Am Nachmittag rief ein Polizist aus Kitzbühel an und überbrachte ihr die Nachricht.
Sie trat mit dem Telefon in der Hand auf den Balkon hinaus und schaute in den weißen Garten, es hatte zwei Tage lang stark geschneit und immer noch fielen vereinzelt dicke Flocken, die wie Kristalle aussahen; alles wirkte durch die weiche Schneedecke still und gedämpft. Fröstelnd fragte sie den Anrufer ein zweites Mal nach dem Grund seines Anrufs – sie hatte ihn vorher wegen der lauten Musik in der Küche nicht verstanden –, während sie sich umdrehte und die Kinder, Arthur und Olga durch die Glasscheibe beobachtete, wie sie einfach weitertanzten und sich gleichzeitig vor Lachen bogen, weil Olga gerade versuchte, Luisas Ballettfiguren nachzuahmen. Katharina würde noch jahrelang an das Paradoxe dieser Situation denken: Dass es ausgerechnet während der Weltuntergangsparty ihrer Kinder gewesen war, als sie die Nachricht erhielt.
Die Stimme am Telefon wiederholte nun das, was sie offensichtlich bereits gesagt hatte, denn sie tat es betont langsam, laut und deutlich, und es war Arthur, der ihren veränderten Gesichtsausdruck bemerkt haben musste, denn er öffnete die Balkontür, kam zu ihr und sah sie mit fragendem Gesichtsausdruck an. Auch Leonora und Luisa kamen nun näher zur Balkontür, die einen Spalt offen stand, sie wollten das Gespräch belauschen und starrten Katharina neugierig ins Gesicht. Allmählich merkte sie, dass sie ziemlich entsetzt und verwirrt aussehen musste, da sich ein verstörter Ausdruck in die Gesichter der zwei Mädchen schlich. Deshalb straffte sie ruckartig ihre Schultern und bemühte sich einigermaßen normal auszusehen, außerdem wechselte sie plötzlich ins Englische.
»An accident, did you say?«, sagte sie zwei Mal hintereinander, woraufhin die sechsjährige Luisa sich zu ihrem großen Bruder wandte, der mit seinem Freund am Küchentisch stand und sich einen Cocktail mixte, und ihn fragte: »Was heißt denn Exident?«, und Vincent posaunte laut und stolz – weil er das Vokabel wusste – zurück: »Das heißt Unfall!« Auf dem Balkon zuckten Arthur und Katharina gleichzeitig zusammen.
Die Kinder hatten wochenlang gebettelt, eine Weltuntergangsparty machen zu dürfen und schließlich hatte sie eingewilligt, am nächsten Tag war ohnehin Samstag und somit keine Schule. Sie erlaubte jedem, einen Freund oder eine Freundin einzuladen – was schließlich mit Murren akzeptiert wurde, denn eigentlich wollten alle jeweils fünf oder sechs Freunde einladen –, sie würde Pizza machen, die Kinder würden sich selbst Cocktails mixen, unerträglich laut Musik hören und später einen Film ansehen.
Am Vormittag des 21. Dezember war Katharina noch in der Stadt gewesen, hatte die letzten Weihnachtsgeschenke für die Kinder besorgt und es genossen. Im Bekanntenkreis getraute sie sich nie die Wahrheit zu sagen, nämlich dass sie es liebte, sich dem Kaufrausch uneingeschränkt hinzugeben, ohne dabei ein schlechtes Gewissen verspüren zu müssen.
Meistens nickte sie einfach nur zustimmend, wenn sich die Bekannten intellektuell gaben und der allgemeine und stöhnende Tenor ertönte, dass es so schrecklich degeneriert sei, in überfüllten Shops herumzulaufen und Kram zu kaufen, den ohnehin niemand benötigte und den man dann nach einiger Zeit sowieso wieder entsorgen musste, wo bliebe denn eigentlich die besinnliche Stille? Sie war anderer Meinung, wollte das aber nicht jedem gegenüber kundtun, vermutlich hätte man ihr nur Unverständnis entgegengebracht. Sie besorgte gerne Geschenke und liebte die glänzenden Augen der Kinder, wenn sie sie am Heiligabend auspackten.
