch die Pfoten aufschnitt. Außer kleinen Blessuren wie einem Schnitt an der Hand und hier und da eine Prellung schien sie selbst nichts davongetragen zu haben. Komisch war höchstens, dass sie eine merkwürdige Empfindlichkeit zwischen den Beinen verspürte, als wäre sie penetriert worden. Sie tat es als Einbildung ab, zumal ihr dröhnender Schädel sie viel stärker störte und ihr Denken behinderte. Weißglühende Schmerzblitze zuckten hinter ihren Augen, wenn sie sich bewegte. Bruchstücke von Erinnerungen stürmten auf sie ein; ihre Hand flog zu ihrer Jackentasche, um nach dem Handy zu tasten. Zum Glück war es noch da und nicht beschädigt worden bei dem Sturz. Sobald es ihr besser ging, würde sie in die Stadt fahren und ein Ladegerät kaufen, um zumindest eines der Geheimnisse der Insel hoffentlich bald zu lösen.

Dann fiel ihr der Junge ein: Robbie.

Fluchend bahnte sie sich einen Weg hinüber zum Küchenaufgang und stieg, gefolgt von Horace, vorsichtig im Dunkeln nach oben. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es sein könnte – später vermutlich, als sie dachte. Schwaches Licht fiel durch die Küchenfenster herein; schwarze Wolken, aus denen es leicht nieselte, trieben über den bleigrauen Himmel. Auf der Uhr über dem Herd war es zwanzig nach neun.

»Scheiße«, sagte sie laut. Der Junge müsste längst in der Schule sein. Hektisch eilte sie die Treppen zum zweiten Stock hoch, rief seinen Namen, aber als sie die Tür zu seinem Zimmer öffnete, war es leer, das Bett ordentlich gemacht.

»Robbie?«

Ihr erster Gedanke war, dass er ins Bad gegangen sein könnte. Sie eilte von Zimmer zu Zimmer, sah in allen Toiletten und Waschräumen nach. Nichts. Stattdessen blickte ihr aus den Spiegeln ihr Konterfei entgegen: wilde Augen und zerzauste Haare, ein Blutfleck im Gesicht von einer Platzwunde über der Augenbraue. Ganz großartig, dachte sie sarkastisch mit einem Anflug von Galgenhumor.

Immer wieder rief sie nach Robbie, fand das Versteckspiel nicht mehr lustig, doch keine Reaktion. Der Junge kam nicht einmal, als sie ihn mit einem Frühstück lockte. Bis zum Turmzimmer dehnte sie ihre Suche aus, ohne eine Spur von ihm zu entdecken.

Robbie blieb verschwunden.

Vielleicht war er ja früh aufgewacht und hatte sich auf den Weg ins Dorf gemacht, war brav zum Unterricht gegangen. Alles möglich, überlegte sie … Nein, korrigierte sie sich. Im Grunde konnte er das Haus nicht verlassen haben, denn die Haustür war noch immer von innen verriegelt und die Hintertür der Küche desgleichen. Die einzige Möglichkeit war der Keller. Unbehaglich schaute Zoe hinüber zur Kellertür. War er auf diesem Weg hinausgelangt? Ihr fiel keine andere Erklärung ein, bloß hieß das, er war an ihr vorbeigelaufen, als sie bewusstlos im Keller gelegen hatte.

Ein Gedanke, der sie beunruhigte.

Wenn das nämlich zutraf, hatte er zwangsläufig auch gesehen, dass sein Versteck für Iains Handy entdeckt worden war. Aber hätte er in diesem Fall nicht bei ihr gesucht? Irgendwie passte nichts zusammen. Sie beschloss, weiter nach ihm zu suchen.

»Komm, Horace.«

Zoe sperrte die Hintertür auf und schnappte sich Stiefel und Jacke, hielt noch einmal inne, um das Handy sicher in einer Reißverschlusstasche zu verstauen, wobei der Hund mit einer Miene resignierter Entnervtheit zu ihr hochsah.

Draußen blies der Wind kräftiger, als es vom Haus aus den Anschein gehabt hatte. Hohe graue Wellen rollten mit zunehmendem Tempo heran, um sich am Fuß der Klippen zu brechen, und die Möwen schienen wie Konfetti auf den Luftströmungen hin und her geworfen zu werden. Zoes Ziel war der Klippenpfad, den hochzusteigen bei dem heftigen Gegenwind ziemlich anstrengend werden dürfte. An besonders ausgesetzten Stellen fürchtete sie sogar, von einer Böe in die Tiefe gerissen zu werden. Als sie die letzte Anhöhe erklommen hatte, entdeckte sie ein schlammbespritztes Quadbike, an dessen Sitz ein Helm befestigt war.

Ihr wurde ganz anders. Wenn Robbie nicht das Quad genommen hatte, wie war er dann in den Ort gekommen? Oder war er gar nicht nach Hause zurückgekehrt?

