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15. Oktober 1869

Was ist aus mir geworden?

Ich war eine angesehene Frau, bevor ER gekommen ist. Angesehen! Was bedeutet ein solches Wort? Es bedeutet einerseits, dass ein Mann sich für mich verbürgt und mir meinen Platz in der Welt garantiert. Andererseits bedeutet es für eine Frau das Leugnen von Appetit, Neugier und Verlangen sowie das Verleugnen des eigenen Körpers. Insgesamt gesehen, bedeutet es zu lernen, weniger zu sein, als man ist, als man zu sein wünscht, um den eigenen Vater, den Ehemann, den Bruder nicht zu beschämen – all jene Männer, deren Ruf so empfindlich ist, dass er durch ein unvorsichtiges Wort oder einen unvorsichtigen Blick der Frau beschmutzt werden könnte.

Wie oft wurde ich ermahnt, mich weniger sichtbar zu machen, von frühester Kindheit an?

»Schling dein Essen nicht hinunter, Ailsa. Öffne nicht die Bücher deines Vaters, Ailsa. Stell nicht so viele Fragen. Sprich englisch, Mädchen, nicht gälisch, es sei denn, du willst einen Fischer heiraten. Lauf nicht an der Küste umher, Ailsa, achte auf deine Röcke! Vergisst du etwa, dass du eine Tochter der Kirche bist?«

Ich durfte nie etwas vergessen.

Es war meine Pflicht, angesehen zu sein. Zunächst als die Tochter eines Geistlichen und später als die Ehefrau eines reichen Mannes. Und jetzt bin ich keines von beidem mehr. Beide sind tot, der brüchige Lack meines Ansehens ist abgeblättert, und ich lebe losgelöst von der Gesellschaft, stehe außerhalb von ihr. Man hat an mir ein Exempel statuiert. Ich bin eine Geächtete, und das nur, weil ER mich aus meinem Schlummer erweckt hat. Und wem ist die Schuld daran zu geben außer meinem ehrenwerten Ehemann, der mich lediglich als Objekt betrachtet hat, mit dem er experimentierte und an dem er seine abartigen Ideen ausprobieren konnte? Was ich dachte und wollte, spielte keine Rolle.

Für den Gewinn von Wissen und Erkenntnis ist eben ein Preis zu bezahlen, das wurde uns als Kindern bereits anhand der Geschichte Evas eingetrichtert, die vom Teufel zum Ungehorsam verführt wurde. Ich hatte immer Mitleid mit ihr, weil sie schwach war – jetzt verstehe ich sie. Denn ich habe ebenfalls einen Pakt geschlossen, der mein Untergang sein wird.

ER hat mich erweckt, und ER wird mich verzehren.

Es hat bereits begonnen, ich spüre, wie ich von innen zerfressen werde. Und wenn meine Kraft nachlässt und ich am Ende bin, was bleibt dann für ein Kind wie meines in einer Welt, die es aufgrund seiner Geburt verurteilt und abgelehnt hat? Wie kann ich meinen allerliebsten Jungen, mein Herzblut, Fleisch von meinem Fleisch, der Grausamkeit und Geringschätzung von Männern oder – unendlich schrecklicher – IHM ausliefern? Und ER wird sich letztendlich nicht abweisen lassen, wird sich nehmen, was ER will. Das habe ich am eigenen Leib erleben müssen, und nun will er meinen Sohn. Es wird zu Ende gebracht werden, auf die eine oder andere Weise.

20. Oktober 1869

Advokat Bonar ist heute Morgen gekommen, um meinen Letzten Willen mit mir zu erörtern. Er besteht darauf, dass seine Ehefrau ihn begleitet, damit er nicht ins Gerede kommt und ihm schließlich der Geruch von Unschicklichkeit anhaftet. Sie bringt immer ihre Näharbeit mit und sitzt mit abweisender Miene in einer Ecke, die Lippen geschürzt und den Blick abgewandt, als würde ein fauliger Gestank sie belästigen oder als könnte sie sich hier eine peinliche Krankheit zuziehen. Es amüsiert mich, sie aufzuziehen, indem ich zu jedem Gesetzespunkt, den ihr Ehemann mir erläutert, ihre Meinung einhole.

