NOVEMBER 1972: ARTHUR
DER STREIT DER GROSSMÜTTER

Die Maschine aus Paris landete am späten Nachmittag in Wien-Schwechat. Der zweiunddreißigjährige Arthur Bergmüller stieg mit dem vier Wochen alten Säugling, der in eine hellblaue Decke eingewickelt war, die steile Gangway hinunter. Schwer erschöpft fühlte er sich und er musste sich mit einer Hand konzentriert am Geländer festhalten, um nicht zu fallen. Der Kleine hatte den ganzen Flug hindurch wie am Spieß gebrüllt und sein Fläschchen verweigert, die Stewardessen hatten den überforderten Vater mitleidig beobachtet, die Fluggäste jedoch hatten gestöhnt und mitunter lauthals geflucht. Ein kleines Mädchen fragte ihn mit großen Augen unverblümt, ob er das Baby denn entführt habe, woraufhin Arthur aufstand und in die erste Klasse ging. Es nützte nichts, der Säugling schrie auch hier mit der ganzen Kraft seiner kleinen Lunge. Nach einigen Minuten fragte ein alter Herr aufgebracht: »Guter Mann, sagen Sie mal, wo ist denn die Mutter?«, woraufhin Arthur ihn anschnauzte, er solle sein dreckiges Mundwerk halten, und wieder in die zweite Klasse wechselte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich seinen Koffer in Händen hielt und in die Ankunftshalle trat. Seine Mutter Luzia umarmte ihn stürmisch und hatte dabei Tränen in den Augen, mehrmals flüsterte sie ihm zu: »Du wirst sehen, wenn du erst mal daheim bist, wird alles wieder gut, alles wird wieder gut«, und er wusste, dass nichts mehr gut werden würde für ihn, nie mehr.

Das schreiende Kind nahm sie ihm sofort ab. Im Wartebereich wickelte und fütterte sie es fachmännisch, bevor sie es in den mitgebrachten Korb legte; es war der riesige Henkelkorb, mit dem Arthur früher immer die Birnen im Garten hatte einsammeln müssen, um sie in den Keller zur Mostpresse zu bringen.

»Ich habe eine dicke Matratze für den Korb genäht, sie ist nicht zu hart, aber auch nicht zu weich, greif mal hinein, Säuglinge dürfen auf keinen Fall zu weich liegen, aber natürlich auch nicht zu hart«, plapperte sie, während sie den Korb leicht hin und her bewegte. Der Kleine schlief augenblicklich ein. Arthur saß teilnahmslos daneben.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Auto, er fuhr und Luzia saß neben dem Korb auf dem Rücksitz. Da es heftig schneite, dauerte die Fahrt sehr lange, erst spät am Abend kamen sie daheim an. Arthurs Vater Max stand mit einer Taschenlampe vor dem Haus, als sie parkten. Er empfand sogar so etwas wie Rührung, als der alte, große Mann auf ihn zuschlurfte und ihn in die Arme nahm, was er – soweit Arthur sich erinnern konnte – nur getan hatte, als er ein Kind gewesen war.

Beim Abendessen taten die zwei alten Leute alles, um ihn seine Trauer vergessen zu lassen: Es gab sein Lieblingsgericht – gefüllte Paprika mit Tomatensauce –, man aß im Wohnzimmer und nicht in der Küche, sogar Feuer im großen Kamin war gemacht worden, es prasselte anheimelnd und die beiden erzählten alle möglichen Anekdoten, die sich im Laufe der letzten Jahre im Ort zugetragen hatten. Trotzdem fror er die ganze Zeit.

»Lass ihn ruhig bei mir über Nacht«, sagte Luzia dann zu ihm beim Abwasch, als er sich über den Korb beugte, der auf dem Küchentisch stand, »ich bin alt und brauch nicht mehr so viel Schlaf und du siehst aus, als hättest du einiges nachzuholen.«

Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen: »Ich weiß nicht, was ich machen soll, Mutter.«

»Was du machen sollst? Dein Kind großziehen, natürlich, was sonst? Und mit der Zeit darüber hinwegkommen, das auch, das ist wahrscheinlich das Wichtigste. Und deinen Beruf ausüben. Architekten haben im Mühlviertel Seltenheitswert.«

»Ich soll dableiben, meinst du?«, fragte er erstaunt.

