15

Eine Stunde später, geduscht und in frischen Kleidern, fuhr sie durch die Moorlandschaft wieder in den Ort, in ihrer Handtasche das inzwischen in ein sauberes Tuch gewickelte Vorhängeschloss. Wie so häufig war das Wetter mal wieder binnen kurzer Zeit umgeschlagen, und der inzwischen düstere Himmel kündigte Regen an.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, auf direktem Weg zum Pub zu fahren, um sich Mick vorzuknöpfen, aber als sie an der Buchhandlung vorbeikam und sah, dass die Läden noch immer heruntergelassen waren, bekam sie es mit der Angst zu tun. Es schien ihr höchst unwahrscheinlich, dass Charles grundlos einen Tag freimachte, und sie fragte sich, ob das irgendetwas mit Ailsas Tagebuch zu tun hatte. Kurz entschlossen stellte sie das Auto am Dorfanger ab und beschloss, ihn zu Hause aufzusuchen. Allerdings nicht, ohne vorher in der Bäckerei zwei Schokoladencroissants zu kaufen. Dann sah es mehr nach einem freundschaftlichen Besuch aus, und sie stand nicht ganz so blöd da, wenn bei ihm alles in bester Ordnung war.

Sie nahm die Abkürzung über den Friedhof.

Das eiserne Tor war verrostet, das Pflaster auf dem Weg zwischen den Grabreihen hatte sich im Laufe der Jahre verworfen, und zwischen den Steinen wucherte Moos. Der Wind fegte ungehindert durch die wenigen einsamen Bäume. Zwei Eiben am Eingang, vier Fichten entlang des Weges, das war alles. Bröckelnde Grabsteine und schiefe Keltenkreuze wiesen darauf hin, dass es sich um eine sehr alte Begräbnisstätte handelte. Die Grenzmauer war von Efeu überwuchert, unter dem sich Gedenktafeln verbargen, deren Inschriften kaum mehr zu entziffern waren. Die Kirche selbst, ein unscheinbarer Bau aus dunklem Stein mit einem steilen Giebeldach, duckte sich in der äußersten Ecke, die dahinter aufragenden Hügel ließen sie noch kleiner erscheinen. Der Friedhof war eine einzige Sinfonie in Grün und Grau: Hügel, Gras, Gräber, Bäume, Himmel. Andere Farben kamen nicht vor.

Dachte sie, doch plötzlich blitzte etwas Rotes am Rande ihres Gesichtsfelds auf. Es war ein Junge, der im Schneidersitz auf einem der Grabsteine im Windschatten der Mauer hockte und auf einem Handy herumdrückte, die Kapuze seines roten Sweatshirts weit ins Gesicht gezogen. Als sie nahe genug heran war, erkannte sie Robbie Logan. Einem Impuls folgend, ging sie durch das stachelige Gras, das zwischen den Gräbern wuchs, auf ihn zu. Gehetzt blickte der Junge nach links und rechts, als würde er seine Fluchtmöglichkeiten abschätzen. Trotz der Kapuze bemerkte sie einen Striemen auf seiner Wange und eine Prellung, die aufgeplatzt war.

»Hallo.« Sie blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen.

»Hey.« Er hob den Kopf nicht, sah sie nicht an.

»Was tust du denn hier draußen?«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, entdeckte sie den Grund. Brigid Logan, innig geliebte Ehefrau und Mutter, stand auf dem Grabstein. Laut der ebenfalls angegebenen Lebensdaten war sie vor drei Jahren gestorben. In einem Marmeladenglas steckte ein kleiner, struppiger Strauß Wildblumen. »Entschuldige, war eine dumme Frage. Es ist das Grab deiner Mum, nicht wahr?«

Der Junge nickte, sein Atem verfestigte sich in der kalten Luft zu kleinen weißen Wolken.

»Ach Gott, sie war ja noch so jung. Erst sechsunddreißig. War sie krank?«

»Krebs. Ist nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen«, gab er tonlos Auskunft.

»Das tut mir leid. Kommst du hierher, um mit ihr zu reden?«

Robbie sah sichtlich verblüfft zu ihr hoch. »Und wenn?«

»Daran ist nichts falsch.«

Er senkte den Blick. »Meine Schwester sagt, es ist verrückt.«

»Mit jemandem zu reden, den du liebst und vermisst? Nein, das ist das Normalste auf der Welt. Es wäre verrückt, wenn du es nicht tun würdest.«

Er biss sich auf die Lippe, dachte darüber nach, war sich wohl nicht sicher, ob er dieser Fremden trauen konnte.

»Meinen Sie, sie können uns hören? Die Toten?«

Zoe ließ den Blick über die Reihen der Gräber schweifen. Sie konnte seinem Ton nicht entnehmen, ob er sie auf den Arm nahm oder irgendwie auf das Haus anspielte oder ob die Frage tatsächlich so gemeint war, wie es sich anhörte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Glaub mir, ich würde es selbst gern wissen.« Sie hielt inne und sah ihn an. »Was ist denn mit deiner Wange passiert?«

Er hob die Hand und berührte die Prellung vorsichtig mit einer Fingerspitze.

»Hab mich am Klettergerüst angestoßen«, murmelte er mit verschlossener Miene.

»Du solltest etwas Eis darauflegen, damit es nicht so wehtut.«

Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen, dass es keine große Sache sei, aber die Art, wie er ihrem Blick auswich, verriet ihr, dass er log. Zoe begriff, dass er geschlagen worden war und gelernt hatte, nicht darüber zu sprechen. Sie fragte sich, ob Edward davon wusste. Sie sollte es ihm sagen, immerhin trug er eine gewisse Verantwortung für seine Schüler. Robbie war vielleicht kein besonders einnehmendes Kind, doch er war erst elf, und vieles wies darauf hin, dass das Leben ihm bereits ziemlich übel mitgespielt hatte. Sie hielt ihm die Tüte mit den Croissants hin.

»Willst du eines?«

Obwohl er zunächst zögerte, war seine Lust auf Süßes stärker als seine Angst, in eine Falle gelockt zu werden, und er griff nach einem Gebäckstück.

»Du wolltest mir neulich eine Frage stellen, bevor wir unterbrochen wurden.« Zoe hockte sich neben ihm auf die Kante des Grabsteins und nahm sich das andere Croissant. »Nach dem Haus.«

Prompt wirkte Robbie schuldbewusst. »Nur ob Sie dort draußen irgendwas Seltsames gehört haben.«

»Wie, Geister oder so? Dafür ist es berühmt«, sagte sie in einem scherzhaften Ton.