»Oh, was halten Sie davon, Mrs Bonar?«, frage ich, während ich mich mit einem breiten Lächeln zu ihr umwende.

»Ich bin sicher, dass ich keine Meinung habe, Mrs McBride«, entgegnet sie. »Das Gesetz ist das Geschäft meines Ehemanns. Ich beschränke mich auf meinen eigenen Bereich.«

Sie weiß, dass ich meinen Spaß mit ihr treibe, doch sie muss mir gegenüber den Anschein der Höflichkeit wahren, weil ich reich und die beste Mandantin ihres Ehemanns bin.

Verrückte, Luder, Hexe, Hure: All das mögen sie mich nennen, und ich bin sicher, auch sie tut es mit Genuss, aber ich bin es, der der Boden unter ihren Füßen gehört, und das zählt letztlich in dieser Welt.

Bonar hat mich erneut zu überreden versucht, alles zu verkaufen und in ein milderes Klima überzusiedeln, meiner Gesundheit zuliebe. Er hat bemerkt, dass ich mit jedem Mal, wenn er mich sieht, blasser und abgespannter wirke. Ich fände keinen Schlaf, habe ich mich rausgeredet, und er schien es dabei zu belassen, doch dann drängte er mich, an meinen Sohn zu denken und zu überlegen, wer für ihn sorgen werde, falls mir etwas zustoßen sollte, Gott behüte. Das waren seine Worte: Gott behüte. Erneut lehnte ich ab. Wir können diesen Ort nicht verlassen – es gibt kein Entkommen vor IHM. Mein Bruder William ist als Vormund meines Kindes benannt. Zum Schein, denn diese Situation wird nicht eintreten. Alle materiellen Güter, die mein Ehemann mir hinterlassen hat, vermache ich William und seinen Erben. Vielleicht zählt das als eine Art Wiedergutmachung.

T. hat sich während ihres Besuchs im Turm versteckt. Mrs Bonar hat sich nach ihm erkundigt und wollte ihn unbedingt sehen. Daraufhin habe ich ihr erklärt, dass er nicht so ist wie andere Kinder und keine andere Gesellschaft als meine erträgt. Soll sie darüber denken, was sie will.

30. Oktober 1869

Ich habe solche Angst. Die Stürme sind wiedergekehrt, und wir finden keinen Frieden, weder Tag noch Nacht. Allerheiligen naht, und es ist, als ob ich auf meine eigene Hinrichtung warte und das Ticken der Uhr mir das Ablaufen meiner Lebenszeit anzeigt. Ich kann nicht beten – zwar versuche ich es, aber die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Törichter Gedanke! Diesen Trost habe ich eingebüßt, als ich mich zum ersten Mal so bereitwillig SEINER Umarmung hingab. Ich habe mein silbernes Kreuz dem Jungen um den Hals gehängt, wenngleich er immer wieder daran zieht und es, wie ich befürchte, abnimmt, sobald er meinen Blicken entzogen ist. Irgendwie muss ich das zu unterbinden suchen. Er hat mit seinen sieben Jahren keinen Sinn für die Gefahr, die ihm droht. Und von welchem Nutzen bin ich, wenn ich meinen Sohn nicht beschützen kann? Ich würde mir mit Freuden selbst die Kehle durchschneiden, wenn ich ihn dadurch retten könnte. Nur weiß ich, dass selbst dieses Opfer nicht ausreichen würde. Wie auch immer. Jedenfalls werde ich nicht zulassen, dass er mir genommen wird – ich werde es nicht zulassen! Er ist alles, was ich habe, und ich bin seine ganze Welt. Beide können und werden wir eine Trennung nicht hinnehmen. Ich werde ihn fester halten als jeden Liebhaber – immerhin ist er die große Leidenschaft meines Lebens, meine einzige beständige Liebe, und ich werde ihn vor allem Bösen beschützen, jetzt und in alle Ewigkeit. Egal, um welchen Preis. Das ganz allein ist meine Pflicht.

