Meine Mutter sitzt da und schaut mich gequält an. Mein Vater macht mir ein Frühstück. Er redet die ganze Zeit mit mir, mit sanfter Stimme. Er erzählt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Sterben der kleinen Mühlen begann, nur einige große konnten sich in der Gegend halten. Das ist nicht dasselbe, sagt er. Eine Fabrik produziert das Mehl mit einer Menge Maschinen. Eine Fabrik hat keinen Müller, der mit dem Bauern spricht, per Handschlag etwas vereinbart. Keinen, der die schweren Säcke schleppt. Keinen, der den Geruch des Getreides einatmet, wenn er den Sack öffnet. Keinen, der das Geräusch der Walzenstühle hört. Keinen, der ständig mit weißem Mehlstaub bedeckt ist. Staub, der sich in jede Hautfalte einnistet.
Er sieht traurig aus. Mir tut es auch leid. Ich habe mich auf die Mühle gefreut. Was sonst könnte ich arbeiten? Jetzt gibt es für mich hier nichts mehr zu tun. Nichts.
Ich habe nur ein paar Stunden geschlafen. Lu hat mich besucht und ich habe geweint. Weiterschreiben muss ich. Es treibt mich zur Schreibmaschine. Es muss raus.
Wir waren wochenlang unterwegs.
Bei zwei kleinen Baracken kommen wir an. Aus einer treten drei Offiziere und ein paar Soldaten. Ich erkenne Teljan. Wir werden auf einer Liste abgehakt, so mancher wird durchgestrichen.
»Scheint so, als wären wir am Ziel«, sagt Fritz.
Von siebenhunderteinundvierzig Mann kommen sechshundertzwölf an. Erstaunt sehen wir uns um. Wo ist das Lager? Es gibt keines. Nur das grüne Moos unter den Füßen und hinter uns die Waldtundra, vor uns die Tundra. Ungefähr hundert Meter weiter nördlich erhebt sich ein einsamer Berg, er ist nicht besonders hoch und kuppelförmig. Ein Fluss fließt nicht weit von uns, an diesem dürfen wir uns waschen. Anschließend schabt uns der Friseur die Körperbehaarung ab. Wir wollen unsere Sachen waschen, doch dafür ist es noch zu kalt. Wir werden vertröstet. Mit einem stinkenden Pulver wird die Kleidung entlaust.
Wieder stellen wir unsere Zelte auf, dieses Mal scheint es für länger zu sein. Um das provisorische Lager herum gibt es weder Wachtürme noch Stacheldraht. Im Umkreis von fünfzig Metern dürfen wir uns frei bewegen.
Drei Tage lang dürfen wir uns ausruhen, dann teilt man uns in zwei große Gruppen. Die eine Gruppe bleibt im Zeltlager, die andere wird von Soldaten weggeführt. Wir sehen uns alle ratlos an. Niemand sagt, wohin es geht. Auch Helmut ist dabei, er wirft einen verzweifelten Blick auf uns zurück. Fritz, Kristjan und ich haben Glück, wir bleiben zusammen. Die beiden bringen mir weiterhin Russisch bei und ich lerne rasch.
Ich fühle mich von Teljan beobachtet.
Wir müssen uns über den Sommer das Lager selbst bauen. Die Zeit ist knapp, Ende September beginnt der nächste Winter. Das Wetter ist mild, die Arbeit erträglich, nur die Mückenschwärme sind eine Plage. Sie beißen uns regelrecht blutig, schließlich gibt man uns Netze, die wir über den Kopf stülpen können. Alle zwei Wochen kommt Nachschub mit Proviant und Ausrüstung für das Lazarett. Große, schwere Kisten und Säcke stehen da, wenn wir aus dem Wald zurückkommen. Einmal ist ein Jeep dabei, ein anderes Mal sind Möbel darunter. Wir fragen uns, wer das alles bringt. Und vor allem wie? Nie sehen wir andere Häftlinge ankommen. Nur ab und zu fällt uns auf, dass die Wachsoldaten mehr werden, dass fremde Gesichter dabei sind. Für uns ist es ein Rätsel.
Einmal erzählt einer aufgeregt, dass er die anderen Häftlinge gesehen hat, in der Nähe dieses seltsamen Berges. Wir rätseln herum, ob dort noch ein zweites Lager errichtet wird.