Bevor sie heimfuhr, aß sie in einem Café eine Kleinigkeit, trank dazu Prosecco und beobachtete die Leute, saugte das Leben um sich herum auf. Sie freute sich auf die Weihnachtsferien gemeinsam mit Julius, sie wollten ihre Südostasienreise im Detail planen, ein Mal mit Freunden essen gehen und ein Mal ins Theater. Sie waren in den letzten Wochen so glücklich gewesen. Nach den Ferien würde Julius, der bereits gekündigt hatte, nur mehr drei Wochen in Tirol arbeiten müssen.
Auf der Heimfahrt hatte Katharina plötzlich einen Schwächeanfall und sie musste an den Straßenrand fahren, um sich zu sammeln. Ihr war furchtbar übel, sie hatte starke Kopfschmerzen und das beklemmende Gefühl, dass einem ihrer Kinder etwas zugestoßen war. Sie brauchte lange Minuten und viele tiefe Atemzüge, um schließlich weiterfahren zu können, und erst nach einer halben Stunde legte sich das mulmige Gefühl allmählich.
Um ein Uhr kam sie zu Hause an, die Freunde der Kinder trudelten gemeinsam mit ihr ein, und offenbar war niemandem etwas passiert. Leonora und Luisa kamen sofort aus dem Haus gestürmt, sie wollten zum Auto laufen, um in den Kofferraum zu lugen, und sie musste sie beinahe mit Gewalt ins Haus scheuchen: »Na los, ihr zwei, ab mit euch, die Geschenke bekommt ihr am Montagabend!«
»Wie oft noch schlafen?«, fragte Luisa, was Leonora mit einem »Noch drei Mal, du Doofi« beantwortete, woraufhin Luisa einen Schmollmund zog und der Schwester in die Rippen boxte. Im Flur stand bereits Olga mit verschränkten Armen, Katharina reichte ihr den Autoschlüssel und flüsterte ihr zu: »Vielen, vielen Dank!« Olga würde die Geschenke in Arthurs Schlafzimmer verstecken.
Kurze Zeit später aßen acht Kinder in der Küche Pizza und Schokomousse, anschließend wurde einstimmig entschieden, die Reihenfolge der Party-Agenda zu ändern, man wollte sich zuerst den Film ansehen und später Cocktails mixen und Musik hören.
Es war der vierte Teil einer Vampirsaga, die zur Zeit bei Kindern und Jugendlichen in aller Munde war, Leonora hatte ihn unbedingt noch sehen wollen, bevor sie sich den im Kino angelaufenen fünften Teil anschauen würde, und sie setzte sich bei ihren Geschwistern durch. Katharina setzte sich zu den sechs Mädchen, die sich auf das Sofa gefläzt hatten – Vincent hatte den Film für zu kindisch befunden und sich mit seinem Freund in seinem Zimmer verkrochen –, und musste insgeheim über Vampir Edwards unglaublichen Schlafzimmerblick und über die dahinschmelzenden Mienen der Mädchen lachen.
Der Inhalt war überwältigend schlicht: Die Hochzeit eines Vampirs mit einer Normalsterblichen wird von einer modebewussten Vampirin geplant und schließlich rauschend gefeiert, ein gut aussehender Werwolf taucht auf dieser Hochzeit auf und beschwert sich, weil sie eigentlich ihn hätte nehmen sollen, anschließend verbringen die Brautleute ihre Flitterwochen auf einer einsamen Insel vor der Küste Brasiliens, wo sie entweder Schach spielen oder miteinander schlafen, der Vampir entjungfert die Normalsterbliche und schwängert sie dann. Sie kehren nach Hause zurück, wo die Schwangere durch den Fötus beinahe stirbt, dessen Tod wiederum von Werwölfen und feindlichen Vampiren, den Volturis, gewünscht wird, weshalb sich plötzlich alle bekriegen. Das Kind kommt zur Welt und seine Mutter wird in eine Vampirin verwandelt, damit endete der Film.
»Mein Gott, ist das alles blöd!«, stöhnte Victoria die ganze Zeit.
»Ich wäre auch so gern ein Vampir, nein, lieber ein Werwolf, nein, doch lieber ein Vampir«, sagte Luisa mehrmals sehnsüchtig, »dann muss ich nie schlafen und nie essen, bin voll schnell und stark und schön.«
»Sie soll Jacob nehmen und nicht Edward, die blöde Kuh!«, schrie Leonora an die zehn Mal, »der ist ja viiiiel cooler und fescher!«
Nach dem Film hatte Katharina begonnen, mit Luisa und ihrer Freundin Greta Lebkuchen zu backen, da ihnen langweilig geworden war, sie hatten kein Interesse daran, sich wie die Großen im Zimmer zu verkriechen und Musik zu hören oder Computerspiele zu spielen. Sie stand am Küchentisch, rollte den Teig aus und beobachtete anschließend, wie die Kleinen hingebungsvoll Figuren ausstachen, einen Engel, ein Herz, ein Schaukelpferd, einen Stern. Nach und nach kamen Victoria und Leonora mit ihren Freundinnen dazu, setzten sich an den großen Tisch, und schließlich kamen sogar Vincent und sein Freund Robert aus dem Zimmer heraus.
