1973–1987: KATHARINA
EIN VATER NAMENS VINCENT

Katharinas Kindergartenfreundin hieß Barbara und wurde jeden Morgen, wenn ihr Vater sie im Kindergarten ablieferte, von diesem hoch in die Luft gewirbelt. Jedes Mal schaute Katharina neidvoll dem Spektakel zu: Der riesige, bärtige Mann mit dem Bauchansatz – er sah aus wie ein gemütlicher Bär, stellte Katharina fest – packte mit beiden Händen seine Tochter um die Taille, wobei sich seine Finger berührten, so groß waren seine Pranken, bewegte den schmalen Körper ein paar Mal auf und ab, wobei er und sie »Huuuh, huuuh« riefen. Dann plötzlich warf er sie, sie flog mit ausgebreiteten Armen ungefähr einen Meter hoch, um vom Vater wieder aufgefangen zu werden, ihre Haare wippten auf und ab und sie lachte glücklich.

Katharina fragte ihre Mutter zum ersten Mal, warum Barbara einen Vater, sie jedoch keinen habe, als sie drei Jahre alt war. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Linda ihre Tochter in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. Weil dabei die Augen ihrer Mutter tieftraurig blickten, wagte sie nicht, noch einmal zu fragen. Erst in der Volksschule erfuhr sie ein bisschen etwas: Es war ein Urlaubsflirt in Rom mit einem jüngeren Mann gewesen, der ein paar Tage angedauert hatte, den Mann hatte Linda nachher nie wieder gesehen.

Katharina wurde am 1. März 1973 geboren, ihre Mutter war bei der Geburt achtunddreißig Jahre alt. Linda blieb ein Jahr bei ihrer Tochter zu Hause und begann dann wieder als Sekretärin in der Speditionsfirma ihres Bruders zu arbeiten. Dort saß sie in einem winzigen, finsteren Büro und kümmerte sich um alle geschäftlichen und verwaltungstechnischen Dinge der kleinen Firma, die anfielen, um Termine, Angebote, Rechnungen, Dienstpläne, Lohnabrechnungen, anstehende Reparaturen der Lastwagen. Ihr Bruder Harald verzweifelte in dem einen Jahr, in dem Linda bei dem Baby zu Hause blieb, das Büro versank im Chaos.

Katharina wuchs behütet in einer Dreizimmerwohnung am Rand der Großstadt auf, es fehlte ihr an nichts. Ihre kleine, rundliche Mutter mit den roten Haaren und dem leichten Sprachfehler (sie konnte den Buchstaben S nicht richtig aussprechen) war eine lustige Person, ihr Lachen begann als tiefes Glucksen im Hals, bis es glockenhell aus ihr herausbrach, es war ansteckend und begleitete Katharina während ihrer ganzen Kindheit und Jugend. Ständig hatte Linda Freundinnen bei sich eingeladen, sie tranken Kaffee, kochten gemeinsam, lautstark die Romane von Barbara Cartland und Danielle Steel diskutierend, dabei wanderte Katharina von einem Schoß zum anderen und wurde geherzt und gedrückt, ab und zu ging die Frauenrunde in eine Operette, dann blieb sie bei ihrem Onkel Harald.

Linda versuchte ihrer Tochter fast alles zu ermöglichen, was sie sich wünschte. Die beiden hatten ein enges Verhältnis und sprachen über alles, nur bei einem Thema wich Linda aus, nämlich, wenn Katharina Genaueres über den fehlenden Vater hören wollte. Jedes Mal hatte Linda diesen traurigen, verstörten Ausdruck in den Augen, der so gar nicht zu ihr passte, sodass Katharina eines Tages die Ahnung durchzuckte, ihr Vater könnte im Gefängnis sitzen oder ihre Mutter könnte vergewaltigt worden sein.

Und doch träumte sie von einem Vater, von einem, der sie von der Schule abholte, mit ihr Ausflüge machte, ihr ein Pony schenkte. Sie stellte ihn sich groß vor, blond, mit blitzenden blauen Augen. Da sie selbst ihrer Mutter kein bisschen ähnelte, musste sie ihr Aussehen von ihrem Erzeuger haben.

Eines Abends, als sie vierzehn war, ließ sie jedoch nicht locker, sie nahm das Gesicht ihrer Mutter in die Hände und insistierte: »Ich will alles von meinem Vater wissen. Es ist mir wichtig und ich bestehe darauf. Wenn du mich nicht verlieren willst, sagst du mir jetzt die Wahrheit.«

Sie hatte die Sätze einen Tag zuvor in einem Schnulzendrama im Fernsehen gehört. Angesichts der pathetischen Worte ihrer Tochter hätte Linda am liebsten zu lachen begonnen, obwohl ihr nach weinen zumute war. Eingewickelt in zwei Decken und Tee schlürfend saßen sie auf dem Sofa und Linda begann zu erzählen.

