NOVEMBER 2012: KATHARINA UND JULIUS
EIN NEUANFANG?

Julius betrat die Hotelhalle und sah sich um.

Katharina saß in einem abgenützten Fauteuil der verstaubten Hotellobby und las in einem Buch. Auf sie zugehend, merkte er, dass seine Knie immer noch zitterten und er versuchte es zu unterdrücken. Sie sah von ihrem Buch hoch und stand langsam auf, er registrierte erstaunt seine übermäßige Freude, sie in dieser altmodischen Hotelhalle zu sehen. Ein Aufschluchzen musste er unterdrücken, als er sie heftig an sich drückte.

»Ich wollte dich überraschen«, sagte sie.

»Das ist dir gelungen«, flüsterte er.

Untergehakt gingen sie langsam die Treppen hoch in den ersten Stock.

»Ich muss dir etwas sagen«, wiederholte sie mehrmals im Hotelzimmer, ihn lachend abwehrend, da er nicht aufhörte sie an sich zu drücken und zu küssen.

»Später«, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, »ich freu mich so, dass du da bist. Lass mich duschen gehen, ich muss ja fürchterlich stinken, dann lass uns für eine Weile ins Bett fallen – du erregst mich wahnsinnig, weißt du das? –, und dann kannst du mir alles sagen, was du willst.«

»Wo warst du denn?«, fragte sie und musterte zum ersten Mal seine Bergsteigerkleidung, »gehst du mit diesen Sachen zu deinen Kunden?«

Er riss sich etwas zu abrupt los, betrat das kleine Badezimmer, ließ die Tür einen Spalt offen und erklärte laut, während er sich auszog: »Simon und ich sind heute mit ein paar Ärzten Schneeschuhwandern gegangen. Du weißt schon, Kundenbetreuung, machen wir ein Mal im Jahr.«

In der Duschkabine streckte er erschöpft sein Gesicht dem heißen Wasser entgegen, bevor er in die Hocke sank. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch, immer noch spürte er das Gewicht des Schnees auf seinem Körper, immer noch fühlte er die Panik in sich aufsteigen.

Katharina lag nackt im Bett, die Vorhänge hatte sie zugezogen. Jedes Mal zog sie die Vorhänge zu, bevor sie miteinander schliefen, oft hatte ihn dies gestört, er mochte es, sich bei Tageslicht zu lieben, doch heute empfand er das Dämmerlicht als wohltuend. Die Welt konnte draußen bleiben, die Menschen, die Berge, der glitzernde Schnee, das alles konnte ihm gestohlen bleiben.

Julius schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke und sie umfing ihn warm mit ihren Armen. Es fühlte sich verdammt richtig und gut an, dass sie und niemand anderer ihn umarmte, er betrachtete es als einen Wink des Schicksals, dass nach dem großen Schock des Absturzes sie, seine Ehefrau, neben ihm im Bett lag. In diesem Augenblick war er unendlich dankbar und glücklich, sie liebten sich lange und sanft und dann begann sie zu sprechen. Er wünschte, sie würde mit dem Reden bis zum Abend warten, ganz gleich, was sie zu sagen hatte, sie würde es mit ihrer eindringlichen und leicht theatralischen Sprechweise sagen, und dem fühlte er sich noch nicht gewachsen. In ihren Armen wollte er einfach nur daliegen, der Erschöpfung nachgeben und in den Schlaf hinüberwandern.

»Lass mich eine Stunde schlafen, reden wir beim Heimfahren«, murmelte er.

»Wir fahren heute nicht nach Hause«, sagte sie lachend, »wir bleiben übers Wochenende hier in Innsbruck. Wir könnten aber auch in ein schönes Wellnesshotel fahren, wenn du Lust hast. Kannst du eines empfehlen? Dann ruf ich an, ansonsten fahren wir einfach ins Blaue hinein.«

Stephanie hatte ihn einmal im Sommer für zwei Tage in das Interalpenhotel entführt, es war dreißig Kilometer westlich von Innsbruck und lag mitten im Wald. Ein anderes schönes Hotel kannte er nicht.

»Ruf im Interalpen-Hotel an, die Nummer findest du im Internet«, sagte er, dann schlief er ein.

Drei Stunden später saßen sie einander im großen Speisesaal des Wellnesshotels gegenüber und aßen zu Abend. Katharina sprach von ihrer Liebe zu ihm, von ihrer Einsamkeit und von bestimmten Veränderungen, die sie sich wünschte. Sie wollte keine Wochenendehe mehr führen, sie wollte, dass Julius auch während der Woche bei ihr und den Kindern war.

»Ich bin nun einmal hier Vertreter und nicht in Oberösterreich«, wandte er ein. Seit nunmehr sechs Jahren war er Pharmareferent einer Psychopharmaka-Firma für ganz Tirol und Vorarlberg.

»Man kann kündigen«, sagte Katharina.