Der Junge zuckte die Schultern und schwieg, richtete den Blick auf einen Raben, der sie von der Mauer aus beobachtete und es vielleicht auf ein Stück Croissant abgesehen hatte.

»Ich glaube nicht an Geister«, ergriff Zoe erneut das Wort.

Jetzt sah er sie fast empört an.

»Eben haben Sie behauptet, dass es normal ist, mit den Toten zu reden«, gab er zurück, als hätte er sie bei einer Lüge ertappt. »Dann müssen Sie ja irgendwie glauben, dass sie noch immer da sind. Als Geister, anders geht es schließlich nicht.«

Da hatte sie sich ganz schön in die Bredouille geritten, dachte Zoe und überlegte, wie sie das wieder zurechtrücken könnte. Natürlich wollte und durfte sie ihm den bescheidenen Trost, dass seine Mutter ihn hören konnte, nicht rauben.

»Das ist nicht so einfach zu erklären. Was ich meinte, ist Folgendes: Wir versuchen die Erinnerung an einen Menschen, der uns viel bedeutet hat, dadurch wachzuhalten, indem wir mit ihm reden.« Sie hielt einen Moment inne und stellte fest, dass er sie nach wie vor vorwurfsvoll ansah. »Und dadurch ist dieser Mensch für uns noch da. Beziehungsweise sein Geist. Natürlich anders als die Geister aus den Gruselgeschichten. Als ich hierherkam, war mir so etwas völlig fremd. Die Leute hier denken offenbar anders, sie wollen mich überzeugen, dass ich Angst vor dem McBride-Haus haben muss.«

»Es ist ein schlimmer Ort«, meinte er und kniff seine kleinen Augen zusammen. »Das Haus ist verflucht. Sie hätten nicht herkommen sollen.«

»Sagst du das wegen deines Freundes?«

Hastig rutschte er vom Grabstein, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und klopfte die Krümel von seinem Shirt.

»Ich muss los«, erklärte er unvermittelt, ohne ihre Frage zu beantworten.

»Warte, Robbie.« Sie hielt ihn am Ärmel fest. »Falls du etwas über das Haus weißt, wäre es nett, wenn du es mir verraten würdest. Ich habe nämlich den Eindruck, dass du mehr darüber weißt als Mick, richtig?«

Er riss seinen Arm weg. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Dort passieren schlimme Dinge. Sie sollten nach Hause fahren, solange Sie es noch können.«

Der Junge hatte erbärmliche Angst, erkannte sie, war kurz davor, panisch zu werden. Er musste Schreckliches erlebt haben. Was hatte er gesehen und gehört – oder vielleicht sogar getan?

»Was meinst du mit schlimmen Dingen? Bin ich in Gefahr?«

Er entfernte sich bereits, aber sie eilte ihm nach und versperrte ihm den Weg, sodass er gezwungen war, stehen zu bleiben.

»Was ist mit Iain passiert? War es irgendetwas, das er gesehen hat? Ich weiß, dass du es weißt.«

Sie hörte die Aggression in ihrer Stimme, sah, wie seine Lippen bebten.

»Lassen Sie mich gehen. Ich muss nach Hause.«

Zoe trat einen Schritt zurück. »Solltest du jetzt nicht in der Schule sein?«

Sie hatte genau das Falsche gesagt, denn seine Miene verfinsterte sich.

»Was werden Sie tun? Es Ihrem Freund sagen, dass ich geschwänzt habe?« Triumphierend schaute er sie an, weil er einen wunden Punkt berührt hatte. »Er wird sich einen Scheiß drum scheren – er hat nämlich Angst vor meinem Dad.«

»Was redest du da für einen Unsinn? Mr Sinclair ist ein guter Freund – nicht so ein Freund, wie du zu glauben scheinst.«

Sie merkte, dass sie den Draht zu ihm verloren hatte. Robbie war wieder der aggressive, großmäulige Junge, den niemand mochte, einschließlich ihrer Person. Mit tückischer Miene schaute er sie an und holte zum nächsten Schlag aus.

»Da erzählen die Leute hier was ganz anderes. Und meine Schwester weiß, dass er draußen bei Ihnen schläft.«

Zoe verschlug es die Sprache, und zudem ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie sich von einem solchen Rotzlöffel dermaßen aushebeln ließ. Leider hatte Robbie noch mehr in petto.

»Außerdem sagt sie, dass Sie keine Zeit verlieren. Nicht mal ne Woche sind Sie hier und haben sich den Lehrer gekrallt. Sie müssen eine verzweifelte alte Schlampe sein, sagt sie.«

Hass und Häme standen ihm ins Gesicht geschrieben, und in diesem Moment hatten seine Züge eine unheimliche Ähnlichkeit mit Annag. Und die Worte hatte sie ihm vermutlich ebenfalls eingeflüstert. Sie resultierten aus dem Neid der Zukurzgekommenen. Trotzdem war Zoe schockiert, eine solche Hasstirade von einem Kind zu hören.

»Es ist abscheulich, so etwas zu sagen, Robbie«, rief sie ihm nach, als er schon auf dem Absatz kehrtgemacht hatte.

Während sie sich ebenfalls anschickte, den Friedhof zu verlassen, wo ihr ein unerzogener Junge eine schwere moralische Niederlage bereitet hatte, dachte sie voll kleinlicher, rachsüchtiger Reue daran, dass sie diesem Flegel auch noch ein Croissant geschenkt hatte.

Auf ihr wiederholtes Klopfen an der Tür des alten Pfarrhauses erfolgte keine Reaktion, und das Esszimmer, in das sie daraufhin spähte, war leer. Sie überlegte gerade, was sie jetzt tun sollte, als ihr Micks Spruch einfiel, dass es nicht üblich sei auf der Insel, die Türen abzusperren.

Wenngleich es ihr als Verletzung der Privatsphäre vorkam, beschloss sie, es zu versuchen. Es funktionierte, und die Tür schwang einladend auf. Zögernd rief sie von der Diele aus Charles’ Namen. Keine Antwort, nur ein trauriges Winseln war zu hören. Langsam stieg sie die ausgetretenen Stufen nach oben und fand Horace auf dem Treppenabsatz, die graue Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt, den Blick auf eine geschlossene Tür gerichtet. Er hob den Kopf ein klein wenig, als sie sich näherte, schlug einmal kurz mit dem Schwanz auf den Teppich und stieß ein klagendes Jaulen aus, bevor er den Blick wieder zur Tür wandte – eindeutig wollte er ihre Aufmerksamkeit dorthin lenken. Sie bückte sich und kraulte dem Hund das Fell.

