18
»Wie fühlst du dich?«
Sie hatte die Schale mit Eiswürfeln in ein Geschirrtuch geleert und die Ecken zu einem behelfsmäßigen Beutel verknotet, den sich Robbie am Küchentisch an den Kopf drückte, während er mit der anderen Hand geistesabwesend Horace kraulte. Der Hund kauerte zwischen den Knien des Jungen, als würde er verstehen, dass seine warme Gegenwart ihn tröstete. Zoe hatte Robbie bereits eine heiße Milch mit Honig gemacht und ein paar Schmerztabletten hineingebröckelt, sie selbst saß vor ihrem zweiten starken Kaffee. Das Schwindelgefühl von vorhin war verflogen, dafür hämmerte es brutal in ihren Schläfen.
»Es tut hinter meinen Augen weh.«
»Siehst du verschwommen?«
»Irgendwie schon. Weiß nicht so recht.«
»Vielleicht hast du eine leichte Gehirnerschütterung, ich gehe morgen mit dir zum Arzt. Hör zu, es tut mir leid – ich dachte, es sei ein Einbrecher. Warst du ja streng genommen. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?« Als er keine Antwort gab, schüttelte sie den Kopf. »Du kannst von Glück reden. Wo ich herkomme, schießen die Leute auf jeden, der in ihr Haus, ihren Keller oder ihre Garage einbricht. Fragen stellen sie erst später, wenn überhaupt. Ohnehin könnten die meisten sie nicht mehr beantworten.«
Für einen Moment verriet seine Miene Bestürzung, bevor er sich wieder mürrisch seinem Becher zuwandte. Robbie fühlte sich eindeutig ungerecht behandelt.
»Wissen deine …« Sie bremste sich rechtzeitig, bevor sie Eltern sagte. »Dein Dad – weiß er, dass du nicht zu Hause bist?«
»Er ist in Belgien.«
»Belgien?«
»Irgendwo da. Oder in Frankreich.«
»Seit wann denn?«
Er zuckte die Schultern. »Letzte Woche.«
»Und wer kümmert sich um dich, wenn er nicht da ist?«
»Meine Schwester.«
Ihr entging nicht die verächtlich geschürzte Lippe, als er diese beiden Worte aussprach, der unverhohlene Groll in seiner Stimme. Von Geschwisterliebe keine Spur.
»Weiß sie, dass du dich nachts davonschleichst?«
»Das wäre ihr egal. Sie ist zu bekifft, um irgendwas mitzukriegen, wenn sie nach Hause kommt.«
Scheinbar gelangweilt, kratzte er an einer unebenen Stelle auf der Tischplatte, tat so, als würde ihn das kaltlassen.
»Wirklich? Woher bekommt deine Schwester denn das Gras? Ich meine, hier draußen gibt’s ja bestimmt keine Dealer.«
»Von Dougie«, antwortete er automatisch und schrak sogleich zusammen. »Verraten Sie ihm nicht, dass ich das gesagt habe.«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen.« Dougie verkaufte also Drogen an eine Sechzehnjährige, noch ein Minus auf der Hitliste seiner schlechten Angewohnheiten. »Weiß dein Dad davon?«
Robbie verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Aber er würde es sowieso nicht glauben. Dougie ist sein Kumpel.«
Sie nickte, und ein paar Minuten sahen sie sich schweigend an.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, erkundigte sie sich schließlich. »Vom Dorf sind es fünf Meilen.«
»Ich hab ein Quadbike.«
»Ach ja.« Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Kriegen das denn die Nachbarn nicht mit, wenn du so spät damit wegfährst?«
»Es gehört meinem Dad, er stellt es in einem Schuppen hinter der Bootswerft unter. Da draußen gibt’s keine Häuser. Und dann fahre ich quer durchs Moor und lasse es oben auf den Klippen stehen.« Er deutete in die ungefähre Richtung. »Selbst Sie würden es nicht hören. Ich bin sehr vorsichtig.«
»Das heißt, du bist nicht zum ersten Mal hier?« Als er keine Antwort gab, rückte sie näher an ihn heran. »Robbie, hast du das etwa alles gemacht, das Vorhängeschloss durchtrennt und ein neues angehängt?«
Er nickte kläglich, von dem großmäuligen Burschen keine Spur mehr. Wenigstens für den Augenblick nicht.