Schlagartig kamen ihr wieder die unheilvollen Worte des Jungen vom Abend zuvor in den Sinn, seine düstere Überzeugung, dass »sie« ihn verschwinden lassen würden, genau wie Iain. Was hatte er ihr damit zu sagen versucht? Sie starrte auf den Rand der Klippe, wo spärliche Grasbüschel aus dem erodierten Boden sprossen.

Wo hatte man noch sicheren Halt, wo rutschte man ab?

Prompt begann sie sich Vorwürfe zu machen. War ihr Schlag härter gewesen, als sie dachte? Hatte er vielleicht entgegen dem Anschein ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen? War er deshalb zu benommen gewesen oder hatte nicht mehr klar gesehen, als er nach seinem Quad suchte, war dann … Nein, den Rest durfte sie nicht einmal denken.

Trotzdem musste sie nachschauen.

Zoe befahl Horace, Sitz zu machen, und näherte sich widerwillig dem Rand der Klippe, sodass sie auf die schäumende weiße Brandung hinunterspähen konnte. Ob vom Blick in die Tiefe, ob vom Kater nach zu viel Wein, jedenfalls wurde ihr schwindlig, und sie hatte zudem das Gefühl, eine Hand in ihrem Rücken würde sie in Richtung des Abgrunds drücken. Sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht, Benommenheit trübte ihre Sicht, und für einen Moment glaubte sie unten in den Wellen schemenhaft eine Gestalt zu sehen. Halt suchend, ging sie zu Boden und krallte sich im stacheligen Strandgras fest, blieb dort liegen, bis der Schwindel vorbei war und sie sich stabil genug fühlte, um sich langsam rückwärts zum Weg zurückzuarbeiten. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Magen rebellierte vor lauter Hunger, der Hund sah sie vorwurfsvoll an, weil er ebenfalls noch nichts zu essen bekommen hatte. Sie schlang ihm einen Arm um den Hals.

»Na komm«, murmelte sie und erhob sich. »Frühstück. Und anschließend müssen wir Robbie finden. Andernfalls …«

Sie ließ den Gedanken unvollendet.

Als Erstes fuhr sie zum Pub, aß unter dem Fahren ein Sandwich. Schuldgefühle hatten sie davon abgehalten, in der Küche Zeit mit Essen zu vertrödeln. Inzwischen regnete es in Strömen. Auf dem Parkplatz angekommen, blieb sie ein paar Minuten im Wagen sitzen, doch es wollte und wollte nicht aufhören.

»Du bleibst besser hier im Trockenen«, befahl sie Horace. »Und sobald ich zurück bin, bringe ich dich nach Hause, versprochen.«

Da der Pub noch nicht geöffnet hatte, ging sie ums Haus herum zum Hintereingang. Von drinnen hörte sie das Geräusch eines Staubsaugers. Beim zweiten Klingeln öffnete Kaye die Tür, atemlos, in legerer Trainingskleidung, ihre rosa Haare mit einem Tuch zusammengebunden.

»Sie haben mich beim Pilates erwischt – o mein Gott«, sagte sie, während sie Zoe von Kopf bis Fuß musterte. »Kommen Sie rein. Was ist passiert – hatten Sie einen Unfall?«

Erst in diesem Moment fiel Zoe siedend heiß ein, dass sie nicht einmal ihr Gesicht hergerichtet hatte, das zierten nach wie vor die Platzwunde und die Blutflecken. Und ihre Kleidung war durch den Bodenkontakt auf den Klippen ganz schön verdreckt.

»Es ist schlimmer, als es aussieht«, sagte sie lahm. »Ist Annag da?«

»Annag?« Kaye kniff die Augen zusammen. »Sie kommt erst um elf.« Sie grinste. »Ich weiß, die Leute von den Inseln haben einen gewissen Ruf, aber selbst wir öffnen die Pubs nicht schon zum Frühstück.«

»Wo kann ich sie finden?«

»Vermutlich schläft sie noch, so wie ich sie kenne.« Kayes Miene wurde ernst. »Was wollen Sie denn von Annag?«

»Ich muss sie etwas fragen. Wo wohnt sie?«

Kaye rasselte die Adresse herunter, biss sich dann auf die Lippe. »Soll ich sie für Sie anrufen?«

»Nein, alles okay.« Sie mochte Kaye nicht mit Robbies Verschwinden belasten – zumindest so lange nicht, wie sie keine Gewissheit hatte. Vielleicht war er ja sicher zu Hause oder in der Schule. »Ist es weit zu dem Haus?«

»Stonecutters Row? Überhaupt nicht, das ist die kleine Gasse mit Cottages hinter dem Dorfanger. Nicht die mit den hübschen bunten Häuschen gegenüber der Kirche, sondern die Straße dahinter, wo die Touristen nicht hinkommen. Warten Sie«, rief sie, als Zoe sich zum Gehen wandte, »sind Sie sicher, dass Sie nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen wollen, und ich rufe inzwischen Annag an? Sie sehen aus, als ob Sie eine gebrauchen könnten.«

»Nein danke, wirklich.« Zoe rieb den Schmutz von ihrem Ärmel. »Noch eine Sache: Oben beim Haus gibt es ein Problem mit dem Telefon. Ich glaube, die Leitung ist unterbrochen.«

