THOMAS’ GESCHICHTE

Ich sitze an meiner alten Schreibmaschine und hämmere in die Tasten. Aufschreiben muss ich es, um weiterleben zu können. Meine Eltern sehen mich mit großen, entsetzten Augen an.

Ich wurde am 26. April 1925 in einer Mühle geboren.

Ja richtig, in einer Mühle.

Die Mühle, in der ich geboren wurde, ist nicht nur eine Mühle, sondern auch ein Wohnhaus, mein Elternhaus. Es ist ein sehr großes Gebäude, im westlichen Teil befindet sich die Mühle, ein bisschen sieht es von außen aus wie ein kleines Schloss. Wunderschön ist es, das große Haus im Wald und seit vierhundert Jahren im Besitz meiner Familie. Ich bin der Müllerssohn, nein falsch, ich bin der Sohn der schönen Müllerin. Einen Müller gibt es nicht. Und meine Mutter ist wirklich eine wunderschöne Frau.

Der Müller machte sich nicht einmal ein Jahr nach meiner Geburt aus dem Staub. Weil er kein Müller mehr sein wollte. Im wahrsten Sinne des Wortes machte er sich aus dem weißen Staub, um in Australien nach goldenem Staub zu schürfen. Doch, das ist wahr.

Mir fehlt er nicht, ich weiß nichts von einem Leben mit einem Vater. Ich wachse inmitten einer großen Familie auf, insgesamt sind wir neun Leute. Wir haben es gut miteinander.

Im Haus wohnen nicht nur meine Mutter und ich, sondern auch die alten Eltern meiner Mutter und ihr geistig zurückgebliebener Bruder Hermann. Außerdem eine Schwester meines abgängigen Vaters, Hedwig, deren Mann, Alfred, und die zwei Kinder, Gudrun und Rudolf. Gemeinsam betreiben Alfred und Hedwig die Mühle, meine Mutter bezahlt sie dafür gut, sie ist nämlich lieber Schneiderin als Müllerin. Für die Frauen im Dorf und in der Umgebung näht sie Kleider, Mäntel, Röcke und Blusen.

Meine Mutter schenkt mir Bücher. Ich lese gerne. Ich schreibe gerne. Mit zwölf besuche ich in der Stadt das Gymnasium und wohne bei einer entfernten Verwandten meiner Mutter, am Wochenende und in den Ferien bin ich zu Hause.

Nach vielen Jahren kommt der richtige Müller zurück, kurz vor dem großen Krieg. Sein rechtes Bein ist steif, er wurde im Goldschürflager von jemandem angegriffen und wäre dann fast verblutet, wenn ihn nicht ein Freund zu einem Arzt gebracht hätte.

Meine Mutter freut sich sehr. Viel zu sehr, finde ich. Der Mann ließ sie beinahe fünfzehn Jahre im Stich und sie nimmt ihn mit offenen Armen wieder auf! Monatelang ist sie außer sich vor Glück! Neun Monate später bekommt sie meinen kleinen Bruder. Für mich verändert sich alles. Alles.

Alfred zieht in den Krieg, seine Familie in die Stadt, sie werden nicht mehr gebraucht. Jeden Tag vermisse ich sie, vor allem Gudrun und Rudolf, sie waren wie meine Geschwister. Rudi und ich teilten uns ein Zimmer und ich las ihm oft vor oder erzählte ihm eine Geschichte.

Er liebt mich nicht. Den Vater meine ich, er liebt mich nicht. In manchen Momenten scheint es mir sogar, er würde mich hassen. Er betrachtet mich manchmal mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, der mich erschreckt.

Ich soll Alfred ersetzen. Jeden Tag rackere ich mit dem Vater in der Mühle. Er lässt mich nicht weiter das Gymnasium besuchen. Ich bin siebzehn, ein Jahr hätte mir bis zur Matura gefehlt. Ich schlafe in der Kammer neben dem Elternschlafzimmer und höre die Geräusche des Babys und der Eltern nebenan.

