1978–1981: ARTHUR
DER EINSAME WOLF

In der Nacht des 12. November 1978 kam Arthur mit seinem Sohn in der Bergmühle, seinem Elternhaus, an. Er war achtunddreißig Jahre alt. Nachdem er das Kind ins Bett gebracht hatte, wanderte er mit einer Taschenlampe von Raum zu Raum – es gab keinen Strom – und war entsetzt über den desolaten Zustand des Hauses. Anschließend saß er bei Kerzenschein in der verstaubten Küche und trank eine Flasche Rotwein leer, neben ihm rumorten die Ratten in den Schränken, unter den Dielen. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen, das anklagende Gesicht seiner Mutter verfolgte ihn. Er wusste, alles hätte anders kommen können.

Das letzte Mal war er wegen des Begräbnisses seiner Mutter hier gewesen, vor nicht ganz einem Jahr. Sie hatte nach dem Tod seines Vaters, er war eines Morgens nicht mehr aufgewacht, zwei Jahre alleine in dem großen Haus gelebt, bis sie im letzten Jänner an einer schweren Grippe erkrankt war. Sie starb eine Woche später im Krankenhaus an Herzversagen, Arthur, der zu der Zeit in Australien arbeitete, schaffte es gerade rechtzeitig zum Begräbnis und musste wegen eines wichtigen Bauprojekts sofort wieder zurück. Die Briefe der Nachbarin, des Notars und der Bank ignorierte er.

Am nächsten Tag ging er zu Fuß in den Ort hinunter, das stille Kind an der Hand. Er besuchte eine Freundin seiner Mutter und lieh sich von ihr das Auto, da er an diesem Tag einige Behördengänge vor sich hatte. Unter anderem wollte er sein eigenes Architekturbüro anmelden und sich im Nachbarort bei einem kleinen Autohändler ein Auto kaufen.

Vom Filialleiter der Bank, er hieß Leitner, erfuhr er, dass seine Eltern eine Menge Schulden hinterlassen hatten und fiel aus allen Wolken. Vermutlich hatten sie ihm die Geschichte aus Scham vorenthalten: Ein junger Mann hatte sie immer wieder besucht und ihre Freundschaft und ihr Vertrauen gewonnen. Er wollte eine große, moderne Mühle neben der stillgelegten Bergmühle aufbauen, Arthurs alter Vater, früher ein leidenschaftlicher Müller, war von dem Projekt begeistert gewesen und übernahm die Bürgschaft für den hohen Kredit, den der junge Mann aufnahm.

»Wir haben ihn alle gewarnt«, sagte Leitner, »doch er wollte nicht auf uns hören, er hat gesagt: Martin – so hat der Mann geheißen – ist mir wie ein Sohn, ich vertraue ihm.«

Eine Woche später war dieser Martin mitsamt dem Geld verschwunden, man vermutete, dass er sich nach Südamerika abgesetzt hatte, auch mithilfe eines Detektivs fand man ihn nicht. Das Ganze war Mitte der sechziger Jahre gewesen und seither hatten die Eltern versucht, mit ihrer Pension und ihren kleinen Ersparnissen den Kredit abzustottern, waren jedoch nicht weit gekommen. Seine Eltern waren also einem Betrüger aufgesessen und hatten nie den Mut gefunden, es ihm zu sagen, Arthur musste schlucken, seine Schuldgefühle wurden noch größer. Wenn er sich um seine Eltern wenigstens ein bisschen gekümmert hätte, wäre es nie passiert. Warum hatte er sie so im Stich gelassen? Er stellte sich seinen stolzen Vater vor, als er die Nachricht erhalten hatte, er als Bürge müsse den gesamten Betrag der Bank, die ihn gewarnt hatte, zurückzahlen, mit Zinsen, Monat für Monat. Wie hart musste die Demütigung für ihn gewesen sein.

»Wir haben ihm so gut es ging, geholfen«, sagte Leitner, »mit einem sehr niedrigen Zinssatz. Wir haben ihm auch empfohlen, seinen Wald und die Wiesen zu verkaufen, aber du weißt ja, wie stur dein Vater war, er hat den Grund nicht hergeben wollen. Ich nehme an, du brauchst jetzt einen Schnaps.«

Arthur brauchte tatsächlich einen Schnaps, und während er ihn hinunterkippte, sah er zu dem Jungen hinüber, der an einem kleinen Tisch saß und in einem dicken Malbuch einen vorgezeichneten Traktor anmalte. Im Profil erkannte er die Ähnlichkeit mit Eve.

Da war er nun: in einem heruntergekommenen Haus mit einem kleinen Kind, das ihm fremd erschien, und einer Menge Schulden. Außerdem war es ungewiss, ob ein Architekturbüro hier in der Provinz gut gehen würde, aber er hatte keine andere Wahl, wegen des Kindes konnte er nicht täglich in die Stadt pendeln, es wäre viel zu weit.