Kaye runzelte die Stirn. »Unterbrochen? Vom Sturm abgerissen?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls funktioniert das Telefon nicht. Können wir jemanden kommen lassen, der es repariert?«

»Bei dem Wetter?« Kaye wies mit einer Handbewegung zur Tür und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Diese Stürme werden ein paar Tage anhalten, heißt es, und heute Nacht wird es noch schlimmer werden. Alle Fähren wurden gestrichen – die letzte ist heute Morgen um acht gefahren. Mick hat angerufen, dass er dort drüben feststeckt, bis sie den Betrieb wieder aufnehmen. Wir werden jetzt niemanden vom Festland herkriegen, tut mir leid. An Ihrer Stelle würde ich mich mit Milch und Brot eindecken – könnte sein, dass es für eine Weile keine Lieferungen mehr gibt.«

Zoe nickte, während sie über die Auswirkungen nachdachte. Als Kaye ihre Miene bemerkte, legte sie ihr eine Hand auf den Arm.

»Die Einladung steht noch immer – wenn Sie heute Abend im Pub übernachten wollen, das Zimmer wartet auf Sie. Ich würde mich auf jeden Fall wohler fühlen, wenn Sie hier wären und ich mir keine Sorgen um Sie dort draußen machen müsste. Bei solch einem Wahnsinnssturm, dazu ohne funktionierendes Telefon.«

»Danke, das ist sehr nett.«

Sie verließ Kaye mit einem Winken und einem gezwungenen Lächeln, ohne bei der Sache zu sein. Das Einzige, woran sie denken konnte, war dieses aufgewühlte Wasser am Fuß der Klippe und die Gestalt, die sie darin zu sehen geglaubt hatte.

Als sie in die Stonecutters Row einbog, sah sie, was Kaye damit gemeint hatte, dass es keine Straße für Touristen sei. Anders als die sorgfältig instand gehaltenen Feriencottages gegenüber dem Dorfanger mit ihren pastellfarben gestrichenen Fassaden und ordentlich gepflegten Gärten bogen die Häuser sich hier unter dem Gewicht der Vernachlässigung, und im Regen sahen sie noch trostloser aus als sonst. Dachziegel fehlten ebenso wie ein neuer Putz und ein frischer Anstrich. Türen hingen schief in den Angeln, alte Fahrräder rosteten in den Vorgärten vor sich hin, und in einem stand sogar ein ausrangierter Kühlschrank.

Zoe öffnete das Gartentor zu Nummer zwei, weder das beste noch das schlechteste Haus in der Reihe, und drückte auf die Klingel. Regen ergoss sich sintflutartig aus einer verstopften Dachrinne neben der Haustür. Nach unverhältnismäßig langer Zeit hörte sie schlurfende Schritte von drinnen, begleitet von einfallsreichen Flüchen, und kurz darauf öffnete Annag die Tür, starrte sie mit unverhohlenem Groll an. Sie war in einen schmuddeligen Morgenmantel gewickelt, und die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen ums Gesicht, das mit Resten von Make-up verschmiert war. Offenbar hatte sie sich vor dem Zubettgehen nicht einmal die Mühe gemacht, sich abzuschminken. Ein schaler Zigarettengeruch umwehte sie.

»Ist Robbie da?«, fragte Zoe und musste sich sehr am Riemen reißen, um ihre Sorge zu verbergen.

»Was zum Teufel …« Annag verschränkte die Arme vor der Brust. »Er ist in der Schule, oder? Warum sollte er hier sein?«

»Hast du ihn heute Morgen gesehen?«

»Nein.« Die Stimme des Mädchens klang aggressiv. »Ich habe geschlafen, bis Sie mich geweckt haben. Stellen Sie sich vor, ich musste gestern bis nach Mitternacht arbeiten«, ergänzte sie zynisch. »Robbie geht allein zur Schule. Was geht Sie das überhaupt an?«

Zoe verfluchte sich. Warum hatte sie nicht zuerst in der Schule nachgefragt? Wenn Annag geschlafen hatte, bestand immer noch die Möglichkeit, dass er zu Hause gewesen war, bevor er sich auf den Weg zur Schule gemacht hatte. »Ach nichts, tut mir leid. Er ist bestimmt dort«, sagte sie begütigend und schickte sich zum Gehen an, inzwischen nass bis auf die Knochen.

Annag seufzte theatralisch. »Er ist mal wieder nicht in der verdammten Schule, habe ich recht? Hat man Sie geschickt, ihn zu suchen? Erledigen Sie jetzt Botengänge für Ihren neuen Freund, ja?« Sie öffnete die Tür sperrangelweit und vollführte eine übertrieben ausladende Armbewegung. »Hier ist er jedenfalls nicht. Sie können gern nachsehen, wenn Sie wollen. Versuchen Sie’s auf dem Friedhof oder im Buchladen. Oder bei Ihrem Haus …« Sie zog wissend eine Augenbraue hoch. »Dorthin haut er nämlich manchmal ab. Er ist wie besessen von diesem alten Gemäuer.«

»Er ist bereits öfter weggelaufen?«

»Ständig. Der kleine Scheißer will Aufmerksamkeit.«

Annag fixierte sie mit einem provozierenden Blick, während sie in der Tasche ihres Morgenmantels wühlte und ein Päckchen Zigaretten hervorkramte.