»Braver Junge. Ist er dort drin?« Sie zwang sich zu einem munteren Ton, um ihrer Angst entgegenzuwirken, die zunehmend stärker wurde. Warum antwortete Charles nicht? So langsam wurde zur Gewissheit, was bislang lediglich eine vage Ahnung gewesen war: Etwas war passiert, und es stand zu befürchten, dass es mit Ailsas Tagebuch zusammenhing. Sie nahm allen Mut zusammen, wappnete sich für das Schlimmste, klopfte pro forma an und öffnete gleichzeitig die Tür zu Charles’ Arbeitszimmer, wie sie erkannte. Er selbst war am Schreibtisch zusammengebrochen.

Sein Kopf ruhte auf seinen Armen, die angewinkelt auf der Mahagoniplatte lagen. Er sah aus, als würde er schlafen, wirkte jedoch unnatürlich still und reglos. Horace war ihr ins Zimmer gefolgt und stieß hin und wieder ein trauriges Winseln aus. Zoe durchquerte das lang gestreckte Zimmer, in dem sich rundum deckenhohe Bücherregale aneinanderreihten, und legte zwei Finger an Charles’ Hals, um nach dem Puls zu tasten. Sie war nicht sicher, ob da etwas war, seine Haut jedenfalls fühlte sich eiskalt an.

Auf jeden Fall musste sie Hilfe holen, einen Arzt rufen, falls es auf der Insel überhaupt einen gab. Hektisch kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy, um am Ende festzustellen, dass sie es nicht dabeihatte. In einer Gegend mit so schlechtem Empfang schleppte man es nicht dauernd mit sich herum. Wie gelähmt stand sie da, wusste nicht, was sie tun sollte. Losrennen, um ein Telefon zu suchen, oder lieber bei Charles bleiben?

Allerdings vermochte sie im Moment gar nichts zu tun, denn eine Schockstarre hinderte sie daran. Ausgelöst von dem jähen Gefühl, beobachtet zu werden. Am helllichten Tag, fernab von dem Spukhaus.

Ihr Blick irrte im Raum herum, suchte nach dem Grund für diesen Kontrollverlust, der sie handlungsunfähig machte. Und dann entdeckte sie es. Vom Schreibtisch starrten ihr dunkle, unergründliche Augen entgegen, die sie einzusaugen schienen. Sie gehörten Ailsa McBride und gingen von einer alten sepiafarbenen Fotografie aus, die unter Charles’ rechter Hand lag. Mit der linken hielt er das Tagebuch fest.

Vorsichtig zog Zoe das Bild hervor und betrachtete es. Dieses Porträt war eindeutig ein paar Jahre später aufgenommen worden als jenes, das sie kannte. Ailsa saß hier zurückgelehnt auf einem Sofa, die Hände über dem Mieder ihres schwarzen Kleides verschränkt, um den Hals das silberne Keltenkreuz. Ihr Gesicht war gewohnt streng, die Haare trug sie straff zurückgebunden. Ihre Augen hingegen blickten anders und veränderten ihre Erscheinung auf eine verwirrende Art, ohne dass sie sich erklären konnte, inwiefern.

Sie war noch dabei, das Foto eingehend zu betrachten, als Charles unvermittelt den Kopf hob.

»Ist sie noch da?«, stieß er heftig hervor und sah sich mit wildem Blick um.

»Mein Gott, wie geht es Ihnen?«

Zoe fand ihre Fassung wieder und legte ihm eine Hand auf den Arm. So wie sie ihn gerade erlebte, wirkte er Jahrzehnte älter und viel gebrechlicher als am gestrigen Abend.

»Zoe?« Er blinzelte, streckte eine Hand nach ihrer aus und legte sie darüber. Seine Haut war eiskalt und dünn wie Pergament. »Wie spät ist es?«

Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Kurz nach halb drei.«

»Nachmittags?«

Sie nickte, beobachtete ihn aufmerksam, während er zitternd ausatmete, sich die Haare glatt strich und seine Brille aufsetzte, das alles mit verwirrter Miene.

»Sie haben mir eben einen Mordsschrecken eingejagt. Ich dachte …« Sie entschied, es lieber nicht auszusprechen. »Für wen haben Sie mich eigentlich gehalten? Wen haben Sie gemeint, als Sie fragten: Ist sie noch da?«

»Oh.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und sah sich sichtlich erleichtert im Zimmer um, schien allmählich wieder er selbst zu werden. »Die Frau, die für mich putzt. Sie kommt immer dienstags. Ich dachte, Sie wären es.«

»Heute ist Montag.« Zoe war klar, dass er nicht die Wahrheit sagte, bedrängte ihn aber nicht. »Ich habe heute Morgen gesehen, dass der Rollladen heruntergelassen war. Deshalb bin ich vorbeigekommen, um zu hören, wie es mit dem Tagebuch vorangeht.« Sie wies mit einer Handbewegung auf den Schreibtisch. »Ich wollte nicht einfach hereinplatzen … Doch Sie haben nicht reagiert, und da habe ich mir Sorgen gemacht – die Tür war nicht abgeschlossen.«

»Das ist sie nie. Das tun die Leute hier alle nicht.«

»Mag sein. Bloß hätte Gott weiß wer hereinspazieren können«, hielt sie ihm mit vorwurfsvollem Unterton vor.

Der Professor lachte. »Abgeschlossene Türen sind nicht unbedingt ein Schutz vor ungebetenen Gästen, wie Sie selbst sehr wohl wissen.«

Bevor sie ihn fragen konnte, was er damit meinte, stemmte er sich aus seinem Sessel hoch und lockerte seine steif gewordenen Schultern. Er trug noch dieselbe Kleidung wie beim Abendessen: Tweedjacke, Cordhose und Pullover.

»Höchste Zeit, Wasser aufzusetzen. Offenbar habe ich das Frühstück und das Mittagessen verpasst. Wollen wir zur Entschädigung etwas Toast essen? Und der arme Hund muss am Verhungern sein. Er wird mich dafür bestrafen, passen Sie auf.«

Als Zoe Charles nach unten folgte, bemerkte sie etwas, das sie zuvor lediglich am Rande registriert hatte: Horace blieb auf Distanz zu seinem Herrchen, als wäre mit Charles irgendetwas anders als sonst. Ihr fiel ein, dass man Hunden nachsagte, dass sie chemische Veränderungen im Körper eines Menschen wahrnehmen konnten und darauf entsprechend reagierten.