»Und die tote Möwe?«
Eine Pause, dann noch ein Nicken. »Außerdem die Mäuse.«
»Mäuse?«
»Und die Burger.«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Ich hab ein paar Mäuse in meiner Falle gefangen. Und ein paar Burger aus Ihrem Gefrierfach genommen und alles hinter die Heizkörper gestopft – an dem Abend neulich, als ich das mit der Möwe gemacht hab.«
Ungläubig sah sie ihn an, versuchte es zu begreifen. »Warum, Robbie?«
»Ich dachte, die würden riechen wie totes Fleisch – Sie sollten denken, dass eine Leiche unter den Bodendielen liegt, und dann vielleicht nicht hierbleiben wollen.«
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, aber er schaute sie nicht an.
»Nein, ich meine, warum hasst du mich so sehr, dass du mir solch gemeine Streiche spielst? Was habe ich dir getan?«
Endlich hob er den Kopf, und sie sah, dass in seinen Augen Tränen standen und seine Lippen bebten.
»Ich hätte Ihnen nichts getan, ehrlich. Hab eher versucht, Sie zu retten.«
»Wovor?«, fragte sie und fürchtete sich vor der Antwort.
»Hab ich Ihnen doch gesagt – hier oben passieren schlimme Dinge.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Wissen Sie, ich dachte, wenn ich Ihnen genug Angst einjage, dann würden Sie gehen, bevor die irgendwas richtig Böses tun können.«
»Wen meinst du damit?«, hakte sie nach. »Wer, denkst du, würde mir etwas antun wollen?«
Sein Blick huschte zur Seite, er presste die Lippen zusammen, bis sie sich weiß verfärbten, und begann wieder an der Tischplatte zu kratzen.
»Hast du auch dieses Bild in mein Skizzenbuch gezeichnet?« Erneut nickte er. »Das heißt, du hast mir an dem Tag nachspioniert?«
»Ich hab nicht spioniert«, empörte er sich. »Ich war oben auf der Klippe. Und die gehört Ihnen nicht. Da bin ich immer, lange bevor Sie überhaupt hergekommen sind. Um mit Iain zu reden.«
»So wie du mit deiner Mum redest?«
Er zuckte gleichgültig die Schultern, tat so, als ginge ihn das alles nichts an, aber die Sache mit seinem toten Freund beschäftigte ihn offenbar sehr. Hatte er mehr damit zu tun, als er zugab? Zoe erinnerte sich daran, dass Mörder häufig an den Ort ihres Verbrechens zurückkehrten. Dieses Kind war die einzige Person, die zumindest annähernd wusste, was im letzten Sommer mit Iain in diesem Haus passiert war. Momentan schien er ein bisschen zugänglicher zu sein. Würde es ihr gelingen, ihm die Wahrheit zu entlocken? Eine ungeschickte oder unbedachte Frage konnte dazu führen, dass er erneut dichtmachte.
Hätte sie bloß einen klareren Kopf, dachte sie seufzend.
»Meinst du …« Sie zögerte, wog ihre Worte sorgfältig ab. »Meinst du, du könntest wiedergutmachen, was in jener Nacht mit Iain passiert ist, wenn du jetzt dafür sorgst, dass mir nichts geschieht?«
Er schwieg lange Zeit, kratzte wieder an dem Holz.
»Ich hätte nichts tun können«, erwiderte er schließlich leise. »Wenn ich ihm nachgelaufen wäre, wäre ich genauso dran gewesen. Dann säße ich jetzt nicht hier.«
»Trotzdem fühlst du dich schuldig, weil du nicht versucht hast, ihn zu retten?«
»Mich hätte es erwischen sollen«, stieß er nach einer weiteren Pause heftig hervor. »Es war meine Idee, nachts herzukommen und im Haus zu filmen … Wir wollten beweisen, dass es hier spukt, wissen Sie. Und dann war ich ein solcher Schisser, dass ich mich nicht getraut hab reinzugehen. Dabei war das war nur, weil …«
»Weil was?«, erkundigte sie sich behutsam, als er erneut in Schweigen verfiel.