Ich würde auch weglaufen, wenn ich bei dir leben müsste, dachte Zoe, beherrschte sich aber. Ihr war allzu deutlich bewusst, dass sie für Robbies Verschwinden verantwortlich gemacht werden könnte, immerhin war er zuletzt in ihrem Haus gewesen – da sollte sie kein Öl ins Feuer gießen und sich die Familie zum Feind machen.

»Der taucht wieder auf«, meinte Annag leichthin und steckte sich die nicht angezündete Zigarette in den Mund. »Das tut er immer.« Und leise, wenngleich laut genug, dass Zoe es hörte, fügte sie hinzu, bevor sie die Tür schloss: »Nicht dass es Sie einen Scheiß angeht.«

So schnell, wie ihre schmerzenden Beine es erlaubten, eilte Zoe über den Dorfanger hinüber zur Schule. Inzwischen erinnerte der Regen an die biblische Sintflut, denn er kam nicht nur von oben, sondern spritzte zudem von unten wieder hoch. Froh, ihm wenigstens vorübergehend zu entkommen, betrat sie das kleine Schulgebäude und wollte eigentlich zum Büro der Schulsekretärin, doch die war nicht da. Also ging sie den Flur mit den Kinderzeichnungen hinunter, wo sie am gestrigen Nachmittag mit Kaye gesprochen hatte, und entdeckte am Ende des langen Gangs durch das Fenster einer gelben Tür Edward, der lebhaft gestikulierte. Das Lachen der Kinder verriet ihr, dass er offensichtlich etwas parodiert hatte, das sie raten mussten. Wieder einmal dachte sie wehmütig an Caleb.

Als sie anklopfte und unaufgefordert eintrat, stutzte Edward, bevor er ein paar Schritte auf sie zukam. Ihr Blick glitt über die Schüler, sie sah zwei Mädchen kichernd hinter vorgehaltener Hand tuscheln, und die großen blauen Augen, die neugierig auf sie gerichtet waren, verrieten ihr, dass es sich um Kayes Töchter handelte.

»Das reicht jetzt, Megan«, mahnte Edward die Größere der beiden und strich sich das Haar aus den Augen. »Was ist passiert?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. »Du siehst ja …«

Er brach ab, musterte ihre Schnittwunden und Prellungen.

»Beschissen. Ich weiß«, flüsterte sie. »Wo ist Robbie?«

»Er ist bislang nicht da. Warum?« Als er ihre Besorgnis bemerkte, nahm er ihren Arm. »Lass uns draußen reden. Mrs McCrae, könnten Sie die Kinder für ein paar Minuten im Auge behalten?«, bat er eine streng blickende Frau in einem Fair-Isle-Pullover, die in einer Ecke saß und mit einem gelockten Jungen Lesen übte – offenbar die Schulsekretärin, dem Namen nach zu urteilen.

»Robbie schwänzt ständig die Schule«, erklärte Edward, sobald sie draußen waren. »Ich kann nicht viel tun, ohne den Sozialdienst einzuschalten, und das möchte ich zum jetzigen Zeitpunkt höchst ungern – es ist schwer, seinem Dad verständlich zu machen, dass es ein Problem gibt. Warum bist du so besorgt seinetwegen?«

»Er ist gestern Abend zum Haus hochgekommen. Er war es, der dort herumgeschlichen ist und mir diese dummen Streiche gespielt hat. Er hat sich verletzt, und ich wollte nicht, dass er sich bei dem Wetter alleine auf den Heimweg macht. Deshalb hat er bei mir geschlafen, aber heute Morgen war er weg, ohne sein Quad, und das finde ich komisch.« Sie hielt einen Moment inne, um Luft zu holen. »Er schien todunglücklich – ich hatte Angst, er könnte weggelaufen sein und …«.

Edward nickte. »Vermutlich hat er Angst, dass er Ärger kriegt, das ist alles. Geben wir ihm bis zum Ende des Tages Zeit – wenn er bis vier nicht zu Hause ist, werden wir neu überlegen. Sieht aus, als ob du dich ebenfalls verletzt hast.«

Als er eine Hand hob, um ihr Gesicht zu berühren, wich sie zurück.

»Wie kannst du so ruhig bleiben? Er ist ein elfjähriges Kind und irgendwo dort draußen bei diesem Wetter.«

»Es passiert nicht zum ersten Mal«, erwiderte Edward leicht genervt. »Er wird irgendeinen warmen und trockenen Ort gefunden haben, an dem er sich versteckt. Du solltest es im Buchladen versuchen – Charles ist dafür bekannt, dass er ihm Unterschlupf gewährt, statt ihn nach Hause zu schicken oder wenigstens Bescheid zu sagen.« Er schüttelte den Kopf. »Hör zu, es tut mir leid wegen gestern Abend. Irgendein Scheißkerl hat mir einen Reifen zerstochen. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber die Leitung war mausetot. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte dich versetzt«, fügte er mit einem nervösen Lächeln hinzu.