Mit dreiundzwanzig verliebte Linda sich in einen Jurastudenten aus sehr gutem Hause. Sie waren neun Jahre ein Paar, bis der junge Rechtsanwalt sich dem Druck seiner Familie beugte und sich mit der Tochter einer befreundeten, angesehenen Ärztefamilie verlobte. Linda war verletzt, erholte sich aber schnell, dafür war sie ein viel zu fröhlicher Mensch, sie hatte die Trennung kommen sehen, ihr Freund war kein starker Charakter gewesen, der seinen Eltern dauerhaft hätte Paroli bieten können. Sie lebte ihr Leben weiter, traf ihre Freundinnen und ging viel aus. Fünf Jahre später meldete sich der Verflossene tränenreich am Telefon, er sei so unglücklich mit seiner Frau, er wolle sie treffen, in Rom, für ein paar Tage, er lade sie ein. Sie sagte zu, bestand aber darauf, selbst zu zahlen, sie war neugierig auf ihn. Doch schon beim ersten Zusammentreffen, er holte sie vom Bahnhof ab, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, ihr ehemaliger Freund war nicht nur aufgedunsen und glatzköpfig geworden, sondern auch derb und schmierig, er wollte sich nicht unterhalten, sondern gleich zur Sache kommen. Er machte einen schlüpfrigen Witz nach dem anderen und griff ihr nach ein paar Minuten an die Brust. Sie wehrte ihn ab, daraufhin packte er sie mit der rechten Hand am Hinterkopf und drückte ihr Gesicht an seines. Mit seiner Zunge im Mund würgte sie herum, bis sie sich mit den Fäusten freigeboxt hatte. Sie standen in einer abgelegenen, dunklen Gasse, kein Mensch war weit und breit. Sie fühlte sich gedemütigt und sagte ihm, dass sie das Wochenende alleine zu verbringen gedenke, hob ihre Reisetasche auf und stapfte davon. Er ließ es sich nicht gefallen, eilte ihr nach, packte sie an den Schultern und bedrängte sie, indem er sie fest umarmte, an sich drückte, ihr auf den Hintern griff und sie wieder und wieder küssen wollte. Dann ging alles sehr schnell. Ein Mann kam herbeigelaufen und rief auf Englisch: »Lassen Sie sie in Ruhe!« Als der Anwalt nicht reagierte, wurde er von Linda weggezerrt und in die Magengrube geboxt, woraufhin er in die Knie ging.

Ihr Retter nahm die geschockte Linda sanft an der Hand und führte sie aus der Gasse weg, ihre Reisetasche tragend. (Spätestens bei der Formulierung »Er nahm mich sanft an der Hand« wusste Katharina, dass ihre Mutter log.)

Er war ein Amerikaner, zehn Jahre jünger als sie, er lebte seit Kurzem in Los Angeles und arbeitete bei einer Filmproduktionsfirma als Mädchen für alles, manchmal auch als Statist. Er wollte unbedingt Schauspieler werden. Seit einigen Wochen war er alleine in Europa unterwegs, um sich selbst zu finden, wie er sagte. Kurzerhand brachte er sie in sein Hotel, wo noch Zimmer frei waren. Die nächsten Tage verbrachten sie gemeinsam in Rom, herumschlendernd, schauend, Eis schleckend. Der junge Mann war fasziniert von ihren dicken roten, gewellten Haaren, die bis zur Taille reichten, sie war fasziniert von seiner Größe, er war beinahe dreißig Zentimeter größer als sie, und von seinen Muskeln. Er war sehr attraktiv, blond und blauäugig – wie Katharina.

Am zweiten Abend passierte es, sie tranken zu viel Wein und verbrachten dann die Nacht gemeinsam in seinem Zimmer, auf die noch zwei weitere Nächte folgten. Es waren wunderschöne Liebesnächte, die Linda auf keinen Fall in ihrem Leben missen mochte, der Amerikaner war liebevoll und sinnlich. Dann musste er nach Neapel weiter, und sie selbst musste auch zurückfahren, ihr Urlaub war zu Ende. Bewusst tauschten sie weder Adresse noch Telefonnummer, sie wussten, das Ganze hatte keine Zukunft, vor allem wegen des Altersunterschieds. Keiner wollte der Urlaubsromanze ernüchternde Besuche im Alltag des anderen folgen lassen. Sie küssten sich leidenschaftlich auf dem Bahnsteig, bevor der Amerikaner in den Zug sprang und sie ihm nachwinkte. Drei Wochen später stellte sie in Wien fest, dass sie schwanger war, und freute sich von Anfang an auf das Kind. Es war gut so für sie. Sie war alt genug, sie fühlte sich bereit für ein Kind, auch dafür, es alleine großzuziehen. Manchmal fühlte sie sich aber Katharina gegenüber schuldig, weil diese ihren Vater nicht kennenlernen konnte.

»Wie hat er geheißen?«, fragte Katharina.

»Vincent«, antwortete Linda.