»Sie werden mich auslachen.«
»Das werde ich nicht, versprochen.«
Sein Blick suchte für einen Moment ihren. »Ich hab meine Mum gehört«, flüsterte er. »Als ich mit Iain unten am Strand saß. Ihre Stimme war so deutlich, als ob sie direkt neben mir gestanden hätte. Sie sagte: Geh ja nicht dort hinein, Robert Logan. Es klang, als ob sie richtig sauer gewesen wäre. Und das hat mir so viel Angst eingejagt, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Ich hab Iain nichts davon gesagt, er hätte mich für einen Spinner gehalten. Deshalb ist er allein losgezogen, und dann …« Er brach ab, das Gesicht kreidebleich.
Sie wusste, dass sie ihn besser nicht nach Details fragen sollte – was Iain als Nächstes getan hatte, war der Teil, den Robbie seit über einem Jahr erfolgreich in sich vergrub.
»Hat Iain gefilmt, als er hineingegangen ist, so wie ihr es geplant hattet? Eventuell könnte das auf seinem Handy sein.« Als er lediglich stumm die Schultern hob, fügte sie hinzu: »Ich frage mich, was mit seinem Handy passiert ist.«
»Sie haben es nie gefunden. Er muss es bei sich gehabt haben«, erwiderte Robbie, doch in dem Moment, als er es aussprach, erkannte sie die Lüge.
»Na ja, ich nehme an, das werden wir wohl nie erfahren«, meinte sie, während er sich mit den Fingerknöcheln die Augen rieb.
»Mich hätte es erwischen sollen«, wiederholte er leise. »Das hätte niemanden gekümmert.«
»Oh, Robbie, wie kannst du so etwas sagen, dein Dad und deine Schwester wären bestimmt schrecklich traurig gewesen.«
Er stieß ein leises, bitteres Lachen aus. »Meine Schwester wäre froh gewesen, dann hätte sie von der Insel verschwinden können.«
Gedankenverloren hob er eine Hand und betastete die Prellung an seiner Wange.
»Hat Annag dich so zugerichtet?«
»Bin vom Fahrrad gefallen.«
»Heute Nachmittag hast du gesagt, du seist vom Klettergerüst gefallen.«
»Weiß nicht, ich stoße ständig irgendwo an oder falle irgendwo runter. Bin wohl zu ungeschickt.«
Annag hatte Ähnliches gesagt, erinnerte sie sich. Ihre Abneigung gegen das Mädchen verstärkte sich noch mehr. Und mit Edward musste sie ebenfalls reden – ihm konnten die Verletzungen des Kindes kaum entgangen sein.
»Und was sagt dein Dad zu all den blauen Flecken?«
»Er sieht mich kaum. Die meiste Zeit schläft er, oder er geht in den Pub. Er hasst es, ohne Mum in der Wohnung zu sein.«
Sie sah, wie viel Anstrengung es ihn kostete, nicht zu weinen. Instinktiv rückte sie mit ihrem Stuhl näher zu ihm heran und legte ihm einen Arm um die Schultern. Erst spannte er sich abwehrend an, dann ließ er los und lehnte den Kopf an ihre Schulter. Seine Anziehsachen rochen nach schalem Zigarettenrauch und brauchten generell dringend eine Wäsche. Egal, seine zärtliche Anwandlung rührte sie zutiefst. Vermutlich war er von niemandem mehr seit dem Tod seiner Mutter in den Arm genommen worden. Die leisen, schniefenden Geräusche, die er von sich gab, verrieten ihr, dass er weinte.Eine Weile saßen sie schweigend da.
Welch eine Ironie des Schicksals, kam es Zoe mit einem Mal in den Sinn. Mehr oder weniger war sie auf eine heiße Nacht mit einem jungen Liebhaber eingestellt gewesen, stattdessen saß sie hier und bemutterte einen unglücklichen Jungen. Aber was sollte sie jetzt mit ihm anfangen?