Ich bin einer Holzfällerbrigade zugeteilt. Jede Brigade bekommt einen Brigadier zugeteilt. Der Brigadier ist für alles verantwortlich, besonders für die Normerfüllung, dafür erhält er eine größere Tagesration. Unser Brigadier heißt Stepan und ist ein besonnener Mann Mitte vierzig. Wir sind den ganzen Tag im Wald und fällen Bäume.
Die Soldaten, die uns begleiten, sind freundlich zu uns. Sie wissen, dass von allen Häftlingen, die es in Sibirien gibt, wir es am schlechtesten getroffen haben.
Dass es noch schlechter werden wird, wissen wir nicht. Wir haben keine Ahnung und keine Zeit, etwas zu hinterfragen. Am Abend fallen wir todmüde in unsere Zelte. Einmal hat Kristjan den Mut, einen Soldaten nach der anderen Gruppe zu fragen, wo sie sind. Der Mann lacht nur auf und wir sehen seine Goldzähne.
»Berg!«, sagt er nur und deutet Richtung Norden.
Manchmal sitze ich einfach für ein paar Minuten in der Sonne. Man lässt mich. Ich bin der Jüngste in der Brigade. Die Landschaft ist schön, in der weiten Ferne glitzern weiße Berge. Ich überlege eine Flucht. Und weiß gleichzeitig, dass ich keine Chance hätte zu überleben.
Manchmal werden meine Augen nass, wenn ich zu sehr an meine Mutter denke.
Manchmal muss ich in der Nacht meine Tränen zurückhalten, um nicht laut aufzuschluchzen.
Manchmal weiß ich vor lauter Verzweiflung weder ein noch aus.
Manchmal träume ich von Ludovica. Ich weiß, ich muss sie vergessen.
Die Baumstämme sollen einen bestimmten Durchmesser haben, damit sie für den Barackenbau geeignet sind. Alles machen wir mit der Hand, es gibt keine Maschinen. Nachdem der Baum gefällt ist, werden die Äste abgehackt und klein geschnitten. Sie sind das wertvolle Brennholz. Die Rinde wird von den Baumstämmen geschält und diese dann ins Lager gezogen. Dort bauen weitere Brigaden Baracken und Blockhütten. Zuerst werden eine Küchenbaracke und ein großes Lazarett errichtet, es hat mehrere Räume und einen kleinen Operationssaal. Auch ein Klubhaus wird erbaut, ein Badehaus, ein großer Lagerraum. Es entsteht ein kleiner Ort mitten im Nirgendwo. Die meisten der Häftlinge sind ehrgeizig und legen all ihre Sorgfalt in den Bau dieser Wohnräume.
»Reißt euch zusammen!«, sagen sie immer wieder, »es soll behaglich sein. Wahrscheinlich werden wir hier Jahre verbringen. Vielleicht kommen später Frauen nach. Sollen sie es nicht ein bisschen gemütlich haben?«
»Aber wozu sind wir hier?«, fragen einige Skeptiker, »gibt es hier in der Nähe eine Goldmine? Oder eine Kolchose, auf der wir arbeiten sollen? Oder irgendein Kohlebergwerk? Warum um Gottes willen sind wir hierher ans Ende der Welt gebracht worden?«
»Das ist doch klar, wir sollen hier Holz fällen«, meint jemand, »es ist ein Holzfällerwerk. Die Baumstämme werden dann im Sommer mit dem Schiff nach Magadan gebracht. Von dort werden sie überallhin geliefert.«
»Du Blödmann!«, lacht einer, »um Magadan herum gibt es Bäume so weit das Auge sehen kann!«
Mittlerweile kann ich einfachen Gesprächen folgen.
Ich lerne viel in diesem Sommer. Ich bin still und höre zu. Ich höre von der Geschichte der Sowjetunion, von den Bolschewiken, von Lenin, von Stalin. Man erzählt mir von den Blatnye, Verbrechern, die einer klar strukturierten und solidarisierten Organisation, der Mafia ähnlich, angehören, einer Art Geheimbund mit strengen Gesetzen und Prinzipien und einem eigenen Jargon. Es sind die Aristokraten der Verbrecherwelt, die einander sofort an bestimmten Gesten erkennen. Gegen sie führt die Regierung einen gnadenlosen Kampf. Kristjan sagt mir, dass sehr viele Blatnye bei uns sind und ich mich vor ihnen in Acht nehmen soll.