Vincent, ihr Vater sollte also Vincent heißen.

»Und wie noch?«

»Wir haben uns die Familiennamen nicht gesagt.«

»Was weißt du sonst noch von ihm? Wo wurde er geboren? Wie viele Geschwister hatte er? Was machten seine Eltern?«, fragte Katharina weiter.

»Mein Liebling, ich weiß leider wirklich nur seinen Namen. Wir haben über die Vergangenheit nicht geredet, nur über die Zukunft, über unsere Träume und Pläne.«

»Welche Pläne hatte er denn?«

»Er wollte nach seiner Europareise endlich als Schauspieler richtig durchstarten, die Schauspielerei war sein großer Traum.«

Ihr Vater hieß also Vincent und war ein großer blonder Amerikaner, der beim Film arbeitete, zumindest gearbeitet hatte. Fast hätte sie patzig gesagt: »Wenn das stimmt, bin ich die Kaiserin von China«, doch sie hielt sich zurück, sie spürte, dass an der Geschichte ihrer Mutter etwas nicht stimmte und ahnte, dass ihre Mutter aus Liebe zu ihr log. Ein strahlender Held (noch dazu ein Schauspieler aus Kalifornien!), der sie vor Zudringlichkeiten eines schmierigen, glatzköpfigen Anwalts rettete, sie sanft an der Hand nahm, sie genau drei Mal sinnlich liebte und den sie noch einmal leidenschaftlich küsste, bevor er im Zug verschwand? Linda hatte eindeutig zu viele Liebesromanzen gelesen.

Sie war sich sicher: Ihre Mutter hatte ihr nicht die Wahrheit erzählt. Wenn man mit einem Mann mehrere intensive Tage und Nächte verbringt, erzählt man sich doch den Familiennamen, den Geburtsort, die Geschwisteranzahl oder welchen Beruf die Eltern ausübten, dachte sie. Sie erlebte ihre Mutter täglich als eine sehr offene, ehrliche Frau, die schimpfte, wenn sie ihre Tochter bei einer Lüge ertappte. Warum log sie jetzt? Warum durfte Katharina die Wahrheit nicht wissen? Weil sie schrecklich war? Sie musste schrecklich sein.

Sie erzählte Onkel Harald, dass sie ihrer Mutter die Version mit dem Urlaubsflirt in Rom nicht glauben könne und bat ihn ernst um die Wahrheit: »Ich bin vierzehn, Onkel Harald, ich hab wirklich ein Recht zu wissen, wer mein Vater ist. War es ein One-Night-Stand und schämt sich Mama deswegen? Oder ist er im Gefängnis?«

Harald beteuerte ihr, dass Linda die Wahrheit gesagt hatte, aber an seinem Stottern merkte sie, dass auch er log. Ihr Onkel war ein einfacher, gutmütiger Mensch und Eloquenz gehörte nicht zu seinen Eigenschaften.

»Du lügst mich an«, sagte sie ihm unverblümt ins Gesicht, »wurde Mama vergewaltigt, ist es das?«

Bei diesen Worten zuckte er zusammen und dieses Zucken verriet ihr alles. Es war also eine Vergewaltigung gewesen, ihre fröhliche, lachende Mutter war vergewaltigt worden und sie, Katharina, war nicht ein Kind der Liebe, sondern das Produkt von physischer Gewalt. Sie musste schlucken. Ihr Onkel beobachtete sie und nahm schließlich ihre beiden Hände in seine.

»Katharina«, sagte er bedächtig und sie merkte, dass er nach Worten suchte, »deine Mutter liebt dich über alles und das ist das Wichtigste, oder nicht? Stell keine Fragen mehr. Man muss nicht immer alles genau wissen.«

Sie stellte keine Fragen mehr. Sie wollte die Einzelheiten der grauenhaften Szene nicht wissen, sie sich nicht ausmalen, es war ihr genug zu wissen, dass der Mann groß, blond und blauäugig gewesen war. Ihr Aussehen begann sie zu hassen. Sie färbte sich die Haare schwarz.

Ihre Mutter liebte sie umso mehr. Katharina bewunderte die Entscheidung, nach einem derartig traumatischen Erlebnis die Schwangerschaft zu akzeptieren und staunte über die bedingungslose Liebe, die ihr täglich entgegengebracht wurde.

Sie wusste, Linda hatte ihr mit diesem blonden amerikanischen Retter in der Not namens Vincent einen Vater schaffen wollen, mit dem sie sich identifizieren konnte, und staunte über diese psychologische Raffinesse, sie hätte sie ihr nicht zugetraut. Linda hatte dem erfundenen Vater Attribute auf den Leib geschneidert, die der Vierzehnjährigen in ihrer Lebenswelt attraktiv erscheinen mussten: ein starker, gut aussehender Beschützer der schwachen Frauen, der Schauspieler in Hollywood war. Katharina liebte Hollywoodfilme und wollte unbedingt einmal nach Kalifornien reisen.