»Ich habe beinahe gedacht, Sie seien tot«, kam ihr unvermittelt und gegen ihren Willen über die Lippen.

»Du liebe Güte.« Er bedachte sie mit einem entschuldigenden Lächeln, bevor er sich daranmachte, den Napf des Hundes zu füllen und Wasser aufzusetzen. »Nein, darum müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich hatte eine schlimme Nacht, das ist alles.«

»Mit dem Tagebuch?«

»Es ist eine verstörende Lektüre, das muss ich Ihnen ja nicht sagen. Allerdings gibt es Dinge …« Er brach ab und wandte sich zu ihr um. »Ich bin froh, dass Sie hier sind. Ich muss Sie etwas fragen. Sagten Sie nicht, Sie hätten dieselben Visionen wie Ailsa erlebt, noch bevor Sie ihre Schilderungen gelesen hatten?«

Sie spürte, wie sie errötete. »Ich würde sie lieber Träume nennen, aber ja, im Grunde schon.«

»Auch physische Erscheinungen?«

»Ich schlafwandle. Und wenn ich aufwache, finde ich mich in einem anderen Zimmer wieder. Und da ist noch etwas …« Sie zögerte, senkte den Blick zu Boden. »Nach der ersten Nacht, als ich blaue Flecken an mir entdeckte, dachte ich, sie würden von der Reise stammen, nur bin ich nicht sicher …«

Charles sah sie nachdenklich an, den Kopf zur Seite geneigt. In seiner Miene entdeckte sie nichts von peinlicher Neugier, nein, er wirkte vielmehr besorgt.

»Hören Sie in diesen Träumen Stimmen?«

»Manchmal höre ich einen Mann, der zu mir spricht. Richtiger, der in meine Gedanken spricht. Ich weiß, das klingt nicht sehr logisch«, fügte sie leise hinzu.

»Was sagt er?«

Röte stieg ihr bei dieser Frage ins Gesicht. »Dieselben Dinge, die Ailsa schildert.«

Er nickte, als hätte er nichts anderes zu hören erwartet, und begann nebenbei, Teeblätter in eine riesige, blau glasierte Kanne zu löffeln. Dann bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, am Küchentisch Platz zu nehmen.

»Diese Zeichnungen im Tagebuch …«, fuhr Zoe zögernd fort. »Ich habe diese Bilder in meinen Träumen gesehen und sie in mein Skizzenbuch gezeichnet, noch bevor ich von den Aufzeichnungen überhaupt wusste. Ein seltsames Déjà-vu, finden Sie nicht? Wenngleich ich es nicht wahrhaben will, es ist da. Immer wieder, ohne dass ich es mir erklären kann.«

»Und Sie haben ebenfalls andere Phänomene im Haus wahrgenommen, sagten Sie?«

»Die Stimme einer Frau, die dieses Lied über ihren ertrunkenen Verlobten singt. Ich bilde mir immer wieder ein, es zu hören – aus verschiedenen Zimmern und einmal aus dem Telefon.« Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt schwer geistesgestört, wenn man es laut ausspricht. Ach ja, außerdem ist jemand ins Haus eingebrochen und hat versucht, mir Angst zu machen – das ist eine Tatsache. Ansonsten bin ich mir nicht mehr sicher, was Wahrheit und was Einbildung ist …« Sie brach ab, hielt sich die Hände an die Schläfen. »Ich bin ziemlich erschöpft, wissen Sie, seelisch wie körperlich. Seit Langem. Schlafe schlecht, all diese Sachen. Früher habe ich Tabletten genommen … Egal, inzwischen geht es mir besser, und ich fühle mich klarer im Kopf. Dachte ich jedenfalls. Deshalb verstehe ich nicht, warum ausgerechnet jetzt …«

»Haben Sie etwas Ähnliches bereits früher erlebt?«

»Nein«, erwiderte sie viel zu schnell und korrigierte sich sogleich. »Na ja, eigentlich doch, vor Jahren, nachdem …« Erneut war sie drauf und dran, einen Rückzieher zu machen, bis ihr klar wurde, wie albern das war, nachdem Mick und Kaye von Caleb wussten. »Ich hatte eine schwere Depression, nachdem mein Sohn zur Welt gekommen war. Die Ärzte sprachen von einer postnatalen Psychose. Damals habe ich Stimmen gehört, die entsetzliche Dinge sagten. Habe mir alles Mögliche eingebildet – eine Zeit lang war ich sogar im Krankenhaus. Das ist inzwischen zehn Jahre her, und ich dachte, es ginge mir gut.«

Der Wasserkessel begann zu pfeifen, und Charles goss den Tee auf.

»Als ich das Tagebuch las«, begann Charles leise, »habe ich mich gefragt, ob Ailsa Ähnliches erlebt hat. Damals wusste man um solche Krankheiten natürlich nicht. Vielleicht dachte sie, dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren, oder dass es an den Séancen ihres Ehemanns lag.«

»Aber das kann es nicht allein gewesen sein, denn am Ende des Tagebuchs war ihr Sohn sieben und ihr Ehemann längst tot.« Zoe zupfte an ihren Haarspitzen. »So lange dauert eine postnatale Psychose nicht an. Außerdem erklärt das nicht, wieso wir beide dieselben Träume hatten.«

»Dann müssen wir die andere mögliche Erklärung in Betracht ziehen«, erwiderte Charles behutsam und stellte ihr einen Becher Tee hin.

»Sie meinen damit, dass es in dem Haus tatsächlich spukt«, stellte Zoe fest und legte die Hände um ihren Becher.

»Ich denke, dass Tamhas McBride, wissentlich oder unwissentlich, eine Kraft entfesselt hat, deren übersinnlicher Einfluss bis heute anhält.«

»Ist das nicht eine akademische Art zu sagen, dass er einen Dämon heraufbeschworen hat.«

Statt einer Antwort wiegte er den Kopf hin und her.

»Sie glauben das wirklich?«, hakte sie unglücklich nach.

Letztlich brachte Charles damit zum Ausdruck, dass er nicht an eine logische Erklärung glaubte. Falls er recht hatte, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder sie war dabei, den Verstand zu verlieren, oder im Haus trieben sich Geister der Vergangenheit herum.

»Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die Geschichte okkulter und esoterischer Anschauungen zu studieren«, ergriff Charles wieder das Wort, »und bin zu dem Schluss gekommen, dass gewisse Erfahrungen uns empfänglicher machen können für übernatürliche Einflüsse. Traumata, Verlust, Verzweiflung. Denken Sie darüber nach – bei Ailsa könnten die plötzliche Witwenschaft, die unerwartete Schwangerschaft und die daraus resultierende soziale Isolation die Auslösefaktoren gewesen sein. All das dürfte sie in psychologischer Hinsicht extrem verletzlich gemacht haben.«

»Sagten Sie nicht, dass sie, Tamhas’ Briefen zufolge, von seinen Experimenten beeinflusst war, das wäre schon zu seinen Lebzeiten gewesen.«

»Stimmt. Möglicherweise war sie von Natur aus empfänglich für so etwas.«

»Sie meinen instabil«, fragte sie mit erkennbarem Widerwillen. »Ein schwacher Charakter?«

Nein, diese Erklärung gefiel ihr nicht. Zu sehr hatte sie sich auf die Idee versteift, dass Ailsa eine starke Frau gewesen war, unabhängig, unbeugsam und unbequem. Eine Frau, die wegen dieser Charaktereigenschaften von ihren Zeitgenossen ausgegrenzt, gemieden und verleumdet worden war. Zoe wünschte sie vor der ganzen Welt zu rehabilitieren, ihr posthum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sie hatte zu viel Gefallen an der Theorie von der alle Konventionen missachtenden Frau gefunden, die zum Opfer der Gesellschaft wurde, um sie zugunsten eines völlig konträren Bildes über Bord zu werfen, das Ailsa als psychisch labil und damit anfällig für Wahnvorstellungen darstellte.

Aber was, wenn sich Letzteres bei einer genaueren Auswertung des Tagebuchs bewahrheiten sollte? Wenn Ailsa tatsächlich den Verstand verloren und ihr Kind getötet hatte? Zoe musste einräumen, dass sich das Tagebuch, vor allem zum Ende hin, wie das Produkt eines aus dem Lot geratenen Verstands las. Und wenn Ailsa verrückt gewesen war, dann musste Zoe es als ihr verspätetes Alter Ego, das ihre Träume und Fantasien wiederholte, ebenfalls sein.

Dr Schlesingers verbrämende Worte fielen ihr ein. Sie redete von Stimmungsschwankungen und wenig hilfreichen kognitiven Mustern. Wie auch immer man es bezeichnete – es waren Versuche, ihr einzureden, dass ihr Verstand nicht sicher verankert war und man ihrem Urteilsvermögen nicht trauen konnte. Charles war zu taktvoll, um es offen auszusprechen, doch er zog unweigerlich eine Parallele zwischen ihrer und Ailsas Erfahrung.

»Ich sehe, Sie haben die Fotografie gefunden.« Er nickte zu dem Porträt hin, das sie auf den Tisch gelegt hatte. »Haben Sie herausgefunden, was so seltsam daran ist?«

»Ihre Augen.« Zoe nahm es in die Hand, war dankbar für den Themawechsel.

»Sehr gut beobachtet. Sie wurden nachträglich aufgemalt – sehen Sie es? Das war bei viktorianischen Totenporträts üblich.«

»Augenblick mal, sie ist auf diesem Bild tot?« Entsetzt zuckte sie zurück. »Das ist ja gruselig. Sitzt in einem Stuhl und ist tot!«

»In viktorianischer Zeit war das fast ein Ritus. Makaber für uns, nicht so für die Menschen damals. Sie betrachteten es als Ehrung, als Ausdruck ihrer Wertschätzung. Im Allgemeinen wurde ein solches Porträt von der Familie in Auftrag gegeben, in diesem Fall hat Bonar sich darum gekümmert und es sogar selbst aufgenommen, er war neben seiner Anwaltstätigkeit ein begeisterter Hobbyfotograf.«

»Immer wieder dieser Bonar, überall taucht er auf.«

»Er hat einen Abzug an William geschickt und es darüber hinaus still und heimlich einem befreundeten Arzt vom Festland zugesteckt, der die Leichenschau vorgenommen hatte. Er gelangte später in wissenschaftlichen Zeitschriften zu einer gewissen Berühmtheit.«

»Warum?«

»Sehen Sie sich das Foto an. Was fällt Ihnen auf?«

Zoe hielt das Bild ins Licht. »Abgesehen von den Augen nichts Besonderes. Warten Sie, es ist sehr scharf.«

»Das liegt an der langen Belichtung. Die meisten Porträts aus dieser Zeit sind leicht verschwommen, weil lebende Objekte sich immer ein klein wenig bewegen. Die Toten hingegen halten zwangsläufig still. Wo lebende Angehörige zusammen mit einem Leichnam posieren, erscheint der Tote auf der Fotografie weitaus deutlicher als die Personen um ihn herum, ein unheimlicher Effekt. Aber das ist es nicht, was hier so bemerkenswert erscheint.«

»Sie sieht irgendwie ganz normal aus.«

»Genau. Erinnern Sie sich, sie wurde drei Tage vermisst, bevor ihre Leiche an der Küste angespült wurde. Angeblich. Haben Sie je einen Ertrunkenen gesehen?«

»Gott, nein.«

»Nun, ich kann Ihnen versichern, sie sehen nicht so entspannt aus wie Ailsa auf dem Bild hier. Und jeder in dieser Gemeinde dürfte vertraut mit dem Zustand einer Leiche gewesen sein, die drei Tage im Meer getrieben ist. Sie können sich vorstellen – dieser außergewöhnliche Erhaltungszustand hat die Gerüchte um einen übernatürlichen Einfluss erst recht angeheizt.«

Zoe starrte stirnrunzelnd auf das Bild.