»Ja, natürlich, wo willst du denn hin? Ist ja genug Platz in dem großen Haus. Der ganze obere Stock steht leer, richte dir eine Wohnung nach deinem Geschmack ein. Wir würden uns sehr freuen, das weißt du, wir vier in der Bergmühle, wär das nicht schön?«

»Ich kann ihn nicht lieben«, sagte er leise.

Seine Mutter hielt beim Abtrocknen inne und legte ihm eine Hand auf die Schulter: »Das kommt schon. Bis dahin liebe ich ihn für zwei.«

Drei Tage lang befand Arthur sich in einer Art Dämmerzustand, er tat nichts anderes als schlafen, dösen, essen, seinen Eltern zusehen, wie sie ihren Enkel herzten und küssten und ihn im Kinderwagen – woher hatten sie den? – durch den glitzernden Schnee schoben, und wieder schlafen. Er dachte nichts, er fühlte nichts.

Am vierten Tag nach seiner Ankunft erhob er sich am späten Vormittag und war zum ersten Mal seit Langem in der Lage, etwas klarer zu denken. Er schlenderte im ganzen Haus herum und betrachtete jedes Zimmer genau, die Räume erschienen ihm größer und heller als in seiner Jugend. Damals hatte er sich nie vorstellen können, sein Leben in diesem düsteren Haus zu verbringen. Mit dem Kind hierbleiben? Vermutlich hatte seine Mutter recht – mein Gott, er würde ihre Hilfe brauchen – und es war das Beste für alle, vor allem für den Kleinen. Was sollte er mit ihm in einer fremden Stadt? Und nach Paris würde er auf keinen Fall zurückgehen, dort wäre alles nur schmerzhafte Erinnerung.

Die Tage vergingen. Die Sonne setzte sich wieder durch und der Schnee schmolz. Arthur ging viel alleine spazieren, half seinem Vater beim Holzhacken, begann Pläne zu zeichnen für den Umbau des Hauses. In der ehemaligen Mühle, sie war Anfang der sechziger Jahre geschlossen worden, sollte sein Architekturbüro entstehen.

Nachdem zwei Wochen vergangen waren, schaukelte an einem Montag zur Mittagszeit ein Taxi über die Landstraße auf das Haus zu. Aus dem Auto stieg eine elegant gekleidete Frau, es war Esther, Eves Mutter; am Vortag war sie von New York nach Wien geflogen und hatte in einem Hotel übernachtet, am Morgen war sie zeitig in der Früh mit dem Zug nach Linz und weiter mit dem Taxi nach P. gefahren.

Sie saß am Tisch in der alten, einfachen Küche und sah aus, als würde sie mit ihrem engen dunkelroten Kaschmirkleid, ihren kurzen blondierten Haaren und dem stark geschminkten Gesicht aus einer anderen Welt kommen. Still weinte sie vor sich hin, als ihr das Baby überreicht wurde.

Den ganzen Nachmittag ließ sie ihren Enkel, sie nannte ihn Jules, nicht aus den Augen, sie versorgte ihn hingebungsvoll und trug ihn ständig herum. Luzia bot ihr an, ein Zimmer für sie herzurichten und sie nahm das Angebot dankbar an. Beim Abendessen dominierte sie das Gespräch, sie erzählte von ihrem Mann, der vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, von ihrer Tochter Eve, wie diese als Kind mit ihrem Pony zur Schule reiten wollte. Luzia wurde immer stiller.

Allmählich hörte Esther zu sprechen auf. Arthur erhob sich, um seiner Mutter beim Abräumen des Tisches zu helfen. Luzia trug laut klappernd das Geschirr in die Küche, sie schien innerlich vor Wut zu toben, und als sie die Teller schwungvoll abstellte, sagte sie unvermittelt: »Sie will das Kind.«

»Was meinst du?«, fragte Arthur verwirrt.