Als es Ende September zu schneien beginnt, hoffen wir auf die Übersiedelung in die Baracken. Man fordert uns auf, die Zelte abzubauen und sie ordentlich in der Lagerhütte zu verstauen.
»Na endlich bekommen wir ein Dach über den Kopf!«, freuen sich viele.
Doch wir werden bitter getäuscht. Man fordert uns auf, unsere Habseligkeiten zu packen und führt uns weg, sogar die drei Offiziere gehen mit. Die Soldaten, die uns begleiten, sind bewaffnet, das ist uns neu. Wir gehen Richtung Berg. Viele von uns drehen sich wütend um und beginnen mit den Soldaten zu streiten, und diese versetzen ihnen Tritte gegen das Schienbein. Als einer nicht aufhören will, wird die Pistole auf ihn gerichtet. Daraufhin gehen alle ohne zu murren weiter, jedoch mit verbissenem Gesichtsausdruck. Wir gehen nicht weit, es sind an die hundert Meter, schätze ich. Wir kämpfen uns durch dichtes Sträuchergestrüpp.
Plötzlich bleiben wir stehen, man teilt uns in drei gleich große Gruppen auf. Fritz, Kristjan und ich haben wieder das Glück, dass wir gemeinsam in der ersten Gruppe sind. Die Gruppen gehen auseinander, unsere wird von Teljan begleitet. Das Gestrüpp hört auf, wir stolpern über Gestein leicht bergauf.
Man führt uns in den Berg hinein. Es ist der Eingang in einen Bergwerksschacht, am Anfang noch breit und hoch, dann immer schmäler und niedriger. Es wird Nacht um uns. Niemand zündet eine Laterne an. Ich halte mich an der Jacke des Vordermanns fest, der hintere hält sich an mir fest. In einer langen Schlange wanken wir immer tiefer in den Berg hinein. Es ist so dunkel, dass wir nicht wissen, was der nächste Tritt bringt.
Mit einem Ruck bleiben die vorderen stehen. Ein Licht wird angezündet, dann noch ein weiteres. Wir sehen uns verdattert um. Wir stehen in einer Kaverne, der Höhlenraum ist nicht ganz zwei Meter hoch. Die Größeren von uns können nur gebückt stehen. Ich erblicke einen zweiten Stollengang. Vor dem Stollen, der ins Freie führt, steht ein kleiner Tisch, darauf das flackernde Licht, daneben zwei wacklige Schemel. Das andere steht auf dem Boden neben dem zweiten Stolleneingang gegenüber.
Teljan beginnt umständlich zu erklären. Dass wir hier in Zukunft wohnen werden. Hier drinnen ist es wenigstens warm, denn der Winter hier oben im Norden ist unbarmherzig.
»Heute habt ihr frei«, fügt er abschließend hinzu.
Außer den beiden Tischen gibt es kein Mobiliar, es gibt weder Pritschen noch Stroh auf dem Boden. Alles ist nackter Fels. Ungläubigkeit macht sich in unseren Gesichtern breit. Kristjan jault auf und schreit: »Das könnt ihr nicht machen, ihr Schweine!«
Die Wachsoldaten selbst sind verlegen und sagen nichts mehr. Alle, außer zwei, verlassen die Kaverne. Mit Maschinenpistolen in der Hand setzen sie sich an den Stolleneingang, der ins Freie führt. Ich kauere mich bald auf den Boden und lehne mich an die Felswand. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Andere stehen stundenlang unschlüssig herum und ereifern sich. Bei so manchem kommen Tränen der Wut. Einer, er heißt Iwan und ist ein Hitzkopf, stellt sich vor den Soldaten auf und verlangt, ins Freie gelassen zu werden.
»Wir bauen monatelang Hütten, um dann hier zu verrecken, das darf doch nicht wahr sein!«, schreit er.
Dann geht er auf einen los und will ihn am Kragen packen. Ein ohrenbetäubender Knall zerreißt mir fast das Trommelfell, Iwan liegt röchelnd am Boden und stirbt. Plötzlich ist es totenstill. Alle drängen sich zurück an die Felswand. Der Soldat fuchtelt mit der Pistole herum.
»So ergeht es jedem, der keine Ruhe gibt! Findet euch damit ab!«, sagt er.
