Weil sie keine andere Möglichkeit hatte, informierte Katharina ihre Mutter am Telefon über die Tatsache, dass sie ein Kind erwarte und gerade dabei sei, gemeinsam mit Julius eine Wohnung zu suchen.
Linda war zu dem Zeitpunkt mit ihrem Freund gerade in Sydney. Das Erste, was sie ihre Tochter fragte, war: »Sag mir ehrlich, freust du dich auf das Kind? Bist du glücklich mit diesem Julius?«, und Katharina konnte nicht anders als die Fragen euphorisch zu bejahen, hätte sie sie verneint, wäre ihre Mutter sofort nach Hause geflogen, um ihrer Tochter in der kommenden Zeit beizustehen, das wusste sie und sie wollte es nicht. Linda war ihr ganzes Leben lang alleine gewesen und hatte mit achtundfünfzig – auf Kur – ihre große Liebe kennengelernt, einen verwitweten Hausarzt. Vor einem halben Jahr hatten die beiden spontan beschlossen, eine Weltreise zu machen, Katharina gönnte es ihrer Mutter, zu der sie ein gutes Verhältnis hatte, von ganzem Herzen. Zeitlebens hatte sich Linda für ihre Tochter und für die kleine Spedition ihres Bruders abgerackert.
Die Wochen vergingen zäh. Katharina verlor den Mut, den Julius ohnehin nie aufgebracht hatte. Bei der Wohnungssuche kamen sie nicht voran, entweder war die Wohnung zu teuer oder sie war absolut nicht passend. Als sie ihrem Chef schüchtern mitteilte, dass sie ein Kind erwartete, reagierte er ungehalten.
»Habt ihr Frauen nichts anderes zu tun als Babys in die Welt zu setzen? Das ist doch Irrsinn! Wie alt bist du denn?«, schimpfte er lautstark. »Du bist talentiert, Katharina, ich habe auf dich gesetzt. Ich bin wirklich enttäuscht. Aber es ist jedes Mal dasselbe, immer wenn ich eine Frau einstelle, ist sie nach kurzer Zeit weg, weil sie dem Reproduktionswahn erlegen ist. Ihr kostet mich ja Geld! Ich investiere in euch! Am Anfang bringt ihr mir nichts ein, nichts! Ihr müsst zuerst aufgebaut werden! Dann bekommt ihr schnell ein Kind und geht in Karenz. Nach zwei Jahren wollt ihr dann in den Job zurückkommen, als wär nichts gewesen, als hätte sich die Branche nicht weiterentwickelt, daheim ein kleines Kind, das ständig krank ist, und für das man Pflegeurlaub ohne Ende nimmt. Und natürlich immer Kündigungsschutz! Ihr Frauen seid selber schuld, wenn euch Firmen nicht einstellen wollen.«
Die Atmosphäre im Büro war unangenehm, sie war noch nicht so lange dort gewesen, dass sich echte Freundschaften hätten entwickeln können, die Kollegen gingen ihr, mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis im Gesicht, zumeist aus dem Weg, keinen interessierte, wie es ihr tatsächlich ging. Schnell wurde ein junger Mann eingestellt, der sie dann ersetzen sollte, ihr selbst gab man nur noch unwichtige Aufträge.
Doch das Schlimmste für sie war, dass Julius und sie oft nicht wussten, wie sie miteinander umgehen sollten, die Ungezwungenheit ihrer Affäre war wie weggewischt. Die Anziehungskraft verlor sich ein wenig. Katharina hatte kaum Lust auf Sex, Julius keine Lust auf Gespräche. Sie bemerkte, dass er eigentlich ein verschlossener, introvertierter Mann war. Sie fanden kaum Themen, über die sie hätten reden können, außer über praktische Dinge wie Vornamen, Wohnung, Möbel, Lebensmitteleinkauf.
Und noch etwas bemerkte sie: Es war keine Affäre mehr, eine Beziehung jedoch auch noch nicht. Sie bewegten sich im Schwebezustand. Verzweifelt waren sie beide. Als der Gynäkologe ihnen beim Ultraschall mitteilte, dass er nicht nur einen, sondern zwei Embryos erkennen könne, brachen sie zusammen. Julius betrank sich alleine in seiner Garçonnière bis zur Bewusstlosigkeit, sie weinte sich alleine in ihrer Wohnung in den Schlaf.