»Hör zu, Robbie. Deine Schwester kriegt es vielleicht nicht mit, wenn du dich nachts davonschleichst, doch sie wird es garantiert spannen, wenn du morgens nicht da bist, oder?« Sie lehnte sich zurück, um ihn anzusehen, und merkte, dass er bereits halb schlief, und ihr Herz verkrampfte sich aufs Neue. »Andererseits kannst du unmöglich auf diesem Ding nach Hause fahren, nicht nach diesem Schlag auf den Kopf, und ich … Nun, ich würde dich ja fahren, wenn ich nicht heute Abend ein bisschen viel Wein getrunken hätte … Und anrufen können wir niemanden, weil das Telefon nicht funktioniert.«
Er warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. »Ich weiß. Das war ich.«
»Du hast die Leitung gekappt?«
»Ja. Mit dem Bolzenschneider von meinem Dad. Ich dachte, Sie würden Angst haben, wenn Sie niemanden anrufen können, und ins Dorf fahren.«
Sie seufzte. »Ganz schön clever, bloß dass wir jetzt ziemlich aufgeschmissen sind. Es sei denn, du hast ein Handy mit Empfang?«
Er schüttelte den Kopf. »An diesem Teil der Küste gibt es nirgends Empfang.«
»Na toll. Okay, dann können wir im Moment nichts anderes tun als abwarten.« Sie zögerte. »Möglicherweise schaut Mr Sinclair noch vorbei – er wollte zum Abendessen vorbeikommen. Allerdings ist es inzwischen so spät, dass ich eher nicht mehr damit rechne.«
»Er wird nicht kommen«, erklärte Robbie im Brustton der Überzeugung.
»Woher weißt du das?«
Sie ließ den Arm von seinen Schultern rutschen und betrachtete ihn mit wachsendem Misstrauen. Robbie spürte das und wand sich sichtlich.
»Ich hab ihm einen Reifen zerstochen«, flüsterte er.
»Mein Gott.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. »Aus welchem Grund?«
»Weil ich Sie beide auf dem Schulhof reden gehört habe. Dass er zum Abendessen kommen wollte. Und da hab ich mir überlegt, dass ich Ihnen nicht so viel Angst einjagen kann, wenn er da ist … Es tut mir leid, ehrlich«, fügte er, in den Kragen seines Kapuzenpullis gemummelt, hinzu. »Kann ich heute Nacht nicht hier schlafen?«
Zoe seufzte. »Sieht aus, als ob wir keine andere Wahl hätten. Solange du hier nicht wieder irgendwelche toten Tiere auslegst, geht es in Ordnung.« Sie drohte ihm spaßeshalber mit dem Zeigefinger, zwinkerte ihm dabei aber zu. »Und ich will auch nichts mehr von diesem Gesang hören.«
Jetzt war es an Robbie, verwirrt dreinzuschauen. »Was?«
»Die ganze Musik und der Gesang übers Telefon, damit muss ebenfalls Schluss sein.«
Als sie seine ehrliche Bestürzung sah, begriff sie schlagartig, dass noch ganz andere Kaliber als der Junge sie zu vertreiben suchten, und zwar mit Psychoterror.
»Ich hab nie irgendwas gesungen«, stammelte er. »Das war ich nicht, ich schwöre es. Ich hab keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Selbst zu aufgewühlt, um darüber zu sprechen, beschloss sie, das Thema für heute zu beenden.
»Egal. Gleich morgen früh fahre ich mit dir zu einem Arzt, und da sagst du bitte ehrlich, was du hier alles angestellt hast und wie es zu der Kopfverletzung gekommen ist, okay? Und jetzt: Willst du vor dem Schlafengehen einen Toast?«
Als Robbie nickte, erhob sie sich und ging hinüber zum Kühlschrank, gefolgt von Horace, der ebenfalls sein Essen einforderte.