»Ich weiß von dem Reifen. Das war Robbie. Er wollte verhindern, dass du zum Haus kommst.«

»Dieser kleine Scheißer.« Edward ballte die Faust. »Hat er sich dir gegenüber schlecht benommen?«

»Nein, er war …«

Sie brach ab, ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Bewegung draußen abgelenkt. Direkt hinter dem Dorfanger lag der Friedhof, und dort meinte sie eine Gestalt in einem Kapuzenumhang herumschleichen zu sehen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie musste sich gegen die Wand lehnen.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Edward berührte sie sanft am Arm. »Diese Platzwunde an deinem Kopf sieht ziemlich scheußlich aus.«

»Siehst du das dort drüben?« Sie hielt ihn am Ärmel fest, sprach mit heiserer Stimme. »Diese … Person auf dem Friedhof?«

Er blinzelte, spähte durch die Scheibe, dann musterte er sie von der Seite. »Natürlich.«

»Wirklich?« Sie hörte, wie ihre Stimme zitterte. »Weißt du, wer das ist?«

Er rieb mit einem Ärmel über die Scheibe und sah noch einmal genauer hin.

»Wenn ich mich nicht irre, ist das Charles. Es sieht nach seinem voluminösen Mantel aus. Allerdings kann ich Horace nirgends entdecken …«

»O verdammt.« Sie ließ seinen Arm los. »Horace ist bei mir im Wagen. Ich habe ihn dort gelassen, im Trockenen.«

»Augenblick, ich komme mit. Wir können Charles fragen, ob er Robbie irgendwo gesichtet hat.« Er warf einen Blick ins Klassenzimmer. »Sie wird ein paar Minuten allein mit ihnen zurechtkommen. Die Kinder haben vor ihr mehr Angst als vor mir. Warte hier.«

Er lief den Flur hinunter und kam ein paar Minuten später mit einer Regenjacke zurück.

Zusammen rannten sie durch den Wolkenbruch über den Schulhof, die Schultern schützend hochgezogen. Die Gestalt auf dem Friedhof hatte sich nicht gerührt, stand nach wie vor da, den Blick auf den Boden geheftet. Ihr Inneres verkrampfte sich, ihr wurde übel, während Erinnerungen an die vergangene Nacht in ihr aufstiegen. Bei ihrem Wagen angekommen, ließ sie Horace von der Rückbank springen und beobachtete ihn, ein Auge auf die Kapuzengestalt geheftet. Der Hund schoss los und stürmte mit einer Energie über die Straße, die sie ihm nie zugetraut hätte.

Bei seinem aufgeregten Bellen wandte sich die Gestalt auf dem Friedhof um – es war tatsächlich Charles. Er trug einen langen, altmodischen Wachsmantel, wie sie ihn bei der geisterhaften Person draußen im Moor zu sehen geglaubt hatte. Der alte Mann zog seine Kapuze zurück und kauerte sich lächelnd hin, um seinen außer Rand und Band geratenen Hund zu begrüßen, der sich auf sein Herrchen stürzte, als wären sie jahrelang getrennt gewesen.

»Was tun Sie denn hier draußen, Professor?«, fragte Edward seinen väterlichen Freund, der neben einem hohen Keltenkreuz kniete und seinen vierbeinigen Gefährten kraulte.

»Bin auf dem Weg, den Laden aufzusperren.« Charles beäugte ihn vorsichtig. »Was führt Sie denn bei diesem Wetter von den Kindern fort? Und Zoe, du liebe Güte! Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus, wenn ich das sagen darf. Hat Horace nicht auf Sie aufgepasst?«

Erneut streichelte er den Hund, der wie ein junger Welpe um ihn herumsprang.

Sie sah verlegen zur Seite. »Ich glaube, er ist froh, mich los zu sein. Es war alles sehr aufregend.«

»Robbie Logan ist wieder weggelaufen«, erklärte Edward. »Er war gestern Nacht oben im McBride-Haus, und Zoe weiß nicht, wo er sein könnte. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen, oder?«

Charles wischte sich den Regen aus dem Gesicht.

»Leider nein. Ich bin heute ein bisschen spät dran mit Aufsperren, wie ihr seht.« Er sah Zoe fast entschuldigend an. »Ich schlage vor, wir beide sehen zu, dass wir ins Warme und Trockene kommen, und dann können Sie mir erzählen, was passiert ist. Robbie könnte auftauchen, sobald der Laden offen ist. Ich gebe Ihnen Bescheid, Edward, falls er aufkreuzt.«

Edward wandte sich an Zoe. »Und ich werde sehen, ob ich meinen Reifen bis zum Mittag reparieren lassen kann. Wenn nicht, wird Charles mir sicher seine alte Karre leihen – wie auch immer, ich komme zu dir raus, sobald die Schule aus ist. Keine Sorge – ich bin sicher, bis dahin haben wir von Robbie gehört.«

Er lächelte, legte ihr eine Hand auf den Arm, und bevor sie sich zum Gehen anschickten, fiel ihr Blick auf den Granitsockel des Keltenkreuzes, und mit einem leichten Schaudern erkannte sie, dass es ein Denkmal für Tamhas McBride war.

Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Wo ist Ailsa?«

Charles hielt sich eine Hand ans Ohr. »Wie bitte?«

»Ailsa, wo ist ihr Grab? Ist es hier?«

Er schüttelte den Kopf, wies mit einer ausladenden Armbewegung über den Friedhof.

»Eine mutmaßliche Mörderin, Selbstmörderin und Hexe in geweihter Erde? Machen Sie Witze?«

»Wo ist sie dann begraben?«

Er zögerte – einen Takt zu lange, fand Zoe.

»Das weiß niemand. Kommen Sie mit in den Laden und lassen Sie sich trocknen, während ich Ihnen die Geschichte erzähle.«

»Die Dorfbewohner wollten nicht einmal, dass sie auf der Insel begraben wurde.« Charles stellte einen dampfenden Becher mit Kaffee auf den Tisch im Hinterzimmer, auf dem schon eine Auswahl an Gebäckstücken wartete. »Bonar hat William geschrieben, dass sich der hiesige Pfarrer geweigert habe, sie auf dem Gottesacker zu bestatten, und man es für das Beste halte, irgendwo auf dem Festland ein Stück nicht geweihte Erde für sie zu finden. Bereits damals, verstehen Sie, war man besorgt, ihr Grab könnte ein Anziehungspunkt ungesunder Faszination werden. Bonar bot an, sich um eine unauffällige Beisetzung des Leichnams zu kümmern, sofern William die Kosten übernehmen würde. Er musste Arbeiter vom Festland anheuern, da keiner der Inselbewohner den Sarg anfassen wollte.«

Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und nahm sich ein Zimtbrötchen. Horace ließ sich quer über Charles’ Stiefel fallen, als wollte er ihn davon abhalten zu gehen.

»Und gibt es irgendwelche Aufzeichnungen, wohin sie gebracht wurde?«

»Wir wissen, dass der Sarg mit dem Schiff die Insel verließ, in Begleitung von Bonar. Danach nichts Offizielles mehr.« Charles strich sich ein paar Krümel aus seinem Bart. »Auf dem Gelände der Irrenanstalt von Inverness gab es seinerzeit einen Armenfriedhof – das scheint am wahrscheinlichsten, zumindest den Andeutungen zufolge, die Bonar William gegenüber machte. Es dürfte ziemlich einfach gewesen sein, sie dort anonym zu bestatten, wenn genügend Bares den Besitzer wechselte, und William dürfte froh gewesen sein, dass er das Problem auf diese Weise aus der Welt schaffen konnte.«

»Wie traurig. Ein namenloses Grab.« Sie sah zu ihm hoch. »Irgendwie klingen Sie nicht überzeugt.«

»Eines ist seltsam. Es kam eine Geschichte auf, festgehalten von einem örtlichen Richter in seinem Tagebuch, wonach die beiden Männer, die angeheuert wurden, um ihren Sarg aufs Festland zu bringen, überall herumerzählt haben sollen, der Sarg sei ihrer Ansicht nach zu leicht gewesen, um einen Leichnam zu enthalten. Vielleicht hatten sie einfach ihren Spaß daran, im Pub ein bisschen Seemannsgarn zu spinnen, doch das Gerücht machte damals auf jeden Fall die Runde.«

»Und was glauben Sie, was Bonar mit ihr gemacht hat?«

Er zögerte. »Es ist nicht völlig undenkbar, dass er ihren Leichnam seinem Arztfreund spendete, entweder gegen Bezahlung oder als Gegenleistung dafür, dass er den Totenschein ausgestellt hat. Ein Mediziner hätte damals viel für die Gelegenheit gegeben, den Leichnam eines jungen, gesunden Menschen, dazu in einem solch ungewöhnlich guten Zustand, untersuchen zu können. Alles völlig gesetzwidrig natürlich, und darum musste Bonar sich eine Geschichte für William zurechtlegen. Falls es so gelaufen ist …«

»Oder sie hat die Insel nie verlassen.«

Charles sah sie seltsam an. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Ich habe sie gesehen.« Sie hob den Kopf, um seine Reaktion zu beobachten, aber da kam nicht mehr als eine fragend hochgezogene Augenbraue. »Draußen im Moor, in einer Art Kapuzenumhang. Und gestern Nacht war dieselbe Gestalt im Keller – vor lauter Schreck bin ich gestürzt.« Als er nichts erwiderte, fixierte sie ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Und Sie haben sie genauso gesehen – ich weiß, dass dem so war. Das ist der Grund, weshalb Sie nicht zum Haus kommen wollen, stimmt’s? Weil Sie sie gesehen haben?«

»Sie scheinen sehr müde zu sein, Zoe – und sehr aufgewühlt wegen Robbie …«

»Kommen Sie mir nicht so! Sie sind es schließlich, der sich ganz sicher ist, dass es Geister gibt, oder wie immer Sie sie nennen wollen. Gestern, als Sie aufgewacht sind, haben Sie als Erstes gesagt: Ist sie noch da? Sie haben nicht Ihre Putzfrau gemeint, sondern Ailsa. Habe ich recht?«

Sie hörte, wie schrill und hysterisch ihre Stimme klang.