Der Tag naht, und ich denke oft an meinen Vater und an die heiligen Schriften, die er mich auswendig lernen ließ.

»Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Derselbige ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm.«

Oder sein Lieblingsspruch, den meine Mutter auf ein Stück Stoff stickte, das stets über unserem Herd hing: »Denn der Sünde Lohn ist der Tod.«

Amen. Es ist Zeit zu gehen. Lass, o Herr, deine Gnade über uns walten.

Zoe, die in der Galerie saß, klappte das Tagebuch zu, als ein Geräusch aus dem Erdgeschoss sie erschreckte. Sie war so vertieft in Ailsas Bekenntnisse gewesen, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Inzwischen schwand draußen bereits das Licht, und die Dämmerung überzog das Meer mit einem blässlichen Schimmer, der an Nebelschwaden erinnerte. Sie stand auf und streckte sich, bald war es an der Zeit, sich für das Abendessen bei Charles fertig zu machen. Wieder glaubte sie von unten ein schwaches Geräusch zu hören. Eine Bodendiele, die knarrte? Ja, das musste es sein, jemand ging im Erdgeschoss auf und ab.

Sei nicht albern, rief sie sich zur Ordnung und schlich zur Treppe, um über das Geländer zu spähen. Als sie nichts mehr hörte, schaltete sie das Licht an und stieg langsam nach unten, hielt auf jeder Stufe inne und lauschte angestrengt.

Vielleicht waren es ja die Rohre, die manchmal beängstigende Geräusche von sich gaben, beruhigte sie sich, und dennoch schlug ihr das Herz bis zum Hals. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Küche, die sie zu ihrer Erleichterung leer vorfand. Prüfend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Nichts schien in Unordnung zu sein. Keine Fußabdrücke auf den Bodenfliesen oder zumindest keine fremden.

Trotzdem wurde Zoe das Gefühl nicht los, dass kurz zuvor jemand in diesem Raum gewesen war – sie glaubte fast spüren zu können, wie sich die Luft noch immer bewegte.

Bestimmt lag es an diesen letzten Tagebucheinträgen, sagte sie sich. Vielleicht war Ailsas Angst ja ansteckend, und der Zwiespalt, in dem sie wegen ihres Sohnes steckte, musste ein Albtraum für jede Mutter sein. Das Grauen schlechthin!

Zoe stützte sich schwer auf eine Stuhllehne und atmete lange und zitternd aus. Ailsas Worte hatten sie bis ins Mark getroffen, hatten ihren schützenden Panzer durchbohrt und ihr Herz mit genau den Schuldgefühlen bombardiert, die sie zu vergessen versucht hatte. Ailsa hatte recht: von welchem Nutzen war eine Mutter, die ihr Kind nicht beschützen konnte? Und was war mit einer Mutter, die ihr Kind zurückgelassen hatte? Sie sollte bei Caleb sein und nicht Tausende Meilen entfernt. Vielleicht war es ja das, was Ailsas Tagebuch ihr aufzeigen sollte. Den Weg nach Hause.

Beklommen steckte sie es in ihre Tasche, um sogleich in Gedanken wieder zu der unglücklichen Frau zurückzukehren, die keinen Ausweg mehr gewusst zu haben schien. Was hatte Ailsa an Allerheiligen getan, nachdem sie ihr Tagebuch zum letzten Mal geschlossen hatte? Würde je die Wahrheit herauskommen?

Ein fernes Geräusch ließ Zoe zusammenzucken. Eine Tür, die vom Wind zugeschlagen wurde. Bestimmt bildete sie sich das bloß ein. Wie Ailsa, bei der sich ebenfalls die Wahrnehmung verschoben hatte. Arme Frau.

Zeit zu gehen, dachte sie nach einem Blick auf die Uhr.