NOVEMBER 2012: KATHARINA
EIN NEUER ARBEITSAUFTRAG

Zwei Wochen später erhielt Katharina mit der Post einen großen Umschlag, der ein Manuskript und eine CD enthielt.

Sie zog das Manuskript heraus und betrachtete es. Es waren Kopien und es war offensichtlich, dass die Originale alt, vergilbt und zerknittert sein mussten. Einige wenige Zeilen waren schwarz übermalt und sie konnte sie beim besten Willen nicht entziffern. »Roman ohne U« stand ganz oben und dann folgte in engem Zeilenabstand und in Schreibmaschinenschrift ein Text über mehrere Seiten. Katharina überflog die Seiten schnell. Ihr fiel auf, dass der Buchstabe U von Seite zu Seite schwächer wurde, bis er zum Schluss nur noch wie ein zu kurz geratenes I ohne Punkt aussah. Sie wusste, von wem der Umschlag stammte. Vor mehr als einem halben Jahr war an einem Sonntag eine Frau namens Stephanie Mangold vorbeigekommen, sie wollte von Katharina die Biografie eines entfernten Verwandten schreiben lassen. Sie sei an diesem Sonntag in der Nähe und könne vorbeischauen, hatte sie am Telefon gesagt, und Katharina hatte sie eingeladen, zu kommen.

Stephanie Mangold war aus Wien gekommen, wo sie beruflich zu tun gehabt und kurz ihren Bruder besucht hatte, und sie war ihr sofort sympathisch gewesen. Sie war sehr geschmackvoll gekleidet, Katharina schätzte sie auf Ende dreißig. Für Katharina hatte sie eine kleine Aufmerksamkeit mitgebracht, ein kleines, gerahmtes Ölbild. Das Bild zeigte ein altes gelbes Haus auf einem Hügel, es lag Schnee und dahinter waren mächtige Tannen zu sehen.

»Das ist aber nett von Ihnen«, lachte Katharina, »und vor allem aufmerksam! Noch nie hat mir ein Auftraggeber gleich beim ersten Treffen etwas geschenkt.«

Sie betrachtete das Bild genau, es gefiel ihr ausgesprochen gut.

»Irgendwie sieht es aus wie die Bergmühle«, sagte sie.

»Ja, nicht wahr?«, fragte Stephanie, »aber es gibt in Österreich wahrscheinlich ganz viele gelbe Häuser auf einem Hügel. Ich habe das Bild vor Kurzem bei einem Antiquitätenhändler in Wien gefunden und es hat mich sofort angesprochen. Als ich die Fotos auf Ihrer Website gesehen habe, auf einem ist ja im Hintergrund Ihr Haus zu sehen, fiel mir auch die Ähnlichkeit auf und da dachte ich, ich nehme es Ihnen mit. Bei mir habe ich keinen passenden Platz gefunden, es ist dann nur rumgelegen.«

»Vielen Dank«, sagte Katharina und stellte das Bild an die Wand, »aber warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? Gibt es in Tirol keine Biografieschreiber?«

»Nicht dass ich wüsste, ich habe im Internet nur Ihre Adresse gefunden«, antwortete Stephanie freundlich lächelnd, »ich habe auch nicht lange weitergesucht, nachdem ich Ihre Adresse gelesen habe: Bergmühle 1. Mein Onkel Thomas ist nämlich im Burgenland auch in einer Mühle aufgewachsen. Sie hat Leitenmühle geheißen. Diese Parallele hat mir gut gefallen, ehrlich gesagt. Thomas würde es auch gefallen.«

Julius betrat das Wohnzimmer, begrüßte Stephanie Mangold und setzte sich zu den beiden Frauen.

»Würde?«, fragte Katharina irritiert. »Lebt Ihr Onkel denn nicht mehr?«

»Doch, aber es geht ihm nicht mehr so gut.«

»Ich müsste ihn aber treffen und ihm eine Menge Fragen stellen«, sagte Katharina.