Und dann kam Arthur.
Katharina erschien er wie ein Retter in der höchsten Not.
Am nächsten Abend, Katharina war gerade bei Julius angekommen – sie hatten kurz vorher am Telefon beschlossen, noch einmal das Thema Abtreibung zu besprechen –, klopfte es an der Tür, und als Julius öffnete, stand sein Vater vor ihm. Perplex starrte Julius ihn an. Arthur hatte beruflich in der Stadt zu tun gehabt und wollte nun seinen Sohn besuchen, bevor er ins Hotel schlafen ging.
»Hallo, willst du mich nicht hereinlassen?«, fragte Arthur jovial.
In der Hand trug er einen Korb voller Lebensmittel, den er Julius überreichte.
»Danke«, sagte Julius und trat einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. Arthur betrat das winzige Zimmer und Katharina kam zögernd auf ihn zu. Sie war neugierig auf den Vater ihres Freundes, oft hatte sie Julius über ihn ausgefragt und stets nur ausweichende Antworten erhalten, außerdem hatte sie irritiert, dass Julius seinem Vater noch kein Sterbenswort über die Tatsache, dass er selbst bald Vater wurde, erzählt hatte. Sie stellte sich Arthur als alten, unsympathischen Mann vor.
Arthur ging auf Katharina zu und reichte ihr die Hand, sein Händedruck war warm, weich und fest zugleich.
»Ich bin Arthur«, sagte er.
»Katharina«, antwortete sie.
»Deine Freundin?«, fragte er Julius und dieser nickte.
»Hut ab, mein Sohn, schönes Mädchen«, sagte Arthur anerkennend, und wie er es sagte, klang es weder anzüglich noch schmeichelnd, sondern ehrlich gemeint und freundlich.
Sie saßen einander gegenüber, Arthur auf dem einzigen Stuhl und die beiden auf dem Bett, niemand wusste, was er reden sollte, Anspannung lag in der Luft. Arthur fragte, wie lange sie schon zusammen seien.
»Drei Monate«, antwortete Julius.
Katharina wurde auf einmal bewusst, wie eigenartig die Situation auf Arthur wirken musste, und ihr fiel auf, dass er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie beobachtete scharf sein Gesicht, wie er seinen Blick kaum merklich durch das kleine, unaufgeräumte Zimmer streifen ließ, wie er seinen Sohn und sie selbst heimlich musterte. Er räusperte sich.
»Ihr wirkt auf mich, als wärt ihr schon mindestens sieben Jahre lang ein Paar und hättet gerade einen riesigen Krach hinter euch«, begann er.
Julius sah ihn verwirrt an.
»Katharina hat verweinte Augen und du siehst aus, als hättest du nächtelang nicht geschlafen. Außerdem vermeidet ihr, euch anzusehen, ihr haltet Abstand von einem halben Meter zwischen euch und einander nicht an den Händen. Ein frisch verliebtes Paar stelle ich mir anders vor. Wollt ihr mir nicht sagen, was los ist?«
Julius ließ die Katze aus dem Sack.
»Katharina ist schwanger«, sagte er schnell und schluckte.
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und wir finden keine passende Wohnung und außerdem werden es Zwillinge.«
Katharina erwartete gespannt Arthurs Reaktion und bemerkte überrascht, wie sich ein Strahlen über sein Gesicht zog.
»Ich werde Großvater!«, platzte es aus ihm heraus, er stand auf und breitete seine Arme aus.
Erst Jahre später würde er ihr die Wahrheit erzählen, nämlich dass er sehr wohl geschockt und betroffen von der Mitteilung gewesen war, dass er sich jedoch nichts hatte anmerken lassen, um sie beide aufzubauen.
»Ihr habt so überfordert und unglücklich ausgesehen, hätte ich da noch Öl ins Feuer gießen sollen? Und was hätte eine Moralpredigt denn noch genützt? Ihr habt in dieser Situation einfach ein bisschen Motivation gebraucht«, sagte er.
»Du hast uns damals sehr geholfen«, antwortete Katharina.