Für Arthur begann eine anstrengende Zeit. Mit seinen Ersparnissen der letzten fünfzehn Jahre (er hatte als Architekt gut verdient und keine Familie ernähren müssen) zahlte er den Großteil des Kredites zurück, doch musste er einen zusätzlichen aufnehmen, um die Sanierung des Hauses finanzieren zu können, mit der er unverzüglich begann. Auf der Behörde legte man ihm bei der Anmeldung seines Büros Steine in den Weg, da er sein Gewerbe bisher nur im Ausland ausgeübt hatte. Der Bürgermeister half Arthur, indem er ihm im Namen der Gemeinde zwei große Aufträge zukommen ließ – er sollte Kindergarten und Sportanlage mit Schwimmbad, Fußballplatz und Tennisplatz planen – und außerdem bei der Behörde vorsprach, wie dringend ein Architekt in der Gegend benötigt werde. Zwei Tage später erhielt Arthur die Genehmigung und stürzte sich in die Arbeit.

Er staunte über die Leute in P. Sie nahmen ihn ohne Vorurteile auf und boten ihm immer wieder Hilfe an, ohne viel zu fragen, warum er so lange weg gewesen sei und was er gemacht habe. Wenn er mit dem Kind einkaufen war oder im Gasthaus bei einer Mahlzeit saß, kam es oft vor, dass Leute zu ihm kamen, ihm lächelnd die Hand schüttelten und sagten: »Schön, dass du wieder da bist.«

Besonders die sechzigjährige resolute Philomena, eine Freundin seiner Mutter, die sich zum Schluss um seine Eltern gekümmert hatte, unterstütze ihn am Anfang: Sie half ihm in der ersten Woche bei der Reinigung des Hauses und passte manchmal auf Julius auf. Oft brachte sie spontan ein Mittagessen vorbei und nahm dabei die Schmutzwäsche mit, um sie gewaschen und gebügelt wiederzubringen.

Wenn er an seine alten, einsamen Eltern dachte, hatte er das Gefühl, er habe diese herzliche Aufnahme gar nicht verdient, und schämte sich. Und er dachte auch an sich selbst, wie er mit achtzehn Jahren aus diesem Ort geflüchtet war, da er damals das Leben in einem Dorf für kleinkariert, konservativ und kulturlos gehalten hatte. Jetzt, zwanzig Jahre später, kamen ihm diese Gedanken klischeehaft vor.

Neben der Sanierung des Hauses und seiner Arbeit hatte Arthur auch seinen Sohn zu betreuen, und von allen Herausforderungen war das die größte.

Am Anfang konnte er die Art des Kindes schwer ertragen, er musste sich Tag für Tag neu bemühen, freundlich zu bleiben. Es war offensichtlich, dass ihn der Junge nicht mochte, er ließ sich auch nicht von ihm berühren, zuckte mit einem Quieken zusammen, wenn er es einmal tat. Nie sah ihm der Junge offen in die Augen, stets hatte er sie niedergeschlagen, meistens voller Tränen.

Wenn ihm Arthur eine kleine Arbeit auftrug, sah er sich zuerst um, ob ihn sein Vater beobachtete, und fing dann erst an, sie auszuführen. Er schien ständig zu berechnen, wie er sich verhalten solle, sein Benehmen wirkte gekünstelt, nicht authentisch, sondern so, als wäre er ein Schauspieler auf einer Bühne.

Arthur schenkte ihm eine kleine Katze, um ihm das Eingewöhnen in die neue Umgebung zu erleichtern, es war ein quirliges Tier, das Aufmerksamkeit benötigte und mit Julius spielen wollte, Arthur war ihm dankbar dafür. Eines Tages war es verschwunden, Arthur fand es schließlich tot in einer Ecke des Dachbodens, der Kadaver stank unerträglich. Als er den Jungen zur Rede stellte, sagte ihm dieser, seinem Blick eisern ausweichend, dass er die Katze schon lange nicht gesehen hatte und nicht wusste, warum sie tot war, vielleicht ist sie unter diese Säcke gekrochen und dann erstickt, fügte er hinzu.

Einmal rief die Lehrerin an und bestellte ihn in die Schule. Sein Sohn habe einem anderen Kind beinahe das Ohrläppchen abgebissen, es musste sogar angenäht werden, sie könne kaum glauben, dass der stille, introvertierte Julius zu so etwas fähig sei. Arthur glaubte es sofort. Dieses Mal stritt Julius es nicht ab, doch er konnte auch nicht erklären, warum er es getan hatte, in seinen Augen glitzerte so viel Hass, dass Arthur erschrak.

Wochenlang redete Julius kein einziges Wort mit ihm, wenn Arthur auf einer Antwort bestand, flüsterte er etwas auf Englisch. Phlegmatisch saß er herum und war für nichts zu begeistern. Arthur wünschte sich einen energievollen Jungen, der ihm offen in die Augen schaute, der auf seinen Schoß kletterte, ihm bewundernd bei der Arbeit zusah, mit Werkzeug geschickt herumhantierte, einen Sohn, der ihm zurief: »He Papa, spielen wir jetzt Fußball oder Fangen?«

Es war etwas Verschlagenes an ihm und Arthur durchzuckte manchmal der Gedanke: Das ist doch nicht Eves und mein Sohn. Er ermahnte sich immer wieder, geduldiger mit ihm zu sein, aber im Grunde verstörte ihn die Anwesenheit des kleinen Wesens mit dem dünnen schwarzen Haar und den gehetzten Augen.