Er schwitzt am ganzen Körper. Soldaten kommen durch den Stollen herbeigelaufen und tragen den Leichnam weg. Wir sitzen da und starren vor uns hin. Später wird das Essen in Bottichen hereingetragen und verteilt, dann sollen wir schlafen. Jeder versucht eine halbwegs bequeme Position auf dem harten Boden zu finden. In der Nacht fahren viele schreiend hoch, weil sie Angst haben zu ersticken. Ich habe das Gefühl, die Decke kommt näher und näher und erdrückt mich.
In den nächsten Monaten wird gearbeitet. Nur gearbeitet. Es ist schrecklich. Ich will nicht daran zurückdenken. Die Verzweiflung – es schnürt mir die Kehle zu.
Ich muss eine Pause machen.
Wir werden in das Stollenlabyrinth hineingetrieben. Zum Schluss geht die Hälfte nach links, die anderen nach rechts. Alleine hätte ich nie wieder zu unserer Kaverne zurückgefunden. Der Stollen ist zu Ende, Spitzhacken und Körbe stehen herum. Mir drückt man eine Spitzhacke in die Hand. Wir hacken mit voller Wucht in den Fels hinein, hacken und hacken. Nach ein paar Stunden spüre ich meine Arme nicht mehr, die Hände sind voller Blasen. Den anderen geht es ähnlich. Die Arbeit geht nur mühsam voran. Es dauert lange, bis sich Gesteinsbrocken von der Wand lösen. Die größeren müssen andere am Boden klein hacken, wieder andere legen die Brocken in die Körbe. Und die Träger tragen diese dann nach draußen. Jeder rauft sich darum, Träger zu sein, denn jeder will hinaus. In das Licht. An die Luft. Die Soldaten teilen uns am Morgen ein. Am Morgen? Für uns ist es immer Nacht.
»Was passiert mit diesen Brocken?«, fragt Kristjan leise einen Träger.
»Wir schütten sie eine hölzerne Rutsche hinunter. Unten stehen eine Menge Maschinen, was für welche, habe ich nicht erkennen können. Auch Männer sind unten. Irgendwie sehen sie nicht wie Häftlinge aus«, erzählt einer, »es ist alles so dunstig und nebelig, Genaueres kann man nicht sehen.«
Wir werden auseinandergetrieben.
Nie sind wir unter uns. Ständig ist ein Wachsoldat dabei. Ungestört können wir uns nicht unterhalten. Wenn ein paar Männer beieinander stehen und miteinander flüstern, zückt einer die Maschinenpistole und treibt uns auseinander. Die dringlichste Frage unter uns ist, was wir hier überhaupt abbauen. Es ist nicht Gold, nicht Silber, nicht Blei, nicht Zinn, keine Kohle. Niemand von uns kennt das Erz, das in diesen Gesteinsbrocken enthalten sein soll.
»Vielleicht ist ja gar nichts da und wir bauen einfach nur ein unterirdisches System«, meint einer, »für einen späteren Krieg.«
Er wird ausgelacht.
Ich verliere das Zeitgefühl. Auf einmal heißt es nach dem Wecken: »Heute müsst ihr nicht arbeiten.« Wir sehen uns erstaunt an. Wir wissen nicht, wie lange wir schon im Berg sind. Kristjan fragt den Wachsoldaten.
»Ihr habt jeden vierzehnten Tag einen Ruhetag«, antwortet er.
An jedem Ruhetag dürfen wir für kurze Zeit aus dem Berg hinaus ins Freie gehen und uns die Beine vertreten. Es ist so bitterkalt, dass sich die meisten nach kurzer Zeit in die Höhlenwohnung zurücksehnen. Ich nicht. Mit Schnee rubble ich meine Hände und das Gesicht ab, andere machen es mir nach. Ich versuche mich so viel wie möglich zu bewegen. Obwohl ich am ganzen Körper eine Erschöpfung spüre, die ich gar nicht beschreiben kann. Wenn ich mich zu weit entferne, schreit mir sofort ein Wachsoldat hinterher und bedeutet mir mit der Maschinenpistole, zurückzukommen. Doch als es mir einmal gelingt, ein Stück weiter weg zu gehen, entdecke ich Unglaubliches: Ich sehe am Horizont weiße Bären! Ich brauche eine Weile, bis mir das Wort Eisbären einfällt. Ich kann es kaum glauben. Wenn hier Eisbären sind, kann das Meer nicht weit weg sein. Ich erzähle es den anderen in der Höhle, sie lachen mich aus.