»Haben Sie ihr Gesicht gesehen?«, fragte Charles nach einer Weile.

»Nicht wirklich.« Sie senkte den Blick. »Es war eher ein Gefühl.«

»Dennoch sind Sie sich sicher, dass es Ailsa war?«

»Ja! Ich wusste es einfach.«

»Hatten Sie – verzeihen Sie die Frage –, hatten Sie getrunken?«

Sie errötete. »Gestern ein bisschen. Die ersten beiden Male hingegen keinen Tropfen. Einmal war ich mit dem Fahrrad unterwegs.«

»Hätte es nicht jemand anders in einem langen Kapuzenmantel sein können, einem, wie auch ich ihn besitze?«

Er zeigte zur Küche, wo sein Mantel an der Rückseite der Tür hing. Darunter hatte sich inzwischen eine Pfütze gebildet.

»Das habe ich mir ebenfalls überlegt, bis sich diese Gestalt auf einmal in Luft aufzulösen schien.«

Sie kam sich allmählich albern vor – wie ein Patient, der zum Arzt geht, weil er überzeugt ist, an einer lebensgefährlichen Krankheit zu leiden, und dann lediglich eine schlichte Erkältung diagnostiziert bekommt.

»Hm. Hatten Sie weitere von diesen ungewöhnlichen Visionen, die Sie neulich erwähnten?« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Die denen Ailsas ähnelten?«

Sie spürte, wie ihr heiß wurde, und hoffte, dass sie nicht wie ein Klatschmohn aussah …

»Gestern Nacht habe ich geträumt …« Sie brach ab, hielt sich eine Hand vor die Augen, wie um sich vor seinem forschenden Blick zu schützen. »Ich habe geträumt, ich sei sie. Und dann habe ich diese ganze Geschichte – die Séance, oder wie immer man das nennt – mit ihren Augen gesehen.«

»Na ja, sie beschreibt es in ihrem Tagebuch durchaus detailliert. Kein Wunder also, wenn sich das in Ihrer Fantasie festgesetzt hat …«

»Tamhas war da und noch jemand anders, der später erschien. Oder irgendetwas. Und er …«

Sie schauderte, ließ die Hände auf den Tisch sinken.

Charles beugte sich interessiert vor. »Sie haben in diesem Traum Tamhas gesehen?« Als sie nickte, runzelte er die Stirn und erhob sich. »Warten Sie hier.« Er ging durchs Zimmer zu dem Vitrinenschrank, und als er wiederkam, legte er ein Sepiaporträt vor sie hin und beobachtete angelegentlich ihre Reaktion.

»Das ist er!« Zoe stöhnte auf und starrte mit offen stehendem Mund die Fotografie an, tippte mit einem Finger auf das Gesicht mit den buschigen dunklen Augenbrauen, das gebieterisch in die Kamera funkelte. »Das war der Mann, den ich gesehen habe. Er trug genau dieselbe gemusterte Weste, allerdings nicht die Jacke. Er war in Hemdsärmeln.«

»Interessant. Ich habe Ihnen dieses Foto nie zuvor gezeigt, oder?«

»Ich glaube nicht. Nein, ich bin mir sicher, das haben Sie nicht.«

»Und Sie könnten ihn nirgendwo in einem Buch gesehen haben?«

»Nein, ich habe nie ein Buch über ihn gelesen.«

Charles nickte, und diesmal erinnerte seine Art sie an einen Arzt, der widerstrebend eine Diagnose stellt, bei der er gehofft hatte, sie würde sich als falsch herausstellen. Erneut hielt sie sich die Hände vor Gesicht, legte die Fingerspitzen über Mund und Nase aneinander.

»In diesen Träumen oder Visionen, wie immer man das nennen will, habe ich das Gefühl, Ailsa zu werden. Als ob sie mich einsaugt.« Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, die ganze Erschöpfung der vergangenen Nacht brach sich Bahn. »Charles, warum passiert das mit mir?«

Er sah sie lange an, streng und gleichzeitig mitfühlend.

»Diese Frage können Sie sich, glaube ich, selbst beantworten, wenn Sie sich ein bisschen anstrengen.«

Sie griff nach ihrem Kaffee, wich seinem Blick aus. Horace trottete gutmütig zu ihr herüber und legte ihr seine Schnauze auf den Schenkel, hatte ihr die nächtliche Ruhestörung offensichtlich verziehen.

»Hey, alter Junge«, sagte sie matt, während sie ihm die Ohren kraulte. »Ich möchte wetten, du bist froh, wieder zu Hause zu sein, was? Tut mir leid, dass ich eine solch lausige Mom war.«

Als sie merkte, was sie da gesagt hatte, brach sie in Tränen aus.