Es ist Krieg. Im Dorf spüren wir am Anfang nicht viel davon. Dann gibt es immer weniger Bücher zu kaufen und ich muss sie vom Schuldirektor ausleihen. Ich möchte weg vom Dorf, weit weg, alles ist mir zu eng. Dem Vater kann ich nichts recht machen, er zankt ständig mit mir und meine Mutter leidet darunter, ich sehe es ihr an. Nichts ist mehr gut. Nichts hält mich mehr hier im Dorf, in der abgelegenen Mühle, am liebsten würde ich in ferne Länder reisen. In den Krieg will ich nicht, ich bin ein Feigling. Zwei Bekannte von mir wurden schwer verwundet und erzählten Furchtbares. Einem wurden beide Beine weggeschossen.

Ich träume vom Kriegsende und davon, nach Kriegsende die Matura zu machen. Ich möchte studieren. Jedes Jahr wünsche ich mir eine Schreibmaschine zum Geburtstag. Ich möchte schreiben, ich möchte reisen. Der Vater hat genug von meinen Träumereien. Ich bin oft nahe daran, einfach von zu Hause wegzugehen, auszuwandern, in die Schweiz oder nach Großbritannien. Meine Mutter hält mich immer wieder zurück, deshalb schenkt sie mir zu Weihnachten 1942 eine Continental-Schreibmaschine. Dafür nähte sie zwei Kostüme und gab obendrein ein halbes Schwein dazu. Sie hat das ohne das Wissen des Vaters getan und er wird sehr zornig.

Ich bin glücklich und schreibe jeden Tag, beginne einen Roman nach dem anderen. Ich fasele irgendetwas zusammen, meistens von einem Helden, der eine schöne Frau vor einem Schurken rettet. Selbst habe ich noch nichts erlebt und ich sehne mich nach Abenteuern, die ich dann zu Papier bringen kann. Ich weiß noch, dass ich mich für begabt hielt und dass ich von einer Karriere als Schriftsteller träumte, von Ruhm und Geld, von den Metropolen London und New York. Lächerliche Träumereien eines Jugendlichen. Einmal gebe ich ein paar Seiten dem Hauptschuldirektor zu lesen, er schreibt selbst Gedichte, die immer wieder mal in einer Zeitschrift abgedruckt werden. Als er sie mir zurückgibt, bin ich angespannt, ich erwarte mir Lob. Doch der Mann lächelt nur mild und sagt: »Müller, bleib bei deinem Leisten!«

Ich bin verletzt, aber vor allem empört. Und ich gebe nicht auf, ich schreibe weiter.

Der Vater wird eines Tages wild, als er mich einmal mit einem Buch erwischt.

»Hältst dich wohl für was Besseres?«, schreit er mich an, »die Müllerei ist dir nicht gut genug? Du bist wie –«

Die Mutter unterbricht ihn entsetzt. Er spricht es nicht aus, wem ich angeblich ähnle.

Ohne mich kann er die Mühle nicht betreiben, denn er kann es sich nicht leisten, eine Arbeitskraft einzustellen. Ich bin sein Knecht. Mit seinem steifen Bein ist er oft hilflos, sein Gesicht verzerrt sich dann eigenartig.

Endlich ist der Krieg zu Ende. Chaos und Freudentaumel brechen aus, sogar bei uns im Dorf. Immer wieder rollen Panzer vorbei, russische und amerikanische, Horden von zerlumpten Soldaten ziehen durch unser Dorf, sie alle wollen nach Hause. Nur ich will weg. Ich will weit weg. Ich will nach New York auswandern.

Eines Tages erwischt mich der Vater beim Schreiben. Er fegt die Maschine auf den Boden und gibt mir eine Ohrfeige. Meine Wange brennt und ich bebe vor Demütigung. Ich hebe die Maschine auf und sehe, dass der Buchstabe U heraushängt. Er lässt sich nur mit Mühe hineindrücken und steht dann wieder in Reih und Glied mit den anderen Buchstaben, wie ein braver Soldat. Ich spanne ein Blatt Papier ein und schreibe ein paar Zeilen für meine Mutter. Ich teile ihr mit, dass ich mich bis nach Bremen durchschlagen will und dort ein Schiff Richtung New York besteigen werde. Mein ganzes Erspartes nehme ich mit. Nur mit einem Rucksack laufe ich von zu Hause weg. Es ist der 12. August 1945. Meine Freiheit wird nur ein paar Tage dauern.

Der Zufall will es, dass ich zwei Bekannte aus dem Nachbardorf treffe.

Was für ein grausiger Zufall!