In dieser Stunde im Freien sehen wir uns alle wieder. Alle, mit denen wir vor vielen Monaten aus Magadan aufbrachen. Oder fast alle. So mancher hat nicht überlebt. Sechs Gruppen in sechs Kavernen. An die sechshundert Männer. Eine genauere Zahl kennen wir nicht mehr.
Helmut sieht schrecklich aus. Aber vermutlich tun wir das alle. Es gibt keinen Spiegel, in dem wir es hätten nachprüfen können. Der lustige Student aus Wien ist ein gebrochener Mann, er spricht kaum mehr.
»Ich überleb das nicht lang«, murmelt er jedes Mal, wenn Fritz, Kristjan und ich auf ihn treffen.
Er wurde gleich nach der Ankunft mit den anderen in den Berg geführt. Wir hatten immerhin das Glück, vier Monate in der Natur zu arbeiten und zu leben. Bevor es auch für uns Nacht wurde. Jeder fragt vorsichtig herum. Wisst ihr, was wir hier abbauen? Niemand weiß es. Einmal fragt ein vorlauter Russe einen Wachsoldaten im Scherz: »Was ist denn das so Wichtiges, was wir hier rausbringen? Kocht und esst ihr das?«
»Hör auf Fragen zu stellen!«, wird er angeschnauzt.
»Hier sparen sie sich sehr viel«, sinnieren andere, »Unterkünfte, Brennholz, Stacheldrähte, Wachtürme, Scheinwerfer, Wachpersonal. Ein billiges Lager.«
Auch von Flucht spricht so mancher: »Beim nächsten Freigang türme ich!« Aber es ist immer nur der nächste Freigang, von dem man spricht. Jeder weiß, dass es unmöglich ist, ohne Karte, ohne Kompass, ohne genügend Proviant in dieser unbezwingbaren Wildnis zu überleben. Wie weit von hier leben Menschen? Wären sie einem wohlgesinnt? Wie viele Tausende Kilometer wären es, um bis nach Finnland zu gelangen?
Bei jedem vierten Ausflug ins Freie wird zuerst die eine Hälfte, danach die andere Hälfte der Gefangenen in das Lager geführt, das Lager, das wir mit eigenen Händen bauten. Wehmütig sehen wir uns um. Es scheinen Leute hier zu wohnen, an einigen Fenstern erblicken wir Vorhänge. Doch außer den Wachsoldaten, die neben uns hergehen, sehen wir niemanden.
Im Badehaus dürfen wir uns waschen. Die schwarzen Gesichter werden wieder weiß. Fahl. So lange wie möglich versuchen wir die Zeit hinauszuzögern. Anschließend verrichtet der Friseur seine Arbeit mit der Klinge. Die Kleidung wird uns zum Entlausen abgenommen. Wir erhalten andere Sachen. Beim nächsten Mal wird wieder gewechselt. Der Marsch zurück zum Berg ist dann wie der Gang zum Schafott.
Es ist kein Leben. Es ist langsames Sterben.
Nach einiger Zeit merke ich, dass sich meine Zähne locker anfühlen. Außerdem habe ich dauernd Kopfschmerzen. Sie sind oft so stark, dass ich schreien könnte. Dazu kommt Schwindel und Übelkeit. Meine Glieder fühlen sich schwer und bleiern an. Bei der Arbeit werde ich manchmal ohnmächtig. Andere müssen mir dann helfen. Ich schäme mich.
Als wir das vierte Mal zum Badehaus geführt werden, merken wir, dass der Frühling Einzug hält. Das Schmelzwasser ist überall.
Als unsere traurige Kolonne durch die Blockhütten und Baracken wankt, hören wir Klaviermusik.
Jemand spielt in diesem gottvergessenen Nest Klavier.
Jemand spielt Klavier!
Alle sehen sich erstaunt an. Wir bleiben stehen und werden barsch weitergetrieben.
Ich weiß sofort, dass es Ludovica sein muss. Es ist das gleiche Lied, das sie damals in der Nähe von Omsk spielte. Auch Fritz erkennt es.
»Deine Pianistin ist hier«, grinst er.