»Sie will ihn mitnehmen«, erwiderte Luzia mit einem bitteren Zug um den Mund.

»Was redest du da?«,

»Du wirst schon sehen«, antwortete sie.

Luzia sollte recht behalten.

Am dritten Tag erzählte Esther mit ihrem amerikanischen Akzent, dass sie zum ersten Mal seit 1945 wieder in Österreich sei und auf Max’ aufgeräumte Frage, warum sie denn ihre schöne Heimat so lange nicht besucht habe, antwortete sie: »Seitdem man mich in meiner schönen Heimat beschimpft, verfolgt, meine ganze Familie und meinen Mann umgebracht hat und ich in einem KZ fast verhungert wäre, hatte ich kein Bedürfnis nach Besuch.«

Daraufhin folgte eine Kurzversion ihres Lebens: Esther war 1917 in Wien als Tochter eines angesehenen, jüdischen Arztes geboren worden, ihre Schwester Sarah kam vier Jahre später zur Welt. Ihre Eltern waren modern, emanzipiert und hatten das Judentum ihrer Eltern und Großeltern vollständig hinter sich gelassen, sie belächelten die Kaftanjuden aus dem Osten. Das rettete sie dennoch nicht vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, Esthers gesamte Familie kam im Konzentrationslager Dachau ums Leben. Sie selbst versteckte sich gemeinsam mit ihrem Mann, ebenso ein Jude und Rechtsanwalt, bei einem befreundeten Ehepaar außerhalb von Wien. Diese besaßen einen großen Bauernhof, Esther und Samuel hausten jahrelang abwechselnd in Keller und Heustadel. Im Frühling 1943 gebar Esther im Versteck ein Mädchen und nannte es Eva. Irgendjemand musste das junge Ehepaar verraten haben, denn ein paar Tage später wurde eine nächtliche SS-Razzia auf dem Hof durchgeführt. Esther und Samuel führte man ab, die kleine Eva schlief unbemerkt in einem alten Koffer, der zwischen Marmeladen- und Kompottgläsern auf einem wackligen Regal lag. Die Bäuerin nahm sich des Babys an, Samuel starb im Februar 1945 im Steinbruch des KZ Mauthausen, Esther überlebte schwer gezeichnet, der Gedanke an die Tochter hatte sie am Leben gehalten.

Im Juni 1945 stand sie vor dem Zaun des Bauernhofs und beobachtete das zweijährige blonde Mädchen, das fröhlich im Garten einem Schmetterling nachlief. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut herauszuschreien, als das Kind sich weigerte, von ihr in die Arme genommen zu werden. Im September flog sie mit ihrer Tochter zu entfernten Verwandten nach New York und entschied sich zu bleiben. Vier Jahre später heiratete sie den um einiges älteren Industriellen Gabriel Bloomberg, er adoptierte Eva. Weitere Kinder konnte Esther nicht bekommen und sie litt sehr darunter. Sie engagierte sich in New Yorks Kunstszene, übernahm eine angesehene Galerie und machte sich einen Namen als Kunstkritikerin. Vor allem förderte sie junge, jüdische Künstler. (Eve hatte ihm einmal erzählt, dass sich ihre Mutter von Anfang an einen Spaß daraus gemacht hatte, die Karriere von deutschen und österreichischen Künstlern zu ruinieren, und als sie sie einmal zur Rede gestellt hatte, gesagt hatte: »Das nennt man Sippenhaft, mein Kind!«)

Eve Bloomberg wuchs wie ein typisches amerikanisches Mädchen auf, besuchte ein privates College, tanzte auf Partys, studierte Sprachen. Und jetzt war sie tot, gestorben bei der Geburt des ersten Kindes.

Betretenes Schweigen folgte. Jeder starrte auf seinen Teller und kaute bedächtig, was hätte man nach solch einer Geschichte sagen sollen? Alles hätte banal geklungen, passende Trostworte gab es nicht. Nach einer Weile seufzte Max und sagte: »Ja ja, Hitlers Verbrechen waren furchtbar«, ohne dabei Esther in die Augen zu schauen.