»Eines noch«, sagte sie, während sie den Hundenapf füllte. »Woher wusstest du das mit der Hand?«
Der Junge runzelte die Stirn, die Augenlider vor Erschöpfung gesenkt. »Was für eine Hand?«
»Auf diesem Bild von dir in meinem Skizzenbuch hast du eine Hand gezeichnet, die an meinem Knöchel zieht. Das konntest du von der Klippe aus unmöglich erkennen.«
»Musste ich ja gar nicht, ich hab gemalt, was man sich so erzählt. Es ist einfach ein Teil der Geschichte.«
»Wie, der McBride-Geschichte?«
»Ja. Der Sohn von ihr, der kleine Junge. Weil sie ihn nie gefunden haben, sagen die Leute, dass er unter Wasser lebt und nach jedem greift, der in seine Nähe kommt, und ihn in die Tiefe ziehen will, damit er Gesellschaft hat. Alle Kinder kriegen das zu hören, damit sie ja nicht in der Bucht schwimmen gehen. Manche Leute behaupten sogar, dass er sich Iain geholt hat. Und ich hab ihn eben gezeichnet, wie er Sie holt.« Eine Weile schwieg er nachdenklich, bis er sie voller Neugier ansah. »War da denn wirklich eine Hand?«
»Nein, natürlich nicht, ich habe mich im Tang verheddert und kam zusätzlich nicht gegen die starke Strömung an, das ist alles.« Sie merkte selbst, wie falsch ihr Lachen klang. »Ich habe mich lediglich gewundert, wie du auf die Idee mit der Hand gekommen bist.«
Sie wandte ihm den Rücken zu, um ein paar Scheiben Brot abzuschneiden, spürte indes seine skeptischen Blicke – eindeutig durchschaute er ihre Lüge genauso wie sie die seinen.
»Irgendwann wird es mir passieren, das weiß ich«, sagte er auf einmal wie zu sich selbst, während sie das Brot in den Toaster steckte.
»Was wird dir passieren?«, fragte sie, und eine schreckliche Ahnung ließ sie erschauern.
»Dasselbe wie Iain. Sie werden mich holen. Eines Tages werde ich verschwinden, und niemand wird wissen, warum.« Er klang nicht besonders ängstlich, eher resigniert.
»Wer denn, Robbie? Wer will dir etwas antun? Sind es dieselben Leute, von denen du glaubst, dass sie mit mir Böses im Sinn haben?«
Sie rüttelte ihn an der Schulter, doch er zuckte vor ihr zurück, verschränkte die Arme auf dem Tisch und vergrub das Gesicht darin. Weinte er, oder schlief er? Seufzend strich sie über sein borstiges, kurz geschnittenes Haar und war erleichtert zu sehen, dass es sich nur um eine oberflächliche Wunde handelte. Wahrscheinlich war er in letzter Minute ausgewichen, sodass der Schlag ihn nicht voll getroffen hatte. Trotzdem würde sie ihn zum Arzt bringen, man konnte nie wissen.
Nachdem er noch ein paar Toastbrote verdrückt hatte, führte sie ihn nach oben in eines der Gästezimmer und half ihm, die feuchten Sachen auszuziehen. Es würde nichts bringen, ihn weiter zu bedrängen. Immerhin war es fast Mitternacht. Die Augen fielen ihm zu, kaum dass er sich hingelegt hatte, und gerührt stellte sie fest, dass er im Schlaf, ohne seine misstrauische Miene, wie ein kleiner Junge aussah.
Er tat ihr so unendlich leid, und es zerriss ihr das Herz, dass dieses Kind seit dem Tod der Mutter offenbar keinerlei Liebe mehr erfuhr. In einer Anwandlung mütterlicher Gefühle beugte sie sich hinunter und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Stirn. Gleichzeitig meldeten sich mächtige Schuldgefühle. Was tat sie hier eigentlich? Sie gab diesem fremden Kind den Gutenachtkuss, auf den ihr eigener Sohn vergeblich wartete.
Zoe fasste einen Entschluss: Sie würde nach Hause fahren.
In der Küche fand sie Horace zusammengerollt auf seiner Decke vor dem noch warmen Herd liegen, die Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt und im Traum von Zeit zu Zeit zuckend. Sie nahm sich einen erkalteten Toast und biss eine Ecke ab, obwohl die Scheibe inzwischen eine gummiartige Konsistenz angenommen hatte und sie eigentlich keinen Hunger mehr verspürte. An Schlaf hingegen war ebenfalls nicht zu denken, dazu war sie zu aufgedreht. Ein Teil der geheimnisvollen Vorfälle war jetzt geklärt, der Rest leider noch nicht, und der kam ihr weitaus gefährlicher vor als Robbies Streiche.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie der Junge immer wieder zur Kellertür geblickt hatte, als sie ihn nach Iains Handy gefragt hatte.
Zufall oder nicht, fragte sie sich.