»Würde das nicht eher die These untermauern, dass sie ermordet wurde und gar nicht ertrunken ist? Jemand muss ihren Leichnam versteckt und so am Strand abgelegt haben, dass alle glaubten, sie sei angespült worden. Und die Gerichtsmedizin war damals noch nicht so weit, irgendetwas anderes beweisen zu können.«

»Es wird Sie nicht wundern zu hören, dass diese Ermittlungsrichtung nicht verfolgt wurde«, sagte Charles, bevor er sich erhob und einen halben Laib Brot aus der Speisekammer holte, zwei dicke Scheiben davon abschnitt und sie zum Toasten in einem Drahtgestell auf den Herd legte. »Und Bonars Arztfreund verwandte viel Energie darauf, jeden anderen Untersuchungsansatz zu verhindern. Er wollte beweisen, dass ein Leichnam unter gewissen Umständen durchaus in Salzwasser konserviert werden könne. Bewusste Täuschung, um groß mit der Geschichte rauszukommen? Möglich. Jedenfalls war er auch derjenige, der den Tod durch Ertrinken festgestellt hatte – der hiesige Doktor war gerade verhindert.«

»Sehr praktisch, bloß welches Interesse hatte Bonar an einer solchen Verdrehung der Tatsachen?« Sie warf das Foto auf den Tisch. »Er bringt seinen Kumpel dazu, eine Todesursache zu bestätigen, die dem Zustand der Leiche nach gar nicht richtig sein konnte. Wieso hat das niemand hinterfragt?«

»Das ist einfach erklärt. Lediglich wenige Leute besaßen damals eine Schulbildung, die diesen Namen verdiente. Deshalb wurde die Autorität von Ärzten und Anwälten nicht angezweifelt, zumindest nicht laut.«

»Sie meinen, man akzeptierte lieber das Unmögliche und deutete es als Hexenwerk, als dass man die Diagnose eines gelehrten Quacksalbers anzweifelte.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und welche Rolle spielte Bonar? Bestimmt haben Sie entsprechende Nachforschungen angestellt.«

»Natürlich.« Der Geruch von Toast begann die Luft zu erfüllen. »Leider gab es da nicht viel zu entdecken. Er verließ die Insel mit seiner Frau und seinen vier Kindern kurz nach Ailsas Tod, noch bevor ihr Nachlass abgewickelt wurde. William Drummond teilte er mit, er habe eine Stellung in Kanada angenommen und könne die Familie daher nicht länger vertreten.«

»Das ist aber eine verdammt weite Flucht. Kommt fast einem Geständnis gleich.«

»So könnte man es sehen.« Charles nahm das Drahtgestell von der Herdplatte, warf den Toast auf einen Teller und steckte die nächsten beiden Scheiben hinein. »Natürlich ließe sich ebenfalls folgende Interpretation denken: Er war so bestürzt über den Tod von Ailsa und ihrem Sohn, dass er sich außerstande fühlte, länger hierzubleiben.«

»Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«

»Es ist lediglich eine Mutmaßung. Genau wie Ihre Theorie. Der Knackpunkt ist, dass wir nicht den Funken eines Beweises haben, dass Richard Bonar der Vater von Ailsas Kind war. Er galt als absolut rechtschaffener Mann, als Stütze der Gemeinde und als fürsorglicher Ehemann und Vater.«

»So jemand hätte am meisten zu verlieren und das stärkste Motiv gehabt, die Wahrheit zu verschleiern. Oder sehe ich das falsch?«

Charles musterte sie nachsichtig. »Sie haben sich wirklich auf Bonar eingeschossen, stimmt’s? Und dabei schaffen Sie es sogar, seine Unbescholtenheit gegen ihn zu verwenden. Im Übrigen ist er nie nach Kanada gekommen. Er verstarb während der Überfahrt an einer Lungenentzündung, kein Jahr nach Ailsas Tod. Sie hat ihm in ihrem Testament übrigens eine gewisse Summe hinterlassen, die dann an seine Frau fiel.«

»Das heißt …« Zoe zählte die Punkte an den Fingern ab. »Er ist der einzige Mann, der sie je zu Gesicht bekam; er wusste, dass sie ihm Geld hinterlassen würde; er verschwand, kaum dass sie gestorben war; er brachte seinen Freund dazu, Tod durch Ertrinken festzustellen, und zwar allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz – halten Sie ihn etwa noch immer für unschuldig?« Sie verzog den Mund. »Okay, sagen wir, er ist es. Dann müssen Sie wenigstens irgendeine andere Idee haben, wer der Liebhaber gewesen sein könnte? Haben Sie im Tagebuch einen brauchbaren Hinweis gefunden?«

»Aha.« Er klatschte ein Stück gelbe Butter auf den Toast und schob ihr den Teller über den Tisch zu. »Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Sherlock Holmes«, ergänzte er.

»Okay. Jetzt sind wir wieder beim Inkubus angelangt, oder? Ich würde sagen, das fällt definitiv ins Reich des Unmöglichen.«

»Ach ja?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Trotz allem, was Sie mir erzählt haben?«

Ein kalter Schauer überlief sie.

»Ja. Ich meine, da ist schließlich das Kind, das einen menschlichen Vater gehabt haben muss. Egal was die Gerüchte behaupten. Ich habe gestern Nacht in Ihrem Buch darüber gelesen.«

»Oh? Bei Mick und Kaye?«

Er hatte ihr den Rücken zugewandt, um noch einmal Wasser aufzusetzen.

Unangenehm berührt, runzelte sie die Stirn. »Woher wissen Sie, dass ich dort war?«

»Sie haben es mir erzählt.«

»Ich glaube nicht, dass ich das getan habe.«

So erschöpft sie sein mochte, ganz hinüber war sie nicht. Diese Information hatte er nicht von ihr. Nur von wem dann? Er konnte seine Wohnung nicht verlassen haben, schließlich hatte sie ihn dort mehr tot als lebendig gefunden. Und wie zur Bestätigung, dass irgendwas faul an der Sache war, schob er die nächste unglaubwürdige Erklärung nach.

»Ich habe fast die ganze Nacht an meinem Schreibtisch gesessen. Vielleicht ist mir ja Micks Landrover aufgefallen, als er auf dem Weg zu Ihnen hier vorbeifuhr und später zurückkam. Ja, so muss es gewesen sein.«

Zoe sah ihn lange an. Eine unangenehme Anspannung lag auf einmal in der Luft und beeinträchtigte die eben noch gemütliche Atmosphäre. Sie schob den Teller mit Toast von sich.

»Sie wissen schon, dass Kaye behauptet, Sie hätten übersinnliche Fähigkeiten, oder?«

Er lachte. »Die gute Kaye. Ich fürchte, wie so viele Stadtleute romantisiert sie gerne. Sie denkt, jeder, der hier geboren wurde, muss etwas von einem Druiden haben.«

»Wollen Sie ihr das verdenken?«, hakte Zoe spöttisch nach. »Schließlich regen die Inseln geradezu dazu an. Diese ganzen Legenden … Wissen Sie, als ich ein Kind war und meine Großmutter mir ihre Geschichten erzählte, da dachte ich immer, es müsse hier irgendeine Art Magie geben. Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich …« Sie brach ab, ließ den Gedanken unvollendet.