Doch zurück ins Studentenzimmer, wo Arthur Katharina und dann Julius umarmte: »Ich gratuliere euch und auch mir! Ein Kind ist nie eine Katastrophe! Das kriegen wir schon hin, ich helfe euch.«
Julius ließ die Umarmung seines Vaters steif über sich ergehen und murmelte dann: »Wie willst du uns helfen?«
»Zuerst braucht ihr zwei mal Frischluft«, sagte Arthur fröhlich, »wir gehen feiern und das pipifein, okay? Wir werden das schön zelebrieren.«
Er führte sie zum Essen aus. Vorher musste sich Julius umziehen, sein Vater bestand auf ein frisches Hemd und Sakko. Katharina wurde nach Hause gefahren, wo sie sich zurechtmachen sollte, in einer halben Stunde würden sie sie wieder abholen.
Pünktlich auf die Minute standen die beiden Männer vor ihrer Wohnungstür und überreichten ihr jeweils einen Blumenstrauß, Julius einen überdimensional großen, hinter dem sein Gesicht nicht zu sehen war, Arthur einen etwas kleineren. Katharina konnte nicht anders, sie musste unwillkürlich kichern, als sie die beiden so vor sich stehen sah. Als Arthur ihr die Blumen mit einer angedeuteten Verbeugung und einem charmanten Lächeln überreichte, errötete sie leicht. (Es war dieses Erröten seiner Freundin, das Julius zutiefst irritieren und den Verlauf ihrer Beziehung wesentlich beeinflussen sollte. Aber dazu später.)
In gelöster Stimmung saßen sie im Restaurant und aßen zu Abend, Katharina trug ein rotes Kleid und sah großartig aus, alle drei plauderten angeregt. Julius erzählte von einer alten Schminkkommode aus dem 18. Jahrhundert, an der er gerade arbeitete, Katharina erzählte bereitwillig aus ihrem Leben, von ihrer alleinerziehenden Mutter, die vor einem Jahr auf Kur ihren Traummann kennengelernt hatte, sich frühzeitig hatte pensionieren lassen, um mit ihm eine Weltreise zu machen, von ihrem Studium, das ihr nicht gefallen hatte, von ihrer Arbeit als Werbetexterin, die ihr sehr gut gefiel.
Arthur fragte die beiden, ob sie nicht am nächsten Tag mit nach P. kommen wollten, der Nachbarssohn feiere seine Hochzeit und er und Julius seien eigentlich eingeladen. Es sei eine gute Gelegenheit für Katharina, Julius’ Heimatort kennenzulernen. Julius sah Katharina fragend an und sie nickte spontan. Sie wusste, ein Tapetenwechsel würde sie ihre Situation wenigstens für kurze Zeit vergessen lassen.
Gegen Mitternacht verabschiedete sich Arthur von den beiden und fuhr mit dem Taxi ins Hotel. Er würde sie am nächsten Morgen abholen. Gut gelaunt trällerte Katharina im Bad herum, während sie sich abschminkte. Der große, charismatische Mann mit der tiefen Stimme hatte ihr auf Anhieb gefallen.
»Dein Vater ist sehr nett«, sagte sie.
Julius antwortete nicht, vermutlich hatte er sie nicht gehört.
Am nächsten Morgen holte Arthur sie mit dem Auto ab. Sie fuhren zum Studentenheim, wo Julius ein paar Sachen zusammenpackte, und dann verließen sie die Großstadt. Nach drei Stunden kamen sie im kleinen Ort P. an. Sie schaukelten durch das Ortszentrum und Katharina betrachtete fasziniert die farbkräftigen Fassaden mit den barocken Giebeln der Häuser, den breiten Marktplatz mit Dorfbrunnen und Pranger.
»Wurde der wirklich benützt?«, fragte sie.
»Na klar«, sagte Julius, »früher hat man Verbrecher an den Pranger gefesselt, um sie zu bestrafen. Die Leute durften sie dann im Vorbeigehen beschimpfen, anspucken und mit verfaultem Gemüse bewerfen.«
»Wie viele Leute wohnen hier?«, fragte sie.
»An die zweitausend«, antwortete Arthur.
Außerdem erfuhr sie, dass die nächste Kleinstadt fünfzehn Minuten und die nächste größere Stadt, Linz, fünfzig Minuten entfernt war. Viele Leute mussten zur Arbeit pendeln.
Sie fuhren weiter, neben der Straße erstreckten sich Wiesen und Felder, alles grünte und blühte bereits, Katharina staunte, sie hatte in den letzten Wochen nicht mitbekommen, dass der Frühling gekommen war. Sie bogen ab, fuhren durch einen Wald hinauf und kamen schließlich beim Haus an. Es stand majestätisch auf einem Hügel, man sah unten in der Ferne das winzige Dorf, einige Meter hinter dem Haus rauschten mächtige Tannen.