Er lehnte sich zurück und lachte: »Stellst du mir ein Ultimatum? Entweder dein Beruf oder deine Familie?«

Sie wehrte ab: »Es soll natürlich kein Ultimatum sein, sondern ein – na ja, wie soll ich sagen? Wir sind eine Familie, wir gehören doch zusammen, auch von Montag bis Freitag, ich will so nicht mehr leben, ich bin wirklich unglücklich, Julius. Ich möchte, dass du es einzig und allein als Angebot betrachtest, als ein Angebot der Liebe.«

Sie machte eine Pause, er bemerkte, dass ihre Augen beim Reden feucht geworden waren und war gerührt. Er stellte sich vor, wie sie im Auto saß und die richtigen Worte suchte, die Sätze probte und immer wieder vor sich hin flüsterte.

Sie fuhr fort: »Du hast dir vor sechs Jahren diese Arbeit hier gesucht, weil wir nur noch gestritten haben nach Luisas Geburt, weißt du noch? Wir haben uns monatelang richtig befetzt und angefeindet, das war es, deshalb bist du nach Tirol geflüchtet. Doch, es war eine Flucht, und ich habe sie unterstützt, diese Flucht, ich habe sie sogar vorangetrieben. Du bist mir damals richtig auf die Nerven gegangen, ich konnte dich nicht mehr sehen. Es tut mir so leid, ich bin eigentlich schuld daran! Wenn ich nicht so ekelhaft gewesen wäre, hättest du dir nie eine Arbeit so weit weg von der Familie gesucht.«

Er räusperte sich und wollte sie unterbrechen, sie ließ es aber nicht zu und redete schnell weiter: »Am Anfang waren wir sicher erleichtert über die Trennung unter der Woche, die ganze Situation hat sich ja dadurch entspannt, wir haben aufgehört zu streiten. Wir haben uns dann auf die Wochenenden und Urlaube gefreut. Und mit der Zeit haben wir uns eben daran gewöhnt, dass deine Arbeit so weit weg ist. Das hätten wir nie tun dürfen! So schnell sind sechs Jahre daraus geworden, sechs lange Jahre! Wir haben die Dinge einfach laufen lassen und dadurch so viel verpasst!«

Angespannt zerknüllte sie ihre Serviette.

»Schatz, lass mich auch mal zu Wort kommen«, sagte er beruhigend. Er konnte es nicht leiden, wenn sie sich in ein Thema hineinsteigerte.

»Nein«, lachte sie, »erst rede ich fertig, dann darfst du etwas sagen. Wir sind jetzt beide vierzig, oder fast vierzig, und die Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Es wird Zeit, dass wir mehr auf uns schauen, dass wir achtsamer mit unserer Beziehung umgehen und mehr zu zweit unternehmen.«

Achtsamer mit der Beziehung umgehen? Oh mein Gott, hatte sie jetzt angefangen solche Beziehungsratgeber zu lesen wie ihre Freundinnen, sie hatte sich doch früher immer darüber lustig gemacht! Er schenkte ihr und sich Wein nach und sie stießen an.

»Ich wünsche mir wirklich«, fuhr sie fort, » dass du kündigst und dir eine Arbeit in unserer Nähe suchst. Es gibt eventuell sogar eine Möglichkeit, die dich vielleicht interessiert.«

»Was meinst du?«, fragte Julius.

Sie lächelte geheimnisvoll und sprach dann weiter: »Außerdem möchte ich mit dir eine längere Reise machen, vielleicht nach Südostasien, Indonesien und weiter nach Australien oder so ähnlich, ungefähr zwei bis drei Monate, das ist doch schon lange dein Traum, nicht wahr? Ich habe an Februar und März gedacht.«

»Und was ist mit den Kindern?«, fragte er verblüfft.

»Ich habe schon mit Arthur und Olga gesprochen«, antwortete sie, »es wäre überhaupt kein Problem.«

Julius staunte. Nie hatte sich Katharina von den Kindern losreißen können. Wenn er eine längere Reise vorgeschlagen hatte, hatte sie stets mit den Worten abgewehrt, eine kurze Reise von ein paar Tagen wäre möglich, aber länger wolle sie die Kinder nicht alleine lassen.

»Möchtest du das wirklich?«, fragte Julius.

»Ja«, sagte sie, »ich möchte es unbedingt.«

Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, ihre Lippen glänzten vom Rotwein, ihre Wangen waren leicht gerötet vor Aufregung und ihre Augen leuchteten dunkler als sonst. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie ihm in den letzten Jahren jemals so gut gefallen hatte, am liebsten wäre er mit ihr auf der Stelle nach oben ins Zimmer gegangen und hätte ihr das Kleid vom Leib gerissen.

»Sag schon, was meinst du mit dieser eventuellen Möglichkeit?«, fragte er, wischte ihr mit dem Zeigefinger einen Tropfen Rotwein von den Lippen und schleckte dann langsam den Finger ab, »oder was hältst du davon, wenn du mir das oben im Bett erzählst?«

»Ich halte das für eine gute Idee«, erwiderte sie augenzwinkernd.

