NOVEMBER 2012: KATHARINA
DER UNGEBETENE GAST

Katharina saß mit ihren vier Kindern beim Abendessen, als der Gast zur Tür hereinkam.

Er hatte weder geklopft noch geläutet, er war einfach eingetreten, die Haustür stand ja stets offen, wurde nur in der Nacht abgesperrt. Er schloss leise die Küchentür und näherte sich langsam dem großen Esstisch. Katharina wusste sofort, wer er war und was er von ihr verlangen würde. Behäbig wirkte er und gleichzeitig autoritär, ein Mann, der gewohnt war, dass man sich ihm nicht widersetzte. Umständlich nahm er neben ihr Platz, ohne jemanden zu begrüßen. Katharina bedeutete ihm mit ihren Augen, er möge doch warten, bis die vier aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen wären. Er ignorierte das und fing ohne Umschweife zu sprechen an, dabei sah er jedem Kind unverhohlen neugierig ins Gesicht.

Er erinnerte Katharina daran, dass Krieg war und die Eindringlinge mordend durch das Land zogen, ganze Familien grausam ausrottend. Vor den Augen der Eltern wurde jedes einzelne Kind gefoltert, bevor man ihm schließlich den erlösenden Tod gewährte. Zum Schluss wurden auch die Eltern getötet, indem man jedes Fenster, jede Tür von außen mit Brettern zunagelte und das Haus schließlich anzündete. Bald schon, sehr bald würden die Soldaten auch in dieses Dorf kommen und ein Gemetzel in jeder Familie anrichten.

Allein er könnte ihr helfen zu verhindern, dass ihre Kinder und sie selbst gefoltert und ermordet wurden. Er hatte gute Verbindungen zu den Soldaten und mit ihnen eine Verordnung ausgearbeitet: Jede Familie dürfe ein Kind opfern, dann würde der Rest verschont werden.

Sie müsse ihm nur den Namen eines ihrer Kinder nennen, dieses Kind würde er zu den Soldaten bringen und es würde schnell und schmerzlos sterben. Dafür aber werde keinem anderen auch nur ein Haar gekrümmt, kein Soldat werde seinen Fuß in das Haus setzen, das garantiere er mit seinem Namen. Katharina starrte ihn an. Nach den Erzählungen, die sie gehört hatte, hatte sie ihn sich anders vorgestellt, irgendwie größer, weißhaariger, strahlender. Schließlich zwang sie sich, den Blick abzuwenden, sie schaute in der vertrauten Küche herum, bevor sie sich ihm wieder zuwandte.

Der Mann lächelte sie gütig an und sagte: »Nennen Sie mir nur einen Namen und alles wird gut. Nur einen Namen und Sie können die anderen retten. Denken Sie an die gefolterten und getöteten Familien und Sie wissen, dass mein Angebot gnädig ist.«

Sie wusste, dass er wusste, was sie sagen würde und sagte es trotzdem: »Ich gehe mit Ihnen.«

»Das geht leider nicht, es muss eines Ihrer Kinder sein«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen, unentwegt lächelnd, »so lautet einfach das Gesetz.«

Die Kinder rührten sich nicht und starrten abwechselnd auf den Mann und auf ihre Mutter, dabei sagten sie kein Wort, Katharinas Gedanken überschlugen sich.

Ja, es war Krieg. Jeden Tag war Krieg.

Nur einen Namen sollte sie nennen und damit die anderen retten. Aber welchen Namen sollte sie aussprechen? Welches Kind verraten und dem Tod preisgeben? Denn es war Verrat, das stand fest, das Kind, das sie dem Mann mitgeben würde, war das, das sie am wenigsten liebte, so würden zumindest alle denken.

Sie wusste es, die Kinder wussten es, der Gast wusste es. Sie zermarterte sich ihr Gehirn, was sie tun sollte. Sollte sie einfach aufstehen und den mächtigen Mann hinauswerfen? Sie sah ihm an, dass er das nicht gewohnt war. Mit großer Genugtuung würde sie ihm »Du kannst mich mal mit deiner Gnade!« an den Kopf schmeißen.

Aber dann würde man ihren Kindern bei lebendigem Leib die Haut abziehen oder sie in siedend heißes Wasser werfen oder sie vierteilen. Sie stellte sich all diese schrecklichen Dinge bildhaft vor, sah beim Ankündigen der jeweiligen Foltermethode das verzweifelte Entsetzen in den Augen ihrer Kinder und hörte sie dann schreien, schreien, schreien. Einen Namen! Sie musste einen Namen sagen.

Ihre zwei Großen flehte sie mit den Augen an, einer von ihnen möge doch ihre Verzweiflung spüren und sich für die Familie opfern. Einer von beiden sollte mit ruhiger Stimme sagen: »Ich geh freiwillig, Mama.« Es hätte zu ihnen gepasst, sie waren doch immer die verständigen Großen, wenn es um die Kleinen ging. Doch sie taten es nicht, wie die zwei Jüngeren hingen sie mit weit aufgerissenen Augen an ihren Lippen: Welchen Namen würde sie sagen?

Einen Namen! Sie musste endlich einen Namen sagen! Welches von den Kindern würde ihr den Verrat verzeihen können, dachte sie, welches Kind könnte gehen und ihr dabei einen Blick zuwerfen, der sagte: Ich bin dir nicht böse. Gleichzeitig wusste sie, kein Kind würde das können. Sie würde ihn einfach schnell flüstern, den Namen, dann die Hände vor das Gesicht schlagen, um nicht zusehen zu müssen, wie das Kind abgeführt wurde. Unmöglich konnte sie ihm in die Augen schauen.

Die Geduld des Gastes war erschöpft, er befahl Katharina mit lauter Stimme: »Sie sagen mir sofort einen Namen!« Sie hatte einen auf der Zunge, konnte ihn aber nicht aussprechen. Verzweifelt blickte sie in die Runde, streifte dabei Julius’ leeren Stuhl und plötzlich durchzuckte es sie voller Zorn: Warum musste sie diese Entscheidung alleine treffen? Warum war ihr Mann nicht da und half ihr? Warum war er eigentlich nie bei seiner Familie?

In dem Moment hauchte sie – innerlich auf Julius wütend – einen Namen, wusste selbst nicht, welcher es war, doch der Gast schien es mit unbeirrbarer Sicherheit zu wissen, er stand auf und streckte seine Hand aus, wem streckte er sie entgegen?