»Hitler hat sie nicht alleine ausgeführt«, meinte diese trocken und auf ihren Enkel, den sie auf dem Schoß hielt, hinunterschauend, fügte sie hinzu: »Es waren österreichische Nationalsozialisten, die verhindert haben, dass ich meine Tochter in diesem Alter im Arm halten konnte.«

Und dann war es wieder ausgerechnet ein Österreicher gewesen, den diese Tochter vor acht Jahren auf einer Europareise kennengelernt hatte, dachte Arthur, Esther hatte ihn von vornherein schlichtweg abgelehnt und das nur aufgrund seiner Nationalität. Er erinnerte sich an die wenigen Begegnungen mit Esther, die allesamt schwierig verlaufen waren, auch weil Eve und ihre Mutter eine äußerst delikate Beziehung gehabt hatten. Esther hasste alles, was irgendwie mit Deutschland oder Österreich zu tun hatte und konnte sich nicht von ihrem Hass befreien.

Mit allen Mitteln kämpfte sie darum, dass ihre Tochter in die USA zurückkehrte, bis sie ihr schließlich den Geldhahn zudrehte, doch auch das half nichts, Eve blieb in Paris – und bei diesem Österreicher – und nahm eine Arbeit als Dolmetscherin an.

Noch am selben Abend, man saß im Wohnzimmer zusammen, begann Esther ohne Umschweife zu reden: »Ich würde Jules sehr gerne nach Fort Lauderdale mitnehmen. Er soll bei mir in Florida aufwachsen. Ihr könnt sicher sein, dass er es bei mir gut haben wird.«

Sie sprach weiter, erzählte von ihren Plänen, welches Zimmer sie für den Enkel herrichten, welche Schulen er besuchen würde. Arthur könne zu Besuch kommen so oft er wolle, damit der Junge seinen Vater kennenlerne. Die anderen schwiegen die meiste Zeit, abschließend zündete sie sich eine Zigarette an.

Arthur staunte über die Intuition seiner Mutter, die von Anfang an erkannt hatte, worum es dieser Frau eigentlich ging, und wunderte sich über seine Naivität. Und er bewunderte Esthers Taktik, zuerst von ihrem Leben zu erzählen und danach das Kind zu fordern. Denn er wusste – und seine Eltern wussten es, er sah es in ihren Gesichtern –, es war nicht nur eine einfache Bitte, sondern Esthers gesamte gewaltige Vergangenheit schwang in dieser Bitte mit und machte aus der Bitte eine Forderung, eine Forderung, die unabänderliches moralisches Recht darstellte. Einer Frau, die Unsägliches in einem Konzentrationslager erlitten hatte, dort ihre Familie und ihre große Liebe verloren hatte, den einzigen Enkel zu verweigern, war Unrecht. Nachdem man ihr die einzige Tochter weggenommen und quasi an deren Tod nicht ganz unbeteiligt war, einer Frau den einzigen Enkel vorzuenthalten, war Unrecht. Es wäre somit doppeltes Unrecht, er – der Österreicher – und alle Österreicher mit ihm standen ja geradezu in ihrer Schuld!

Aber war es nur das? Spielte nicht auch etwas anderes mit, etwas Leises, das er tief in sich spürte? War er nicht insgeheim erleichtert, das Kind bald nicht mehr sehen zu müssen, das Kind, das ihm Eve genommen hatte?

Arthur verscheuchte diese aufkeimenden Gedanken. Nein, er konnte es ihr nicht verwehren, so war es, er war ihr gar nicht gewachsen in seiner immensen Trauer und Verletzlichkeit, für einen Streit nicht gewappnet, das wusste sie, das wusste er, nur seine Mutter wollte es nicht wahrhaben, sie würde um den Enkel kämpfen. Er sah Luzia an. Die Ungeheuerlichkeit von Esthers Anliegen hatte ihr buchstäblich die Sprache verschlagen.

Das Baby schrie, Luzia ging wankend in die Küche und kehrte mit ihm zurück, Esther streckte die Arme nach ihm aus, doch Luzia ignorierte es und ging, das Kind wiegend, auf und ab. Dabei schaute sie forschend in Arthurs Gesicht und er wünschte sich weit fort.