»So, hier ist sie, die Bergmühle«, sagte Arthur, als Katharina aus dem Auto stieg.
Sie verliebte sich sofort in das alte gelbe Haus, und nicht nur in das Haus, auch die Landschaft und das Dorf hatten es ihr angetan. Der Lärm und die Hektik der Großstadt fielen von ihr ab, sie fühlte sich so ruhig und gelassen wie schon lange nicht mehr. Katharina, die ihr ganzes Leben lang in der Stadt verbracht und kaum Ausflüge aufs Land gemacht hatte, mit Ausnahme von zwei Wochen Strandurlaub im Sommer im überfüllten Bibione – mehr konnte sich Linda nicht leisten –, erlag dem Zauber des Landlebens.
Das Wochenende, das sie hier verbrachte, erlebte sie als eines der schönsten seit Jahren. Alles präsentierte sich im besten Licht, nicht nur das Wetter (blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, blühende Sträucher und Bäume), auch das Haus (Arthur hatte es kurz vorher auf Hochglanz bringen lassen, als hätte er geahnt, dass eine zukünftige Schwiegertochter mitkommen würde), die Dorfleute auf der Hochzeit (sie waren nicht nur unkompliziert, sondern auch herzlich), der angehende Großvater (er verwöhnte die beiden, wo es nur ging) und selbst Julius (er war ausgelassener als sonst).
Diese drei Tage entschieden über ihre Zukunft. Am Montagmorgen, Arthur bereitete ein Frühstück mit Rührei und Speck zu und servierte es ihnen, fragte er sie spontan: »Na, wollt ihr nicht hierher ziehen? Hier ist genug Platz. Das wäre doch die Lösung all eurer Probleme. Ich will euch nicht überreden, überlegt es euch einfach.«
Nach einer Woche in der Stadt riefen sie Arthur an und sagten, dass sie sein Angebot gerne annehmen würden. Sie wollten es beide, niemand musste den anderen überzeugen. Katharina hielt nichts mehr in der Stadt, seitdem ihre Mutter weggezogen war, nur ihrem Freundeskreis würde sie nachtrauern. Gegenüber Arthur bestand Julius darauf, einen eigenen Bereich im Haus zu haben, er wollte nicht mit seinem Vater zusammenwohnen.
»Natürlich, das möchte ich auch nicht«, sagte Arthur, »ihr bekommt die Wohnung im Erdgeschoß, ich bleibe oben.«
Sie planten Anfang Juli, zu Beginn der Karenzzeit, zu übersiedeln. Linda beglückwünschte ihre Tochter am Telefon zu ihrer Entscheidung.
Oft dachte Katharina später, als sie in den ersten Jahren mit ihrer Mutterschaft haderte, an diese Tage zurück. Sie fragte sich, was aus ihr geworden wäre, wenn diese nicht so wunderschön (beinahe kitschig schön) verlaufen wären. Was hätte sie gemacht? Würde sie immer noch in der Großstadt leben? Hätte sie abgetrieben? Wäre sie noch mit Julius zusammen? Sie wusste es nicht. Abgekämpft und müde, mit einem angekleckerten, ausgeleierten T-Shirt bekleidet, trug sie den Windeleimer voll mit angeschissenen Windeln zur Mülltonne und stellte sich vor, wie sie als gut gekleidete Karrierefrau in ihrem Büro saß, tough und erfolgreich, von ihren Kollegen bewundert, von ihren Kolleginnen beneidet. Anschließend kam sie sich kindisch vor und knallte den Deckel der Tonne zu. Sie bedauerte zu dieser Zeit, den Zauber dieses einen Wochenendes im Frühling 1995 nicht als Verblendung erkannt zu haben.