Entschlossen und zugleich beklommen, schloss sie die Tür auf, hinter der eine Treppe in die moderige Dunkelheit des alten Kellers führte. Zoe tastete nach dem Lichtschalter und drückte ihn, aber nichts geschah. Tapfer überwand sie ihren Anfall von Panik und holte sich aus der Küche die Sturmlaterne, um mit ihrer Hilfe sicher die grob behauenen Steinstufen hinabzusteigen, die Laterne in der einen Hand, die andere an die Wand gestützt, um nicht den Halt zu verlieren.
Bei ihrem Rundgang mit Mick hatte sie kaum auf den Keller geachtet, wollte schnell wieder raus aus diesem feuchten, muffigen Dunkel, das ihr wie ein mittelalterliches Verlies vorgekommen war. Jetzt fiel ihr zum ersten Mal auf, dass der Keller älter sein musste als das Gebäude, das Tamhas McBride auf seinen Mauern errichtet hatte. Zwei der Wände waren unmittelbar aus den Klippen gehauen und mit steinernen Säulen verstärkt worden, die inzwischen ziemlich verwittert aussahen. Während das flackernde Licht über die Wände glitt, bemerkte sie ungewöhnliche Zeichen in dem Fels und musste an Charles’ Worte denken, dass das Haus auf den Fundamenten einer Kapelle errichtet wurde, die wiederum erbaut worden war, um eine ursprünglich heidnische Stätte umzuweihen und dem Christentum zuzuführen.
Irgendwie war ihr der Keller nicht geheuer, atmete er doch eine Geschichte, die mit vielen Geburtsfehlern behaftet schien.
Immerhin erkannte sie auf Anhieb, was den höllischen Lärm ausgelöst hatte. Ein hohes Metallregal war umgestoßen worden, auf dem Farbeimer, Baumaterialien und Werkzeug lagen. In der Mitte des Raumes stand der Generator, und an einer Wand hatte Mick Kanister mit Brennstoff gelagert. Der einzige Gegenstand von Interesse war eine große viktorianische Kommode mit einem Spiegelaufsatz – ein schönes Stück, und Zoe verstand nicht, warum man sie im Keller versteckte. Ein aufgeregtes Kribbeln machte sich auf ihrer Haut bemerkbar wie damals, bevor sie Ailsas Tagebuch entdeckte.
Würde sie hier ebenfalls etwas finden?
Zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass Robbie nicht grundlos in diesem Keller gewesen war, sondern etwas gesucht hatte.
Sie hielt die Lampe näher an die Kommode und spähte in alle Schubladen, ohne Erwähnenswertes zu entdecken. Selbst eine sorgfältige Untersuchung der Schubladen, die sie einzeln herausnahm, ergab nichts. Blieb noch die Rückseite, denn die Kommode war ein Stück von der Wand abgerückt worden. Zoe hockte sich auf die Fersen und zerrte sie so weit vor, dass sie sich in die Ecke zwängen konnte. Als sie auf den Boden blickte, entdeckte sie undeutliche, von unzähligen Füßen verwischte Inschriften in archaischen Buchstaben, dazu Ziffern und Keltenkreuze. Offenbar handelte es sich um Grabplatten.
Zoe überlief ein Frösteln angesichts der Erkenntnis, dass sich unter dem Haus die Überreste einer heidnischen Begräbnisstätte zu befinden schienen. So langsam begriff sie, warum die Bewohner der Insel das Haus nicht gerade liebten. Ob das den fauligen Geruch erklärte, fragte sie sich unwillkürlich, obwohl sie wusste, wie unsinnig das war.
Da die Kommode offenbar nichts zu bieten hatte, wollte sie bereits den Rückzug in gemütlichere Gefilde antreten, als ihr auffiel, dass die Steinplatte in der Ecke locker war, wenngleich nicht so locker, um sie mit den Händen herauszuheben. Zwischen den heruntergefallenen Werkzeugen fand sie einen dünnen Schaber, das optimale Werkzeug für ihr Vorhaben. Nicht lange und die Platte gab einen Hohlraum frei, in dem der Wollhandschuh eines Kindes lag. Sie nahm ihn heraus und wunderte sich kaum, als sie darin einen harten, länglichen Gegenstand ertastete und ein zerkratztes Handy in einer orangefarbenen Plastikhülle, mit Star-Wars-Stickern beklebt, zum Vorschein kam.