»Sag doch was«, forderte sie Arthur auf.

Er konnte nur hilflos mit den Schultern zucken und sie schaute ihn mit großen Augen an.

Bitte fang nicht zu weinen an, Mutter, dachte er, bitte fang jetzt nicht zu weinen an, erspar mir das, ich kann nicht mehr.

»Es ist so«, fuhr Esther fort, »Ihr Sohn und meine Tochter waren ja nicht verheiratet, Jules heißt deshalb auch mit Nachnamen Bloomberg und ist amerikanischer Staatsbürger, und rechtlich ist es so, dass, wenn die Mutter stirbt, automatisch die Großeltern der Mutter …«

»Die Vaterschaft ist anerkannt«, unterbrach Luzia sie, »mein Sohn wird ihn adoptieren, dann heißt er Bergmüller, und er wird ihn großziehen.«

Die beiden Frauen fixierten sich, Arthur beobachtete, dass sie beide tief durchatmeten. Der Streit war unvermeidbar.

»Sie brauchen keine Angst haben, Jules wird es bei mir sehr gut gehen, ich liebe ihn wie einen Sohn, nicht wie einen Enkel. Ich kann ihm alles bieten, alles, er wird die besten Schulen besuchen und jede berufliche Möglichkeit haben«, sagte Esther beschwichtigend und ließ ihren Blick durch das alte Wohnzimmer schweifen.

Laut konterte Luzia: »Sie brauchen gar nicht so demonstrativ hier herumschauen, ich weiß selber, dass alles alt und bescheiden ist. Was wollen Sie damit sagen? Dass wir hier in diesem alten Haus dem Kind nicht alles bieten können, so wie Sie? Ich weiß auch, dass ich alt bin. Ich liebe Julius wie einen Enkel und nicht wie einen Sohn, denn er ist mein Enkel. Aber hier steht mein Sohn und er ist der Vater des Kindes! Sie können doch nicht wollen, dass ein Kind ohne seinen Vater aufwächst! Glauben Sie, dass Ihre Zeit im Konzentrationslager und Ihr Reichtum es rechtfertigt, einem Vater das Kind wegzunehmen? Ich finde das, ehrlich gesagt, einfach nur überheblich.«

Arthur zuckte zusammen und auch Luzia wurde in dem Moment bewusst, was sie damit ausgesprochen hatte. Sie hatte eine ehemalige Inhaftierte eines Konzentrationslagers beschimpft und als überheblich bezeichnet und das durfte man vermutlich nicht. Galt sie nun als Antisemitin?

Esther blieb die Luft weg, sie starrte mühsam beherrscht in die drei betretenen Gesichter und erhob sich langsam.

»Wie können Sie es wagen!«, zischte sie.

Luzia stand ebenfalls auf, sie bereute ihre unbedachte Aussage, wollte sich das jedoch nicht anmerken lassen und sagte ruhig: »Das möchten Sie doch nicht, dass der Kleine ohne seinen Vater aufwächst.«

»Ein Vater ist nie so wichtig wie eine Mutter und Jules soll vor allem nicht mit einem Vater aufwachsen, der ihn nicht liebt«, sagte Esther.

»Aber er liebt ihn ja«, beteuerte Luzia.

»Ach ja? Ich bin jetzt seit drei Tagen hier und kein einziges Mal hat er seinen Sohn hochgehoben«, sagte Esther.

»Ich hab meinen Enkel in den letzten drei Tagen auch nicht hochgehoben«, entrüstete sich Luzia, »das hat aber mit Ihnen zu tun, Sie hatten ihn ja die ganze Zeit in Händen.«

»Er hat ihn aber nicht einmal angesehen«, erwiderte Esther.

Arthur konnte es nicht mehr ertragen und flüchtete aus dem Raum. Vor der Haustür zündete er sich eine Zigarette an, nach einer Weile kam Esther nach.

»Du kannst es mir nicht verwehren«, sagte sie und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Er schwieg und starrte in die Ferne.