»Stimmt. Dennoch übertreibt Kay für meinen Geschmack ein bisschen. Sie würde uns am liebsten zur Sonnenwende alle zwischen Hinkelsteinen herumlaufen lassen, wenn sie könnte.« Charles erhob sich und warf mit einer geschickten Bewegung die nächste Runde Toast aus dem Gitter. »Ich bin geschmeichelt, dass Sie mein Buch lesen. Darf ich hoffen, dass es in irgendeiner Weise informativ für Sie ist?«

»Ja durchaus. Es hat mich auf eine Idee gebracht, wie die Gerüchte um Ailsas Sohn entstanden sein könnten. Ich meine die Art, wie der Inkubus angeblich Frauen mit dem – wie nennt man gleich so ein Kind? – schwängert.«

»Sie meinen, mit dem Cambion.« Er nickte, griff nach einem Glas dunkler, selbst gemachter Marmelade. »Ein Kind, das von einem Inkubus mit einer sterblichen Frau gezeugt wird, ist immer männlich, und man sagt ihm bestimmte typische Eigenschaften nach. Der Zauberer Merlin aus der Artussage war angeblich ein Cambion.«

»Und es heißt, dass das Kind zunächst eine Totgeburt zu sein schien und anfangs stumm war. Genau wie Ailsas Sohn.«

»Bis zum Alter von sieben Jahren, ja. Und dann nahm er sein wahres Wesen an und erlangte seine Zauberkräfte.«

»Ailsa schreibt in ihrem Tagebuch, dass sein Vater den Jungen mit sieben Jahren für sich beanspruche. Eindeutig glaubte sie, dass ihr Sohn dadurch in Gefahr sei, und hängte ihm das Kreuz um. Meinen Sie …« Zoe zögerte, und ein Schaudern durchlief sie, »sie hat sich eingeredet, dass ihr Sohn aus der Vereinigung mit einem Dämon stammte und demzufolge in irgendeiner Weise böse war oder es werden würde?«

»Ich denke, den Tagebuchaufzeichnungen zufolge kann es keinen Zweifel geben, dass Ailsa ihren Sohn abgöttisch geliebt hat und jedes Opfer für ihn erbracht hätte. Außerdem scheint sie am Ende an irgendeiner schweren Krankheit gelitten zu haben – deshalb die Angst, was mit dem Jungen passieren könnte, wenn sie nicht mehr da wäre.« Charles biss in seinen Toast, den Blick abwesend zum Fenster gerichtet. »Wie ich neulich bereits sagte, sie wäre nicht die erste Mutter gewesen, die ein Kind tötet, das als abartig gilt, um ihm, wie sie das wohl sah, ein Leben voller Leiden zu ersparen. Mehr als das in diesem Fall.« Er wandte sich mit ernster Miene zu ihr um. »Der Cambion ist angeblich unsterblich. Er altert zwar, kann jedoch keine Kinder zeugen. Sie dürfte die Artussage durch Tamhas gekannt haben, desgleichen diverse Volksmythen, die Merlin zum Gegenstand haben, und natürlich allerlei Sagen und Legenden, die vom schändlichen Treiben der Inkubi handeln. Da bin ich mir sicher.« Er hielt inne, um neuen Tee einzuschenken. »Eine Sache jedenfalls haben wir aus dem Tagebuch erfahren.«

»Und die wäre?«

»Das genaue Geburtsdatum des Jungen. Allerheiligen 1862 – gut sechs Tage vor dem Datum, das offiziell von Bonar eingetragen wurde. Was heißt, dass der letzte Tagebucheintrag mit diesen unheilvollen Versen aus der Heiligen Schrift zwei Tage vor dem siebten Geburtstag des Jungen entstand.«

»Sie meinen, das ist der Beweis dafür, dass sie ihn getötet hat? Um ihn zu retten?«

Charles breitete die Hände aus. »Ich denke, es ist von Bedeutung. Kein schlüssiger Beweis, nein, für keine der Thesen. Hingegen habe ich das Gefühl, dass das Tagebuch ein außergewöhnliches Dokument für die Zerrüttung eines Verstands ist. Zutiefst verstörend zu lesen. Sie müssen es eigentlich genauso empfunden haben.«

Sie nickte, hörte aus seinen Worten das Echo eines tiefen Schmerzes heraus und dachte wieder, wie viel näher er der Geschichte von Ailsa und ihrem Sohn zu stehen schien als Mick, ihr direkter Nachfahre, der sie am liebsten aus der Familiengeschichte streichen würde.

»Werden Sie Mick davon erzählen?«

»Zu gegebener Zeit, selbstverständlich. Aber vorher würde ich mich wie gesagt gerne eingehend damit beschäftigen. Deshalb meine gestrige Bitte, über den Fund Ihrerseits ebenfalls für eine Weile zu schweigen. Ist das für Sie in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Zwar dürfte der Inhalt des Tagebuchs ihn kaum interessieren, andere dafür umso mehr. Und genau davor fürchtet er sich. Insbesondere wenn darüber geschrieben wird. Parapsychologische Phänomene lassen sich gut vermarkten, und er sieht schon lauter Geisterjäger hier herumschwirren.«

»Wollen Sie denn ein Buch darüber schreiben?«

»Das könnte ich gar nicht, nicht ohne sein Einverständnis. Das Tagebuch gehört von Rechts wegen ihm. Das ist der Grund, weshalb ich gern etwas Zeit hätte, um es genau zu lesen, bevor er es womöglich vernichtet. Das verstehen Sie sicher.«

»Ja, schließlich erhoffe ich mir Aufschluss, was von der ganzen Sache zu halten ist und warum ich eine so starke Affinität zu Ailsas Geschichte zu haben scheine.« Sie erhob sich und schob ihren Stuhl zurück. »Jetzt allerdings sollte ich mich wieder auf den Weg machen. Danke für den Tee.«

»Zoe, eine Sache noch.« In seinen Augen lag ein Anflug von Besorgnis. »Üben Sie Nachsicht mit einem alten Mann, wenn ich eine Warnung ausspreche. Passen Sie gut auf sich auf, in diesem Haus herrscht ein Einfluss, den ich für gefährlich halte. Er hat Ailsa McBride in den Tod getrieben. Deshalb sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob es weise ist dortzubleiben. Eine Frau mit Ihrer Ausgangslage …«

»Was soll denn das heißen?«, fuhr sie ihn argwöhnisch an.