»Mein Onkel hat seine Erlebnisse 1965 nach seiner Rückkehr aus Sibirien geschrieben, auf einer uralten, kaputten Continental. Es gibt also ein altes Manuskript, das ich Ihnen zukommen lassen würde, falls Sie überhaupt an dem Auftrag interessiert sind. Außerdem hat er zusätzlich auf ein Tonband gesprochen, weil das Manuskript nicht vollständig ist. Irgendein Psychiater hat ihn befragt und es aufgenommen. Das ist schon lange her, ich glaube, es war kurz nach seiner Heimkehr. Ich habe das Tonband digitalisieren und auf eine CD brennen lassen«, erzählte Stephanie, »es würde mich sehr freuen, wenn Sie zusagen. Ich möchte diese unglaubliche Geschichte aufschreiben lassen, sie muss einfach erhalten bleiben.«

»Eigentlich ist es üblich, dass ich den Betreffenden persönlich treffe und interviewe«, sagte Katharina.

»Das ist leider nicht möglich. Thomas ist bereits sehr dement«, sagte Stephanie.

Nach einer Weile fügte sie leise hinzu: »Er lebt in einem Pflegeheim. Von seiner Zeit in Sibirien will er schon lange nicht mehr reden, er weiß auch nicht mehr viel davon. Er spricht überhaupt nicht gern. Wir haben Gott sei Dank diese alten Aufzeichnungen aufgehoben.«

»Ich verstehe«, sagte Katharina und bedauerte es trotzdem. Sie liebte es, ein Gesicht vor sich zu sehen, eine Stimme zu hören, wenn ein Leben vor ihr Gestalt annahm.

Stephanie erzählte in ein paar Sätzen das Leben ihres Onkels: Dieser war 1945 als junger Mann von den Sowjets nach Sibirien verschleppt worden und erst nach zwanzig Jahren als kranker und gebrochener Mann wieder heimgekehrt. Was er dort erlebt hatte, war unfassbar. Er wollte seine Geschichte damals selbst aufschreiben, schaffte es aber nicht. Bald bemerkten die Angehörigen, dass die schlimmen Erlebnisse in den verschiedenen Lagern bei Thomas eine starke Traumatisierung hervorgerufen hatten, er hatte oft Wahnvorstellungen, hörte Stimmen. Ohne Medikamente war er nicht gesellschaftsfähig, außerdem konnte er nur eine leichte Tätigkeit ausüben. Vor ein paar Jahren kam er in ein Pflegeheim, weil man sich nicht mehr ausreichend um ihn kümmern konnte.

Dann plauderte man über Mühlen, über die Bergmühle, und wie sie sich im Laufe der Zeit durch Umbauten verändert hatte, über alte Möbel (die Frau war Innenarchitektin, Julius und sie verstanden sich prächtig), über das Wohnen am Land und seine Vor- und Nachteile, über Kinder und über belanglose Dinge. Katharina und Julius unterhielten sich so gut mit Stephanie Mangold, dass Katharina sie spontan zum Mittagessen einlud.

Danach war sie in die Küche gegangen, um zu kochen, während Stephanie von Julius durch das Haus geführt wurde. (Dabei steckte Stephanie Julius ihre Visitenkarte zu und flüsterte: »Rufen Sie mich an.«) Um eins aßen alle gemeinsam in der Küche, später trank man noch einen Kaffee im Wintergarten.

»Ich bin an dem Auftrag interessiert«, sagte Katharina beim Abschied, »allerdings würde ich erst im Herbst dazu kommen, ich habe gerade zwei Biografien in Arbeit und drei weitere sozusagen in der Warteschlange. Wäre das ein Problem für Sie?«

»Nein, gar nicht«, sagte Stephanie und reichte Katharina die Hand, »es eilt überhaupt nicht. Ich schicke Ihnen also die Aufzeichnungen im Oktober oder November zu, ja?«

Und dann war sie in ihrem schicken Mercedes weggefahren.

Jetzt saß Katharina in ihrem Arbeitszimmer und las sich die Seiten durch. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, dass sie wirklich die Unterlagen zugeschickt bekäme, sie hatte gedacht, die Frau hätte es sich anders überlegt.

Die Geschichte ergriff sofort von ihr Besitz.