NOVEMBER 2012: KATHARINA
EINSAMKEIT

Nachdem der ungebetene Besucher das fünfte Mal an Katharinas Tisch gesessen war, stand sie abrupt während des Essens auf, nahm ihr Handy und verschwand damit im Schlafzimmer. Die Kinder sahen ihr perplex nach. Sie rief ihre Freundin Doris an und fragte sie, ob sie Lust hätte, spontan mit ihr nach Linz zu fahren, ins Kino zu gehen und eventuell anschließend noch irgendwo etwas zu trinken. Doris bedauerte, sie war verkühlt, auch Sabine konnte nicht, die kleine Tochter war krank. Katharina warf sich stöhnend auf das Bett.

Sie überlegte, ob sie sich an den Computer setzen sollte, um an der Biografie von Frau Hausmann weiterzuarbeiten oder ob sie alleine fahren sollte. Sie entschied sich, alleine zu fahren. Sie zog ihre Jeans aus, schlüpfte in eine helle Hose, zog ein elegantes schwarzes Oberteil an und hohe Schuhe. Im Badezimmer rollte die sechsjährige Luisa mit den Augen, als sie sich auffälliger als sonst schminkte und die Haare hochsteckte.

Im dunklen, zugigen Kinosaal fröstelte sie die ganze Zeit. Rings um sie herum saßen nur Pärchen oder befreundete Leute und sie fühlte sich so einsam wie noch nie. Ein älteres Paar, sie schätzte die beiden auf an die siebzig, saß ein paar Stühle weiter, der Mann hatte den Arm um die Schulter der Frau gelegt. Katharina konnte die Augen nicht von den beiden lassen, immer schon hatten sie alte, verliebte Menschen mehr beeindruckt als junge Pärchen, die giggelnd Hand in Hand gingen. Sie wünschte sich, Julius säße neben ihr.

Früher, als die Kinder noch kleiner gewesen waren, war sie oft alleine in die Stadt gefahren und ins Kino gegangen, es war wie eine Art Flucht vor dem eigenen Leben gewesen, nie hatte sie sich dabei einsam gefühlt, im Gegenteil, sie hatte es genossen: Man taucht in eine fremde Geschichte ein, betäubt sich mit ihr und vergisst zumindest für zwei Stunden die eigene. Sie war jahrelang lieber alleine ins Kino gegangen als in den Familienurlaub zu fahren, keinem hatte sie je davon erzählt. Sie war überzeugt davon, sie hätte von ihren Bekannten nur Unverständnis geerntet. Zu jedem Kindergarten- oder Schulbeginn wurden die Wochen am Meer, in einer fremden Stadt oder in einer exotischen Landschaft enthusiastisch als so erholsam, entzückend, bezaubernd beschrieben, und lange Zeit fragte sie sich, ob den Leuten der Urlaub wirklich so gut gefallen hatte oder ob es nur das übliche Spiel war, nämlich die subtile Demonstration, wer hier der Interessantere, der Aufgeschlossenere war und vor allem, wer sich mehr leisten konnte. Sie war lieber im dunklen Kino gesessen: Mit den großen Bildern vor sich auf der Leinwand war der Alltag weit weg. Um halb sechs Uhr früh mit einem oder sogar zwei Kleinkindern an der Hand im Hotelgang herumtapsend, ständig mit dem Zeigefinger an den Lippen und »sch-scht« flüsternd, da wog der Alltag doppelt so schwer.

An diesem Abend nahm die Einsamkeit von ihrem ganzen Körper Besitz. Unentwegt zitterte sie vor Kälte, sie hatte Bauchschmerzen, der Kopf dröhnte, die Beine waren schwer. In einer Bar saß sie auf einem hohen Barhocker, nippte an ihrem Cocktail und fühlte sich von den meisten Leuten beobachtet, der Barkeeper flirtete mit ihr und aus Dankbarkeit trank sie zu viel. Bei der Heimfahrt stierte sie vornübergebeugt und konzentriert aus der Windschutzscheibe. Ein Reh huschte über die Straße, sie konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Dann begann sie plötzlich heftig zu weinen und musste anhalten. Schluchzend und schlotternd umklammerte sie das Lenkrad und konnte sich kaum beruhigen.

Am nächsten Morgen fasste sie beim Aufwachen den Entschluss.

Nach dem Frühstück verließen die Kinder nacheinander das Haus. Katharina warf ein paar Sachen in einen kleinen Koffer und ging dann zu Arthur und Olga hinüber.

»Willst du Kaffee?«, fragte Olga mit ihrem starken Akzent, den die Kinder so lustig fanden und stets nachahmten.

Katharina bejahte. Arthur kam dazu, zu dritt saßen sie am Küchentisch und frühstückten.

»Ich wollte euch um was bitten«, sagte Katharina.

»Wir passen gern auf die Kinder auf«, sagte Olga.

»Na, wo drückt der Schuh?«, fragte Arthur freundlich.

Arthur, Katharinas Schwiegervater, war zweiundsiebzig, er hatte im selben Haus eine Wohnung mit eigenem Eingang. Vor einem halben Jahr hatte er sich die Hüfte gebrochen und seither wohnten abwechselnd Olga und Mascha, zwei Pflegerinnen aus der Slowakei, bei ihm und kümmerten sich um alles. Der Hauptgrund, warum Arthur eine Pflegerin haben wollte, war nicht so sehr seine eigene Eingeschränktheit gewesen, sondern die Tatsache, dass er Katharina bei den Kindern, im Haus und im Garten nicht mehr unterstützen konnte. Von Anfang an vereinbarte er mit beiden Pflegerinnen einen höheren Lohn als vorgesehen, dafür, dass sie nicht nur für ihn zuständig waren, sondern gelegentlich bei Katharina einspringen mussten.

Es waren Mutter und Tochter, nach zwei Wochen fuhr die eine nach Hause und die andere löste sie ab. Sie hätten unterschiedlicher nicht aussehen können: Die zweiundfünfzigjährige Olga hatte schwarze schulterlange Haare, die sie alle drei Wochen sorgfältig färbte, wasserblaue Augen und war auffallend blass, weshalb Luisa sofort herausplatzte: »Du siehst aus wie das alte Schneewittchen!«

»Luisa!«, entfuhr es Katharina daraufhin, doch Olga lachte nur herzlich.

Die zweiundzwanzigjährige Mascha war braun gebrannt und trug ihre weißblonden Haare raspelkurz. In ihrem Wesen jedoch waren sie einander ähnlich, beide waren temperamentvoll.

»Ich möchte zu Julius fahren«, sagte Katharina und erzählte von dem Entschluss, den sie gefasst hatte.

»Wird höchste Zeit!«, sagte Olga.

»Wir unterstützen euch auf alle Fälle«, sagte Arthur.

Arthur und Olga begleiteten sie zum Auto und umarmten sie.

»Was würde ich nur ohne euch machen?«, sagte Katharina, als sie einstieg.

Dann fuhr sie los.

Sie genoss die Fahrt auf der Autobahn und sang laut mit Cat Stevens mit: How can I tell you that I love you?

Sie überlegte sich genau, was sie zu ihrem Mann sagen würde, und flüsterte die Sätze vor sich hin.