Noch nie in meinem Leben empfand ich eine so große Freude! Sie durchströmt meinen ganzen Körper. Ich beginne zu weinen.
»Reiß dich zusammen!«, schnauzt mich Fritz an.
Plötzlich stürmt ein Offizier in das Klubhaus. Ich kann nicht erkennen, welcher es ist. Das Klavierspiel wird abrupt beendet. Wir betreten das Badehaus.
Ludovica ist also hier.
Ludovica!
Ich hoffe sehr, dass es ihr einigermaßen gut geht. Wahrscheinlich arbeitet sie in der Küche oder im Lazarett. Oder doch im Berg? Nein, so grausam werden die Russen doch nicht sein, dass sie Frauen dort einsetzen! Wie ist sie hierhergekommen? Wie wir zu Fuß? Meine Gedanken gehen fieberhaft. Wie gern würde ich sie wiedersehen!
Dieses Mal gibt sich der Friseur freundlicher als sonst. Er plaudert mit uns und fragt jeden nach seinem Namen. Als ich mich von ihm weg zum Kleiderhaufen drehe, schiebt er mir einen kleinen, gefalteten Zettel in die Hand. Niemand merkt es, er scheint in so etwas geübt zu sein. Mein Herz macht einen Sprung vor Aufregung. Ich schlüpfe schnell in die Kleidung und nütze das Durcheinander. Den Zettel verstecke ich in der Jackentasche.
Verstohlen blicke ich um mich, als wir durch die Häuser gehen. Kein Klavierspiel, keine Spur von Menschen, keine Lu am Fenster.
Den Zettel kann ich erst in der Kaverne lesen. Ich kauere mich in der Nähe der Öllampe auf den Boden. Achte darauf, dass niemand um mich ist.
»Lass dich ins Lazarett einliefern! So schnell wie möglich. Lu«
Immer wieder lese ich die Worte. Bis ich den Zettel schnell wegstecken muss, weil sich andere nähern.
Ich brauche einen triftigen Grund, ins Lazarett zu kommen. Vor Monaten ist in anderen Kavernen die Ruhr ausgebrochen, viele mussten ins Lazarett und starben. Aus unserer Gruppe ist bisher nur einer eingeliefert worden, wegen eines furchtbaren Unfalls.
Dem Mann war im Stollen ein Felsbrocken auf die Beine gefallen. Das linke Bein bekamen wir frei. Das rechte musste ein herbeigerufener Arzt an Ort und Stelle amputieren. Es war ein blutiges Schauspiel bei sehr schlechtem Licht. Ich musste weggehen und erbrechen. Der Mann starb einen Tag später im Lazarett, wurde uns erzählt.
Mir bleibt keine andere Wahl, als tagelang die Ruhr zu simulieren. Nicht einmal Kristjan und Fritz weihe ich ein, es ist mir zu gefährlich. Ich verweigere das Essen und renne immer wieder auf die Latrine, ich schreie und stöhne. Zum Wachsoldaten sage ich: »Nur blutige Tropfen!« Ich bleibe auf dem Boden liegen, selbst seine Tritte bringen mich nicht hoch. Er beratschlagt mit einem anderen. Schließlich kommen zwei Sanitäter und holen mich mit einer Trage ab, offensichtlich will man keine Epidemie mehr riskieren.
Im Lazarett bringt man mich in einen Raum mit zehn Betten. Außer mir sind noch drei weitere Patienten da, ich liege alleine am Fenster. Das Bett ist mit weißen, frischen Laken bezogen und ich schwebe im siebten Himmel. Ein Sanitäter zieht mich aus und wäscht mich. Ein Arzt kommt und fragt mich nach den Symptomen. Er schreibt alles nieder.
In der Nacht werde ich sanft geweckt. Es ist Ludovica.
Sie sitzt an meinem Bett und schaut auf mich herunter. Am Anfang halte ich sie für einen Traum, dann bin ich der glücklichste Mensch auf Erden, wir umarmen uns. Es ist das erste Mal, dass ich ihren Körper so nahe spüre.