Die beiden begannen Cocktails zu mixen, die Mädchen halfen mehr oder weniger eifrig beim Kekseausstechen mit, die ganze Zeit blödelten alle herum und obwohl die Großen schrien: »Bitte nicht, bitte nicht, wir wollen den Kack nicht hören!«, spielte Luisa ihre CD »Ö3 Greatest Christmas Hits«, die sie letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte. Alle wurden also mit John und Yokos »Happy X-Mas« und Wham!s »Last Christmas« berieselt und plötzlich, bei José Felicianos »Feliz Navidad« fingen die Jüngeren zu tanzen an, sie tanzten um den großen Tisch herum, Luisa und Greta im Ballettstil, sie machten Pirouetten, bis ihnen schwindlig wurde, Leonora und Mara hüpften herum, als wären sie in der Disco, was Victoria und Vincent mit verdrehten Augen kommentierten. Katharina genoss es, ihnen zuzuschauen, in solchen Momenten fühlte sie sich mit der Mutterschaft absolut versöhnt, sie konnte sich kaum sattsehen an ihnen und dachte, wie schade es sei, dass Julius solche Augenblicke nicht miterleben konnte, so viel hatte er in den letzten Jahren versäumt.
Luisa öffnete die Tür, als es klopfte. Arthur und Olga betraten die Wohnung, Arthur drückte Luisa an sich und Olga überreichte Katharina zwei Flaschen Sekt. Und während sie mit ihrem herrlichen Akzent zu Katharina sagte: »Na, stoßt mit uns auch auf die Katastroph’ an, zu Mitternacht gibt es uns ja nicht mehr?« und Vincent herüberrief: »Opa, wir brauchen keinen Sekt, wir haben hier Mojito und Caipirinha, was magst?«, läutete das Telefon.
»Stadtpolizei Kitzbühel hier«, sagte eine männliche Stimme, die sich anschließend sofort räusperte.
Katharina musste auf den Balkon flüchten, weil sie nicht verstehen konnte, was der Mann sagte. Auf der einen Seite sah sie die schneebedeckte Landschaft in der Dämmerung und auf der anderen Seite ihre beleuchtete Küche wie ein großes Schaufenster, in dem acht Kinder herumalberten. Arthur bemerkte ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, kam zu ihr auf den Balkon. Er sah ihr fragend ins Gesicht, als sie zwei Mal stotterte: »An accident, did you say?«
Leonora und Luisa, die neben ihr standen und sie belauschten, scheuchte sie mit einer energischen Handbewegung zurück in das Wohnzimmer, bevor sie die Balkontür zumachte. Als sie endlich verstand, was der Anrufer ihr mitteilen wollte, musste sie sich an der Glastür stützen, da alles um sie herum schwankte und für einen kurzen Augenblick schwarz wurde. Arthur packte sie am Oberarm und hielt sie fest.
Das Gespräch war beendet, Katharina ließ das Handy sinken, sie zitterte am ganzen Körper und flüsterte Arthur zu: »Da war ein Polizist, der gesagt hat, dass Julius tot ist. Und noch eine Frau. Es war ein Autounfall in Kitzbühel. Ein Lkw ist in sie hineingerast. Wir sollen so schnell wie möglich ins Bezirkskrankenhaus St. Johann kommen, um ihn zu identifizieren.«
Eine halbe Stunde später saßen die beiden im Auto und fuhren Richtung Westen. Arthur fuhr, Katharina saß neben ihm, bebend und den Würgereiz unterdrückend.
»Vielleicht handelt es sich gar nicht um – um unseren Julius«, murmelte Arthur.
»Ich hoffe, du hast recht.«
Sie saß da und starrte aus dem Fenster. So viel dachte sie und gleichzeitig nichts. Plötzlich waren da nur noch Bilder.
Die Beziehung zu Julius begann wie ein Film in ihrem Kopf abzulaufen.