Nur eines gefiel Arthur an seinem Sohn: Julius liebte die Bergmühle vom ersten Augenblick an. Einmal machte Arthur spaßeshalber zu einem Maurer die Bemerkung, er wolle das Haus niederreißen lassen und ein neues aufbauen, es wäre billiger. Daraufhin schrie Julius seine ersten deutschen Worte: »Nein, nein, nein!«

Arthur musste lachen, er wusste nun, dass sein Sohn das meiste verstand, was er sagte. Es war der erste Augenblick im Zusammenleben mit seinem Sohn, in dem ihn eine Welle der Zärtlichkeit überschwemmte. Er hob ihn hoch und sagte: »Natürlich wird es nicht niedergerissen. Wir werden es schön herrichten.«

Als sie sich im Frühling langsam annäherten, kam es wieder zu einem Zwischenfall: In der Klasse traten Läuse auf, beinahe jedes Kind war betroffen, auch Julius. Arthur wusste nicht, was er tun sollte, und ging schnurstracks zur Friseurin, die ihn mit den bedauernden Worten, sie dürfe niemanden mit Lausbefall bedienen, nach Hause schickte. Sie gab ihm noch den Tipp, in der Apotheke ein Lausshampoo zu besorgen, und dort wiederum bekam er den Tipp, Julius’ Haar mit einer Haarschneidemaschine sehr kurz zu schneiden und dann erst mit dem Shampoo zu waschen. Im Elektrogeschäft kaufte er das Gerät und rasierte damit Julius’ Kopf, der wie paralysiert auf dem Stuhl saß. Um den Jungen aufzumuntern, rasierte er sich anschließend selber die Haare ab, doch es schien nicht zu helfen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass am nächsten Tag fast alle Buben in der Klasse kurz geschoren waren. Julius sprach wieder tagelang kein Wort.

Einen Monat später kam Renate in ihr Leben und alles wurde besser. Sie war Volksschullehrerin und übernahm Julius’ Klasse, als deren Lehrerin schwer erkrankt war. Arthur verliebte sich in die fröhliche und humorvolle Renate mit den kurzen braunen Haaren und eine schöne Zeit brach an, nicht nur für ihn, er spürte, dass auch Julius Renates häufige Anwesenheit guttat.

Nach zwei Jahren machte ihm Renate klar, dass sie mehr wollte, sie wollte mit Arthur zusammenleben, nicht nur der Gast im Haus sein, und eigene Kinder haben, außerdem wünschte sich ihre Familie klare Verhältnisse, sprich eine Heirat. Arthur zögerte und zauderte, ihm passte der Status quo perfekt, zu mehr konnte er sich nicht entschließen. Dass Renate ganz im Haus wohnte, konnte er sich vorstellen, doch er wollte kein zweites Mal heiraten und vor allem wollte er keine Kinder mehr bekommen. Er konnte es einfach nicht, so sehr er sich wünschte, dass sie blieb, alles in ihm sträubte sich dagegen.

Da tauchte ein Konkurrent auf, ein junger Arzt aus der Stadt machte Renate beharrlich den Hof und sie stellte Arthur ein Ultimatum. An diesem Abend tranken sie zu viel und Arthur, stark betrunken, sank vor Renate sogar auf die Knie.

»Bitte, bitte bleib bei mir, ohne dich ist mein Leben trostlos«, sagte er.

»Lass mich bei dir einziehen und mach mir ein Kind«, sagte sie und ging neben ihm auf die Knie.

»Ich lass dich bei mir einziehen und ich werde dich dein ganzes Leben lang verwöhnen, aber ich mach dir kein Kind und ich heirate dich auch nicht, falls das die nächste Forderung ist«, sagte er, »ich kann einfach nicht, Renate, ich kann, kann, kann nicht, das heißt aber nicht, dass ich dich weniger glücklich mache als dieser – dieser Weißkittel.«

»Und ich kann, kann, kann nicht auf eine eigene Familie verzichten«, sagte sie leise.

»Julius und ich sind deine Familie«, antwortete Arthur.

»Du weißt, dass das nicht dasselbe ist!«, erwiderte Renate.

Arthur schwieg.

»Du bist feig«, sagte Renate, »und du wirst es eines Tages bereuen.«

Eine Woche später verlobte sie sich mit dem Arzt und zog in die Stadt. Während sie ihre Wohnung in P. räumte, erwartete sie die ganze Zeit, dass Arthur mit Rosen in der Hand auftauchen und ihr einen Heiratsantrag machen würde. Er kam nicht.

Sie sollte nicht Recht bekommen. Zwar vermisste er Renate wahnsinnig, besonders in den ersten Monaten, aber nie bereute er seine Entscheidung, keine zweite Familie mehr gegründet zu haben. Dafür fühlte er sich zu müde.