Sie orderten eine Flasche Champagner auf das Zimmer und verließen Hand in Hand, wie zwei Jugendliche, den Speisesaal. Im Bett rauchten sie, die Balkontüren weit geöffnet, und kicherten ausgelassen. Dann erzählte Katharina von dem Gespräch, dass sie vor wenigen Tagen mit einem alten Bekannten geführt hatte. Beim Einkaufen hatte sie zufällig Ferdinand Hauer getroffen, der alte Mann freute sich sichtlich, sie zu sehen, fragte sofort nach Julius und lud sie spontan auf einen Kaffee ein. Julius kannte Hauer, den Restaurator und Besitzer eines Antiquitätengeschäfts, gut, er hatte bis vor sechs Jahren bei ihm gearbeitet, bis er als Pharmareferent nach Tirol gegangen war. Obwohl er sich dort wohlfühlte, vermisste er dennoch die Atmosphäre in der Werkstätte, die ruhigen Gespräche mit Hauer und das handwerkliche Arbeiten manchmal sehr.

»Er will sein Geschäft verkaufen, um einen Pappenstiel, er ist einfach nur froh, wenn es weitergeführt wird! Er hat als Erstes an dich gedacht, stell dir das vor, er hat zu mir gesagt: Am liebsten wäre mir, wenn Julius mein Geschäft übernehmen würde, von allen Mitarbeitern war er eindeutig der beste, als Restaurator und als Verkäufer, mein Gott, konnte der es gut mit den Kunden, ja, genau das hat er gesagt!«, lachte Katharina.

»Wirklich, das hat er gesagt?«, fragte Julius.

Sie nickte und betrachtete forschend sein Gesicht. Er musste sich eingestehen, dass ihn das Lob des alten Hauer nach so vielen Jahren mit Stolz erfüllte, und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

»Ist das nicht großartig?«, fragte sie ihn ernst, »sag, dass es großartig ist! Du wolltest immer selbständig sein, das war doch dein Traum! Im Grunde hasst du doch deine Arbeit als Vertreter, du machst dich selber ständig lustig darüber, du nennst dich Klinkenputzer und du kannst es nicht leiden, den ganzen Tag im Anzug herumzulaufen. Du bist Restaurator und das von ganzem Herzen! Es ist dein Beruf! Ich kann mich erinnern, dass es dir am besten gegangen ist, als du ihn ausgeübt hast! Du warst damals so ausgeglichen und zufrieden.« Leise fügte sie hinzu: »Und uns ist es auch gut gegangen.«

Er fühlte, wie ein triumphierendes Hochgefühl langsam von seinem Körper Besitz ergriff und sich allmählich ausbreitete und ausdehnte, von den Zehen über den Bauchnabel bis in die Haarspitzen, alles an ihm kribbelte. Ja, auch er erinnerte sich daran, wie gut es ihm damals gegangen war, wie wohl er sich in dieser Werkstätte gefühlt hatte, ja, er hatte lange von seinem eigenen Unternehmen als Restaurator geträumt, das stimmte, aber es war schon sehr lange her. War es eine Möglichkeit? Er musste sich eingestehen, dass alles sehr verheißungsvoll klang. Würde er den Mut haben, den Sprung zu wagen? Er dachte an Stephanie und wusste es nicht. Katharina sah ihm gespannt in die Augen und er bedeckte ihr Gesicht mit zahlreichen kleinen Küssen.

»Julius«, flüsterte sie, »was hältst du davon? Wir fahren gemeinsam nach Asien und danach eröffnest du deine eigene Werkstätte. Wir machen das doch, oder?«

»Ja, wir machen das. Wir machen alles, was du willst, Schatz. Ich liebe dich«, flüsterte er und küsste sie auf den Mund.

Dann liebten sie sich wieder. Das ganze Wochenende liebten sie sich und das ganze Wochenende war erfüllt von diesem Hochgefühl, von begeistertem Pläneschmieden, von einer überschwänglichen Freude auf die große Veränderung in ihrer beider Leben.

Am Montagvormittag fuhr Katharina wieder nach Hause zurück. Während der ganzen Autofahrt hindurch trällerte sie die Songs von Cat Stevens mit.

Zu Hause angekommen lief sie sofort zu Arthur und Olga, umarmte die beiden stürmisch und erzählte ihnen überdreht, dass Julius von den Plänen begeistert gewesen war.

»Das heißt, er hat Ja gesagt? Er kündigt und kommt ganz nach Hause?«, fragte Arthur.

»Ja, ja, ja!«, lachte Katharina, »er hat Ja gesagt!«

Julius besuchte den ganzen Tag mit seinem schwarzen Medikamentenkoffer voller Psychopharmaka einen Arzt nach dem anderen. Mehrmals läutete sein Handy, es war Stephanie, beim dritten Mal hob er ab.

Sie verabredeten sich für den Abend.

Als Stephanie die Tür öffnete, stand sie nackt, nur mit einer Krawatte um den Hals, vor ihm und er wusste, er würde nicht von Trennung sprechen.