Gemeinsam marschieren wir Richtung Stadt und hoffen auf eine Mitfahrgelegenheit. Wir sind übermütig und ausgelassen. Die beiden haben Wein mit, wir trinken die Flaschen leer. Es ist heiß und wir wollen in einem kleinen Fluss schwimmen gehen. Wir entdecken eine Gruppe junger Leute und schleichen uns heran. Es sind russische Soldaten mit zwei österreichischen Mädchen. Sie baden. Weit und breit ist niemand, sie fühlen sich sicher. Wir fühlen uns durch unsere Betrunkenheit mächtig, nehmen ihre Kleidung mit, ihrem Jeep schlitzen wir die Reifen auf. Dann laufen wir kichernd weg. Später verbrennen wir die Sachen, auch Papiere sind darunter.

Drei Tage später trennen wir uns kurz vor der Stadt. Ich sah die beiden nie wieder. Bis heute weiß ich nicht, ob sie auch verhaftet wurden. Bei einer Personenkontrolle zeigt plötzlich ein Soldat aufgebracht auf mich und redet erregt auf die anderen ein. Daraufhin werde ich verhaftet. In der Kommandantur erfahre ich den Grund. Offenbar wurden wir bei unserem dummen Streich doch von jemandem gesehen.

Stundenlange Verhöre folgen. Unter den Badenden befand sich ein Offizier, der nicht nur seinen Pass, sondern andere wichtige Dokumente bei sich trug. Man glaubt mir nicht, dass wir betrunken waren, man glaubt nicht an die Verbrennung der Kleidung samt Papiere. Man ist felsenfest davon überzeugt, dass die Sachen an andere Leute weitergegeben wurden. Mein Schweigen wird mir zur Last gelegt.

Zwei Tage später werde ich nach Wien in die Schiffamtsgasse gebracht, wo ein kurzer Prozess vor einem Militärtribunal stattfindet.

Dort sehe ich Ludovica das erste Mal.

Nach dem berühmt-berüchtigten Paragraphen 58, Spionage, werde ich zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Ich breche zusammen. Es wird mir verboten, meiner Mutter einen Brief zu schreiben. Mir kommt alles wie ein Albtraum vor.

Mit dem Zug geht es von Wien nach Sopron, in das erste Durchgangslager, dort lerne ich Fritz, Karl und Helmut kennen. Wir achten von Anfang an darauf uns nicht zu verlieren und wollen unter allen Umständen zusammenbleiben. Karl und Helmut sind Brüder, zwei Studenten, und stammen aus St. Pölten. Mit Steinen warfen sie eines Nachts auf einen russischen Panzer, dabei verletzten sie unabsichtlich einen russischen Soldaten schwer, der plötzlich hinter dem Panzer aufgetaucht war. Er starb dann im Krankenhaus. Ich mag ihre lustige, unkomplizierte Art, sie heitern mich auf. Für sie ist das Ganze ein Abenteuer, manchmal stecken sie mich damit an. Da hast du dein Abenteuer, denke ich dann. Fritz ist ein vierundvierzigjähriger Beamter, der eigenhändig einen russischen Leutnant aus einem Wiener Museum schmiss. Später behauptete dieser Leutnant, Fritz habe ihn schwer verletzt und obendrein beleidigt. Fritz ist ruhig und verschlossen, jedoch sehr gutmütig.

Dann geht es weiter nach Lemberg, in das zweite Durchgangslager, und schließlich nach Moskau, wo wir fünf Tage auf die Weiterfahrt warten. Eines Nachts werden wir abgeholt und zum Bahnhof gebracht.

Wir begeben uns auf eine lange Reise und entfernen uns immer mehr von zu Hause. Die Erzählungen der anderen Häftlinge über die Arbeitslager sind schauderhaft. Es sind Todeslager, kaum einer überlebt sie. Die furchtbare Kälte, der Hunger, die schwere Arbeit, Krankheiten. Fritz übersetzt für uns. Meine Angst und Verzweiflung steigen ins Unermessliche.

Die Landschaft, die ich durch die Ritzen der Seitenwände sehe, fasziniert mich. Diese grünen Ebenen, diese mächtigen Wälder, die riesigen Seen, die Berge mit den weißen Spitzen! Dann beginnt es zu schneien. Die Schneeflocken tanzen sanft auf uns herab, wenn wir kurz aussteigen dürfen. Während der Fahrt machen sie einen Hexentanz um den Waggon. Das alles ist unsäglich schön. Ich sauge es in mich auf.