»Komm doch mit nach Florida. Ich kenne ein paar gute Architekten, die sich freuen würden, dich einzustellen. Ich miete ein Haus für dich ganz in unserer Nähe«, sagte sie.

Arthur lachte bitter auf und sah ihr ins Gesicht: »Ist dein Haus nicht groß genug?«

Esther senkte den Blick und er starrte wieder in den Garten hinaus. Er wusste, sie wollte den Jungen für sich alleine haben, das Angebot war nicht ernst gemeint, war nur pro forma, um ihr das Fünkchen schlechte Gewissen in dieser Angelegenheit zu nehmen, das schlechte Gewissen dem störenden Faktor gegenüber, ihm, den sie eigentlich ganz und gar nicht um sich haben wollte.

»Du hast recht, ich kann es dir nicht abschlagen«, sagte er leise, ohne sie anzusehen. Er wandte sich zur Tür, sie griff nach seinem Oberarm und fragte: »Wir sind uns also einig?«

Arthur nickte und ging schnell ins Haus hinein, seine Zimmertür schloss er ab.

Die ganze Nacht wälzte er sich herum, erst im Morgengrauen schlief er ein. Als er aufstand, bemerkte er als Erstes Esther, die mit ihrem Koffer aus dem Zimmer trat, sie verlangte die Geburtsurkunde und er händigte sie ihr aus, außerdem unterschrieb er ein paar Zeilen, deren Inhalt er nicht einmal durchlas. Am Nachmittag würde ihr Taxi kommen, erklärte sie, sie wollte eine Nacht in Wien in einem Hotel verbringen, da am nächsten Tag am frühen Morgen der Flieger nach New York ging.

In der Küche saß sein Vater und las die Zeitung, Arthur setzte sich zu ihm.

»Die zwei Frauen haben sich heute Morgen noch eine Schlacht geliefert«, sagte Max.

Oh mein Gott, dachte Arthur.

Sie schwiegen eine Weile, dann sagte Max: »Er ist der letzte Bergmüller, weißt du. Es wäre schön gewesen, wenn er hier aufgewachsen wäre und dann den Besitz geerbt und weitergeführt hätte. Wie du ja weißt, hat unsere Familie hier jahrhundertelang gelebt.«

Komm mir nicht damit, dachte Arthur, ich kann mit dem Buddenbrooks-Scheiß nichts anfangen.

Seine Mutter traf er vor dem Haus, sie hatte einen letzten Spaziergang mit ihrem Enkel gemacht. Erhitzt redete sie auf ihn ein, er solle es sich noch einmal überlegen, er habe eine Verantwortung und könne doch das Kind nicht einfach weggeben!

»Willst du wirklich, dass dein Sohn ohne Vater aufwächst?«, fragte sie ihn.

»Was hätte ich tun sollen? Sie hat so viel Schlimmes durchgemacht, sie hat mir leid getan. Ich konnte einfach nicht Nein sagen, ich konnte es nicht!«, sagte Arthur.

»Viele Leute haben Schreckliches durchgemacht! Bitte, Arthur, tu es nicht, ich bitte dich!«, sie sah ihn eindringlich und flehend an.

»Es wird ihm wirklich gut gehen bei ihr. Akzeptiere es. Wir werden ihn jedes Jahr besuchen«, antwortete er resigniert.

Luzia sah ihn bitter enttäuscht an, sie wusste, dass sie kein einziges Mal in die Staaten fliegen würde, dafür fühlte sich Max zu alt und alleine wollte sie ihn nicht lassen. Zwölf Jahre hatte sie mit ihrem Mann zu zweit in dem großen Haus gewohnt, sich durch die langen Winterabende geschleppt und sich danach gesehnt, dass Arthur nach Hause zurückkehrte. In den letzten Wochen hatte sie es gewagt, von glücklichen Jahren zu träumen, von einem Haus erfüllt mit Kinderlachen, von einem kleinen Jungen, der auf ihrem Schoß saß und sie Oma nannte. Sie hatte von einem Lebensabend geträumt, der gleichzeitig eine Zukunft darstellte und der sie für die jahrelange Einsamkeit entschädigen sollte. Er hatte sie um diese Jahre betrogen.