»Sie sind keine lausige Mutter, Zoe«, beruhigte Charles sie. »Ganz und gar nicht.«

»Sagen Sie das nicht. Sie wissen ja gar nichts über mich«, widersprach sie schluchzend. »Sehen Sie mich an. Ein kleiner Junge war in meiner Obhut, und ich konnte ihn nicht beschützen. Ich habe ihn im Stich gelassen. Verstehen Sie das nicht?«

Seine eisblauen Augen schienen sie zu durchdringen, bis in die Tiefen ihrer Seele zu blicken, und in diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass er alles verstand – und immer verstanden hatte, von Anfang an. Er streckte einen Arm über den Tisch aus und legte seine kühle, trockene Hand auf ihre.

»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte er leise.

»Doch, es war allein meine Schuld«, flüsterte sie.

Ein langes Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus, sie saßen ein paar Minuten da und lauschten auf das Prasseln des Regens und das Heulen des Sturmes. Schließlich zog Zoe ihre Hand zurück und wühlte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.

»Mit Robbie wird alles gut werden«, erklärte Charles und trug die Kaffeebecher in die Küche.

»Sie haben einmal gesagt, er habe Angst«, murmelte sie. »Sie hatten recht. Er glaubt, dass er in Gefahr ist. Gestern Abend hat er mir gesagt, dass sie ihn früher oder später holen werden.«

»Hat er das wirklich? Das ist mehr, als er mir je offenbart hat. Er hat nicht zufällig verraten, wen er meint?«

»Wer immer Iain geholt hat. Oder was immer.« Sie merkte, dass jede Faser ihres Körpers vibrierte. »Er weiß, was Iain in jener Nacht in dem Haus gesehen hat, so viel steht fest.«

Sie dachte an das Handy in der Innentasche ihrer Jacke. Sie sollte es Charles aushändigen, das wusste sie, aber ihre Dickköpfigkeit hinderte sie daran. Sie wollte sich als Erste davon überzeugen, dass sie nicht den Verstand verlor. Die Filmsequenz auf dem Handy könnte es beweisen.

»Irgendwann wird er sich uns anvertrauen«, meinte Charles zuversichtlich und stellte frischen Kaffee auf den Tisch.

»Falls er wiederkommt.«

»Oh, das wird er.«

»Sie sagen das, als ob Sie wüssten, wo er steckt.«

»Was ich weiß, ist, dass Robbie Logan über einen starken Überlebensinstinkt verfügt«, entgegnete er ruhig. »Den braucht er in dieser Familie. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen – immerhin hat er Ihnen vertraut.«

»Leider nicht genug, um ihn vom Weglaufen abzuhalten«, erwiderte sie betrübt.

Zoe drehte die Fotografie von Tamhas, der sie vom Tisch aus anstarrte, um – sie hatte in der Nacht zuvor genug von diesen Augen gesehen. Dann erhob sie sich, zog ihre nasse Jacke an und verabschiedete sich.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen schaute sie bei dem Haushaltswarenladen herein und suchte das Regal mit Ladegeräten ab, ohne das passende Modell zu finden. Als sie den stämmigen grauhaarigen Mann hinter dem Tresen um Hilfe bat, sah der sie verkniffen an. Hier schien ihr wirklich niemand über den Weg zu trauen.

»Augenblick, ich sehe mal nach, ob wir hinten noch was haben«, bequemte er sich doch noch zu sagen. »Nicht viel Nachfrage, wissen Sie – niemand hat heutzutage mehr diese Telefone.«

Aber es geschahen noch Zeichen und Wunder. Nach ein paar Minuten kam er tatsächlich mit einer Schachtel in der Hand angeschlurft.

»Sie haben Glück.« Er schob ihr das verpackte Gerät über den Tresen hin, während sie in ihrem Portemonnaie nach dem passenden Geld wühlte. »Ich dachte, ihr Amerikaner wärt alle auf dem neuesten Stand der Technik«, spottete er grinsend.

»Ich nicht, befürchte ich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Genau genommen bin ich gar keine richtige Amerikanerin«, ergänzte sie. »Meine Großmutter war Schottin. Nicht von dieser Insel, jedoch aus dieser Gegend.«

»Dann sind Sie ja praktisch eine Einheimische«, erklärte er, und sie vermochte nicht zu sagen, ob es sarkastisch gemeint war. »Muss trostlos sein in dem McBride-Haus bei dem Sturm.«

»Oh, wenn man erst einmal drinnen ist, finde ich es sehr gemütlich«, erwiderte sie aufgesetzt fröhlich, nahm ihr Wechselgeld und verabschiedete sich.

Während des Zahlens war ihr aufgefallen, dass Geld fehlte, dreißig oder vierzig Pfund vielleicht. Robbie musste sie aus ihrer Handtasche entwendet haben, bevor er am Morgen das Haus verlassen hatte. Ob und was das mit seinem Verschwinden zu tun hatte, blieb ein Rätsel.