Im fünften Monat der Schwangerschaft wurde sie vom Gynäkologen in Frühkarenz geschickt, woraufhin Julius und sie beschlossen, die Übersiedelung auf das erste Wochenende im Mai vorzuverlegen. Von einem Tag auf den anderen brachen sie sozusagen ihre Zelte in der Großstadt ab, Katharinas Freundinnen waren mehr als verblüfft und ihr selbst kam es wie eine Flucht vor. Während sie durch die Wohnung ihrer Mutter ging und alles, was ihr gehörte, in Kartons packte, kamen ihr vage Zweifel. Kannte sie Julius gut genug, um mit ihm zusammenzuleben? Würde sie sich nicht einsam fühlen in diesem Dorf? Sollte sie nicht lieber ihre Mutter bitten, zurückzukommen, um hier gemeinsam mit ihr und den Babys zu wohnen und ihr zu helfen? Nein, sie musste endlich lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie dachte an die grüne Landschaft, an den rauschenden Wald und freute sich auf das neue Leben.
Arthur lieh einen Kleinbus und half den beiden, und da sie nicht viele Sachen besaßen, ging das Ganze schnell. Er hatte das Erdgeschoß neu ausmalen, Küche und Bad erneuern lassen, die weiteren Möbel wollten sie in den nächsten Wochen gemeinsam aussuchen.
Und dann schaukelte Katharina buchstäblich der Geburt entgegen. An zwei Obstbäumen im Garten hing eine Hängematte, in der sie viele Stunden verbrachte, lesend, dösend, schlafend, träumend. Julius fand lange Zeit keine Arbeit, Arthur bot ihm eine Teilzeitstelle in seinem Architekturbüro an, er hätte jemanden gebraucht, der die Büroarbeiten erledigte, doch Julius lehnte ab.
Schließlich fand er eine Stelle in einer großen Versicherung und wurde dort als Vertreter eingeschult. Die Arbeit machte ihm keinen Spaß und er hoffte, bald etwas anderes zu finden, doch er wusste nicht so recht, welche berufliche Richtung er einschlagen sollte. Am liebsten hätte er als Restaurator in der Werkstätte gearbeitet, in der er als Gymnasiast schon in den Ferien gejobbt hatte, doch dort hätte er nicht genug verdient, um eine Familie ernähren zu können.
Im Umgang mit Fremden war Julius unsicher und schüchtern, außerdem fehlte ihm jeglicher Geschäftssinn, er sagte den Leuten ehrlich, ob sie tatsächlich eine Versicherung benötigten und welche für sie am besten wäre, das gefiel den meisten, weshalb sie lieber ihre Versicherungen bei ihm abschlossen als bei seinen erfahrenen, wortgewandten Kollegen. Manche, vor allem ältere Leute, waren auch neugierig auf den letzten Bergmüllerspross und verlangten in der Versicherung dezidiert nach ihm. Ihm selbst sagten sie dann unverblümt ins Gesicht: »Deine Großeltern waren sehr fleißige und tüchtige Menschen, mal schauen, was ihr Enkel auf dem Kasten hat.«
Er verdiente gut und das entschädigte ihn für die Anspannung, die er jedes Mal empfand, bevor er auf die Klingel neben einer Haustür drückte.
Von den Kollegen in der Versicherung kümmerte sich der vierundvierzigjährige Robert am meisten um ihn. Die beiden verstanden sich von Anfang an sehr gut.
»Du erinnerst mich an mich selbst, als ich jung war«, sagte er zu Julius bei einem Bier, »bei jeder Kundschaft so nervös und so voller Schuldgefühle, weil man ihnen etwas verkaufen will, ja muss, weil man sonst gekündigt wird! Du musst das echt ablegen, sonst wirst du verrückt! Scheiß drauf!«
Dieses »Scheiß drauf« war Roberts Lieblingsspruch und gefiel Julius.
Meistens konnte er zu Mittag nicht nach Hause kommen, weshalb Katharina erst am Abend kochte. Oft kamen Bekannte von Julius oder Arthur aus dem Dorf vorbei, ohne sich anzukündigen, und brachten ihr kleine Geschenke für die Babys. Katharina vermutete, sie waren neugierig auf die große blonde Frau aus der Stadt, so wurde sie von vielen bezeichnet, und wollten sie kennenlernen.
Wenn Julius am späten Nachmittag nach Hause kam, fuhren sie manchmal ins Schwimmbad (das Arthur vor vielen Jahren geplant hatte), oder sie gingen im Wald spazieren oder sie fuhren mit Arthurs Auto in die Stadt und sahen sich einen Film im Kino an. Manchmal luden sie ehemalige Klassenkameraden von Julius ein. Es ging ihnen gut.
Für Katharina änderte sich das schlagartig, als die Zwillinge auf die Welt kamen.