Während die anderen Patienten schnarchen, flüstern wir freudig erregt. Seit vier Wochen ist sie hier, sie ist mit dem Schiff gekommen, mit ihr das Klavier. Im Hafen wurde sie von Teljan empfangen, der sich sichtlich freute, sie zu sehen. Sie arbeitet als Krankenschwester im Lazarett. Doch sie darf auch jeden Tag Klavier üben, es sind jede Menge Noten vorhanden, die Teljan sich schicken ließ. Außerdem spielt sie ihm manchmal vor, einmal musste sie es nackt tun. Ich bin entsetzt.
»Hat er dir etwas getan?«, frage ich sie.
»Nein, er ist nur in seinem Sessel gesessen und hat mich angeschaut. Er ist meistens nett zu mir, aber ich weiß von anderen Häftlingen, dass er unberechenbar und sehr jähzornig sein kann. Vermutlich weil er seine Frau verloren hat.«
Sie erzählt mir, was sie von einem Wachsoldaten erfuhr. Teljans junge, hübsche Frau, sie hatte Ludmilla geheißen, war eine begnadete Pianistin gewesen, die vor dem Krieg weltweit Konzerte gespielt hatte. 1944 hielt sie sich in Riga bei ihren Eltern auf. Sie verliebte sich in einen deutschen Leutnant und wollte mit ihm gemeinsam nach Berlin gehen. Doch Teljan, der irgendwie Wind davon bekommen hatte, überraschte die beiden, als sie das Haus verlassen wollten. Er erfuhr, dass sie sich schon vor Jahren bei einem Konzert in Warschau kennengelernt und sich seither Briefe geschrieben hatten. Teljan rastete völlig aus und erschoss die beiden, vorher musste er ihnen etwas Schreckliches angetan haben, der Wachsoldat wusste aber nichts Genaues darüber. Vor Gericht wurde er freigesprochen, es waren nur ein Feind und eine Verräterin gewesen. Nach Ende des Krieges meldete sich Teljan freiwillig nach Sibirien, um hier ein Lager zu leiten. Viele taten das wegen der höheren Bezahlung, die geboten wurde, wenn man freiwillig ins Land der Vergessenen ging.
Aus den Gefangenenlisten wusste Ludovica, dass ich hier sein musste. Deshalb spielte sie Schumanns »Kinderszenen« am Badetag, um mir ein Zeichen zu geben. Teljan unterbrach sie heftig dabei, es war das erste Mal, dass er sie geschlagen hatte.
»Ganz in der Nähe ist eine kleine Bucht mit einem Hafen! Sie heißt Lawrentija. Früher war es nur ein kleiner Fischerhafen der Tschuktschen, jetzt verkehren auch kleinere Frachtschiffe bis nach Magadan und zurück. Sie können nur von Anfang Juni bis Ende September fahren, dann wird alles wieder zu Eis. Sie bringen das Uran weg und kommen mit Proviant und Verpflegung wieder.«
»Uran?«, frage ich.
Es ist Uranerz, das wir abbauen. Ich habe noch nie davon gehört. Aus diesem Erz wird Uran produziert, ein Metall, das radioaktiv ist. Alles unterliegt strengster Geheimhaltung. Früher oder später würden wir alle schwer krank werden und sterben. Das Lager wurde gebaut, um vor allem Ingenieure zu beherbergen, die die Urangewinnung überwachen sollten, und auch für das Wachpersonal.
»Verstehst du, Thomas? Hier ist ein Hafen. Wir sind am Ostkap Sibiriens! Die Beringstraße ist nicht weit von hier!«
»Was willst du damit sagen?«, frage ich.
Wir hören Schritte und sind eine Weile ganz still. Die Schritte entfernen sich wieder.
»Wir können fliehen«, antwortet sie.
Sie unterbreitet mir ihren Fluchtplan: In der Nacht würden wir uns in den Hafen schleichen und ein kleines Boot stehlen. Mit dem würden wir auf das offene Meer hinausfahren, bis nach Alaska. Bis dahin sind es ungefähr neunzig Kilometer. Ich traue meinen Ohren nicht.
»Stell dir vor, nur neunzig Kilometer, Thomas! Das schaffen wir! Ich bin als Kind mit meinem Vater oft auf einem Segelboot gewesen. Ich kann das. Ich habe schon zwei Rucksäcke mit Proviant gepackt. Damit kommen wir drei Wochen aus. Bevor sie dich gesundschreiben, müssen wir weg.«
»Und wie sollen wir in den Hafen kommen und ein Boot stehlen?«, frage ich sie.
Sie schildert es mir genau.