Als das Taxi kam und Esther mit dem Baby einstieg, war Arthur der Einzige, der ihr dabei half. Seine Eltern zogen es vor, im Haus zu bleiben.

In der Nacht träumte er von Eve, sie lagen auf ihrem Bett in der Wohnung in Paris und waren nur mit Unterwäsche bekleidet, es war heiß, die Fenster waren weit geöffnet, zwischen ihnen das Kind, es krähte hin und wieder vergnügt und schien schon ein paar Monate alt zu sein. Plötzlich war das Kind weg, seltsam, es flog einfach beim Fenster hinaus und obwohl er es festhalten hätte können, tat er es nicht, Eve sah ihn traurig an und verließ die Wohnung, er lag wie gefesselt im Bett und konnte sie nicht festhalten. Schweißgebadet wachte er auf, es war vier Uhr früh.

Was hatte er getan? Was um Himmels willen hatte er getan? Er hatte seinen Sohn mit einer Frau ziehen lassen, die er kaum kannte und deren selbstgerechtes, eitles Getue er nicht ausstehen konnte! Eve hätte das unter keinen Umständen gutgeheißen, das wurde ihm mit einem Schlag klar, sie war mit ihrer Mutter überhaupt nicht zurechtgekommen. Doch es war zu spät, bis er es schaffte in Wien zu sein, wäre der Kleine schon im Flieger, auf dem Weg nach Übersee. Und ihn von dort zurückzuholen, käme einer Entführung gleich, immerhin hatte er unterschrieben. Mit einer Flasche Wodka begoss er Kapitulation und schlechtes Gewissen und kotzte das Badezimmer voll.

Die Tage zogen sich zäh dahin, die Leute im Dorf schauten ihm irritiert ins Gesicht. Arthur wurde unruhig und spürte, er konnte hier nicht bleiben.

»Ich werde für eine Weile nach Berlin gehen, ein Freund von mir wohnt dort und hat mich eingeladen, in seinem Büro ist eine Stelle frei«, teilte er seinen Eltern mit.

Sie saßen beim Frühstück und sahen ihn traurig an.

Er packte seine Reisetasche und ließ sich von seiner Mutter nach Linz zum Bahnhof fahren. Er schaute auf das Haus zurück, sein Vater stand davor und winkte dem Auto nach, eine Ahnung durchzuckte ihn, sah er ihn soeben zum letzten Mal? Im Auto betrachtete er verstohlen seine Mutter, sie sah um zehn Jahre älter aus, und sie tat ihm leid.

Am Bahnsteig bat sie ihn unter Tränen: »Besuch uns manchmal, ja?«

Er versprach es. Sie zog aus ihrer Manteltasche ein Foto und überreichte es ihm mit den Worten: »Damit du deine Familie nicht vergisst.« Bei jedem Abschied hatte sie ihm ein Foto von der Familie überreicht und diesen Satz gesagt: Damit du deine Familie nicht vergisst. Sie wusste, dass Arthur dazu neigte, die Familie zu vergessen.

Er nahm das Foto an sich und betrachtete es. Er kannte es noch gar nicht, es war bald nach seiner Ankunft von einem Nachbarn gemacht worden und zeigte ihn und seine Eltern vor dem Haus stehen, die beiden strahlten stolz, Luzia hatte ihren Enkel im Arm. Lange betrachtete er es, bevor er es in seine Manteltasche steckte.

Der Zug fuhr ein und sie umarmten sich, Luzia begann zu weinen und umklammerte ihn. Beinahe mit Gewalt musste er sich losreißen. Im Zug hatte er erst den Mut aus dem Fenster zu sehen, als er losfuhr, seine Mutter stand auf dem Bahnsteig und wurde immer kleiner. Erschöpft ließ er sich auf seinen Sitz fallen.

Sechs Jahre später sollte Arthur gemeinsam mit seinem Sohn Julius am selben Bahnsteig ankommen, um für immer nach Hause zurückzukehren.