Mehrere Minuten verharrte sie reglos in der Hocke, zitternd an allen Gliedern vor Aufregung. Es gab für sie keinen Zweifel, dass es sich um Iain Finlays Handy handelte, nach dem die Polizei erfolglos gesucht hatte, und das Robbie hier verborgen hatte, weil er den Keller des Spukhauses vermutlich für den letzten Ort hielt, an dem irgendjemand suchen würde. Offenbar hatte er des Öfteren die Verstecke gewechselt, was sich mit der Beobachtung der Polizei decken würde, dass das Handy jedes Mal, wenn es eingeschaltet wurde, an einer anderen Stelle geortet wurde. Sie war gespannt, was sie darauf entdecken würde – Robbie hatte es sicher nicht ohne Grund versteckt.
Bei diesem Gedanken wurde ihr flau im Magen. Sie erinnerte sich, was Robbie über die geheimnisvollen Leute gesagt hatte, von denen er glaubte, sie würden ihr etwas Schlimmes antun und ihn verschwinden lassen. Wer immer sie waren, die Antwort würde sich auf diesem Handy finden, da war Zoe sich sicher. Ihr Blut rauschte in den Ohren, als sie das Gerät anzuschalten versuchte – natürlich vergeblich, denn der Akku war längst leer.
Nachdenklich drehte sie das Telefon in ihren Händen. Es war ein altes Modell, und ihr eigenes Ladegerät würde nicht passen, also musste sie irgendwo unauffällig eines kaufen oder ausleihen. Und sobald sie gesehen hatte, wovor der Junge solche Angst hatte, würde sie es der Polizei aushändigen. Sie steckte das Telefon in die Tasche ihrer Strickjacke und nahm die Lampe in die Hand.
Im Keller war es unerträglich kalt geworden, fand sie, hinzu kam der unangenehme Geruch, der hier unten noch penetranter zu sein schien als oben. Vielleicht ein Problem mit den Abwasserleitungen. Oder hatte Robbie hier ebenfalls Mäusekadaver versteckt? Während sie noch darüber nachdachte, registrierte sie am Rand ihres Gesichtsfelds eine kleine Bewegung im Spiegel der Kommode, und was sie dann sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren: Am Fuß der Treppe, die in die Küche führte, stand eine Kapuzengestalt.
Obwohl sie inzwischen so einiges gewöhnt war, brachte sie keinen Ton heraus. Das war ja wie in einem Horrorfilm! Ihr Herz raste, sie war unfähig, einen Schritt zu machen, tastete panisch nach dem Amulett an der Silberkette – und als sie es herauszog, meinte sie die seltsame Erscheinung leise lachen zu hören. Inzwischen trat sie ihr aus dem Spiegel deutlich entgegen. Es war der Schatten, den sie für einen Schäfer gehalten hatte – jetzt allerdings erkannte sie, dass es sich um eine Frau handelte. Zwar war ihr Gesicht unter der Kapuze nicht zu erkennen, aber was sie trug, war eindeutig ein altmodisches Damencape, wie es im neunzehnten Jahrhundert beliebt war.
Ich war auf deiner Seite, dachte Zoe, den Blick auf den Spiegel geheftet. Du hast deinen Sohn geliebt, das verstehe ich. Ich wollte dich nur in Schutz nehmen.
Hatte sie etwa die Worte ausgesprochen, fragte sie sich, als sie ein schwaches Lächeln zu sehen meinte, das jedoch ganz und gar nicht beruhigend wirkte. Und das war es auch nicht, denn kurz darauf sagte die Gestalt leise auf Gälisch Zeit zu gehen, und die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Zeit zu gehen. Dann schien die Gestalt einen Schritt auf sie zuzukommen, eine Hand ausgestreckt – unwillkürlich wich Zoe zurück in Richtung der Treppe zur Kohleluke, blieb dabei mit einem Fuß in dem umgestürzten Regal hängen, stolperte, und im Fallen erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf schimmernde blasse Haut und harte dunkle Augen, die sie fixierten, reglos, als wären sie gemalt.
Im nächsten Augenblick fiel die Sturmlaterne, die auf der Kommode gestanden hatte, krachend zu Boden, und sie hörte das Geräusch von zerspringendem Glas, während alles um sie herum schwarz wurde.