Er seufzte. »Allein. Weit entfernt von Ihren Liebsten. Sie könnten empfänglich sein.«

»Empfänglich. Sie glauben, ich könnte genauso verrückt sein wie sie.«

Sie starrte ihn an, bis er wegsah.

»Ich halte es einfach unter den gegebenen Umständen möglicherweise für vernünftiger …«

»Unter welchen Umständen?«, unterbrach sie ihn. »Sie wissen ja gar nichts von mir außer dem wenigen, was ich Ihnen erzählt habe. Haben Sie mir etwa nachspioniert? Mich gegoogelt?«, ereiferte sie sich. »Gott, was ist eigentlich los mit diesem Ort? Niemand hier scheint zu wissen, was Privatsphäre bedeutet. Warum lässt man mich nicht in Ruhe?«

»Verzeihung.« Charles unterdrückte ein Lächeln. »Sagt die Dame, die in mein Haus spaziert ist, während ich geschlafen habe.«

»Sie haben Ihre Tür unverschlossen gelassen – und überhaupt, ich habe mir Sorgen um Sie gemacht.«

»Und ich bin besorgt um Sie. Zu meiner eigenen Belustigung mische ich mich bestimmt nicht ein, das kann ich Ihnen versichern.«

»Sie halten mich für verrückt, neurotisch, was weiß ich …«

»Weit gefehlt.« Seine Miene wurde ernst. »Ich denke, Sie könnten in Gefahr sein.«

»Sie sind nicht der Erste, der mir das sagt. Mick hat mich gewarnt, dass es Leute im Dorf gibt, die mich verscheuchen wollen.«

»Zu denen gehöre ich nicht. Aber Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, dass ich mehr über die Geschichte weiß als Mick. Und aufgrund dieses Wissens und der zusätzlichen Informationen, die ich dem Tagebuch entnommen habe, bitte ich Sie, mir zu vertrauen, wenn ich Ihnen nahelege, lieber nicht allein dort draußen wohnen zu bleiben.«

»Dann begleiten Sie mich und essen heute bei mir zu Abend«, schlug sie vor, die Arme kämpferisch vor der Brust verschränkt.

War er bei ihrer Einladung zusammengezuckt? Ganz kurz, kaum wahrnehmbar? Sie war sich nicht sicher.

»Ich denke nicht, dass wir der Gerüchteküche noch mehr Munition liefern sollten, oder?« Er bedachte sie mit einem väterlichen, sanft tadelnden Blick. »Davon abgesehen, habe ich viel Arbeit nachzuholen. Trotzdem danke für das Angebot.«

»Sie machen mir etwas vor, habe ich recht?« Ein wissendes Lächeln überzog ihr Gesicht. »Es geht darum, dass Sie keinen Fuß jemals in dieses Haus setzen werden. Sie haben Angst.«

Leicht verlegen, dass Zoe ihm auf die Schliche gekommen war, wandte er den Blick ab.

»Sagen wir es mal so«, erwiderte er schließlich mit einem gewissen Widerstreben, »ich betrachte mich selbst in mancher Hinsicht als empfänglich.«

»Das heißt, Sie haben übersinnliche Fähigkeiten.«

Charles seufzte und grinste sie an. »Ich wusste, dass Sie das sagen würden. Ist das übersinnlich?«

Die Missstimmung verflog, Zoe lachte schallend, um sogleich wieder ernst zu werden.

»Machen Sie sich keine Sorgen um mich.« Sie steckte eine Hand in die Jackentasche und schloss die Finger um das kalte Metall des aufgebrochenen Vorhängeschlosses. »Ich meine ziemlich genau zu wissen, wovor ich in diesem Haus Angst haben muss, und ich werde mich dem stellen«, erklärte sie entschlossen.

»Na schön. Da ich mich, wie Sie richtig erkannt haben, davor drücke, Ihnen dort Gesellschaft zu leisten, nehmen Sie an meiner Stelle Horace mit. Für ihn müssen Sie nicht mal kochen.«

»Im Ernst?« Zoe musterte den Hund, der unter dem Tisch lag und bei der Erwähnung seines Namens den Kopf hob, dabei mit dem Schwanz wedelte. »Das würde ich sehr gern tun, fürchte nur, es wird ihm nicht gefallen, von Ihnen getrennt zu werden. Er wird todunglücklich sein – und das möchte ich ihm nicht antun.«

»Er ist hart im Nehmen. Er tut, was man von ihm verlangt. Stimmt’s, alter Knabe?«

Er beugte sich nach unten und kraulte den Hund zwischen den Ohren. Zwar bezweifelte Zoe insgeheim, ob der schwerfällige, freundliche Horace auf jemanden wie Dougie Reid sehr abschreckend wirkte oder gar einem Eindringling an die Kehle sprang, aber die Anwesenheit des Hundes wäre für sie eine Art Mutmacher – sie würde sich weniger verloren und ausgeliefert vorkommen.

»Danke, dann nehme ich Ihr großzügiges Angebot gerne an und hoffe, dass es für den armen Horace keine allzu große Zumutung ist.«

Charles packte ihr noch Hundefutter und die Lieblingsdecke seines Vierbeiners ein, und dann brach Zoe mit ihrem Bewacher auf Zeit auf, der sich brav in sein Schicksal zu fügen schien, wenngleich er seinem Herrchen zum Abschied einen traurigen Blick zuwarf.

»Sie können mich jederzeit anrufen«, schärfte Charles ihr ein. »Falls Sie irgendetwas beunruhigt. Egal was.«

»Ich werde es im Hinterkopf behalten. Wenn ich Ihre Worte richtig deute, halten Sie mich also nicht für verrückt, oder?«

»Nicht im Geringsten. Sie sind geistig genauso gesund wie ich«, erklärte er mit leiser Selbstironie.

Zoe lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich das beruhigend finden soll.«

Am Gartentor wandte sie sich noch einmal um und sah an der Fassade hoch. Das hohe Fenster im ersten Stock musste Charles’ Arbeitszimmer sein. Zwar ging es auf die Straße hinaus, doch eine Reihe großer, dichter Kiefern, die sich die gesamte Vorderseite des Grundstücks entlangzog, versperrte den Blick. Charles konnte also Micks Landrover gar nicht gesehen, geschweige denn erkannt haben, wer im Wagen saß.

Das alte mulmige Gefühl stellte sich wieder ein, und erneut fragte sie sich, ob sie recht daran tat, dem Professor zu vertrauen. Dann aber versetzte ihr Horace einen Stupser, als wollte er sie für solch treulose Gedanken tadeln, und sie musste lachen.