1997–2001: JULIUS
MRS. ROBINSON

Julius und Katharina spazierten in der lauen Abendluft zu Claudias Haus. Die Frauen hatten sich vor einer Woche kennengelernt und jetzt hatte man die beiden zu einem gemeinsamen Essen eingeladen, bei dem auch Doris’ Freund Andreas dabei sein würde. Katharina war angesichts des bevorstehenden Abends ein bisschen überdreht, sie hatte sich bei Julius eingehängt und plauderte die ganze Zeit von Vincents drolligen Sprechversuchen.

»Stell dir vor, der kleine Zwerg fragt mich heute: Mama, willst du mit mir ein Abenteuer erleben?«, erzählte sie, »das war so unglaublich süß!«

Julius hörte nur halb hin, er war angespannt und wollte es sich nicht anmerken lassen. Sie sahen das Haus vor sich, im ersten Stock brannte Licht, Doris winkte aus einem offenen Fenster zu ihnen heraus.

Als sie eintraten und er vor der Frau stand, die jahrelang sein Leben versüßt hatte, traf es ihn völlig unvorbereitet. Seltsamerweise war er ihr in den zwei Jahren, in denen er wieder in seinem Heimatort lebte, nie über den Weg gelaufen, vermutlich weil Katharina die Einkäufe erledigte und er im Ort nie etwas zu tun hatte. Nur zwei Mal hatte er sie im Auto vorbeifahren gesehen.

Jetzt stand er ihr unmittelbar gegenüber und eine Welle des Verlangens überrollte ihn, er wollte sich dagegen wehren, konnte es aber nicht. Er hatte Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren, und das nach all den Jahren! Es kam auch daher, dass sie ihn so ansah, so liebevoll und prüfend gleichzeitig, er spürte Krämpfe in seinem Bauch und musste während des Essens zwei Mal auf die Toilette. Zu seinem Spiegelbild sagte er: Du bist jetzt ein erwachsener Mann, hast eine feste Beziehung und bist obendrein Vater von zwei Kindern! Du bist kein Halbwüchsiger mehr wie damals, also reiß dich zusammen!

»Du siehst gut aus«, sagte Claudia zu Julius und zündete ihm die Zigarette an.

Sie rauchten schweigend. Die beiden standen auf dem Balkon ihres Hauses, drinnen in der Küche saßen Doris, Andreas und Katharina.

»Deine Freundin ist sehr hübsch und lieb«, sagte sie und blies ihm Rauch ins Gesicht.

»Ja, aber das ist auch schon alles«, entgegnete er.

»Ach Julius«, sagte Claudia und griff ihm sanft auf die Schulter, »was ist los?«

»Sie ist langweilig«, antwortete Julius und nahm einen tiefen Zug.

»Soll sie jeden Tag einen Striptease für dich hinlegen?«, lachte Claudia, »mein Gott, ihr habt zwei kleine Kinder, das ist anstrengend für eine Frau.«

»Ich weiß auch nicht«, sagte Julius, »sie soll mich fesseln, mein Interesse immer wieder aufs Neue wecken, aufregend sein, sie soll mich ansehen, als wäre ich ein Held für sie. Aber sie ist immer müde und zu Sex hat sie selten Lust.«

»Das ist doch normal«, sagte Claudia.

»Nein, ist es nicht«, sagte Julius und drückte seine Zigarette aus, »mich sieht sie leidend und vorwurfsvoll an, kaum kommt Arthur bei der Tür herein, strahlt sie und plappert drauf los. Keine Spur von Müdigkeit.«

»Da drückt also der Schuh«, sagte Claudia, sie neigte ihren Kopf leicht zur Seite und betrachtete ihn eine Weile.

»Du erinnerst mich jetzt stark an den Fünfzehnjährigen, der sich ständig über seinen Vater beschwert hat«, sagte sie.

Julius musste grinsen.

»Und du erinnerst mich an die Fünfunddreißigjährige, die im Negligé auf ihrem Bett liegt und den Fünfzehnjährigen zu sich winkt«, sagte er.

Leise lachte sie und ihr Lachen erschien ihm unglaublich sinnlich. Sie öffnete die Balkontür und wollte schon die Küche betreten, da hielt er sie zurück und sagte: »Du siehst immer noch fantastisch aus, weißt du das?«

Daraufhin nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn leicht auf die Stirn, Julius meinte, in ihren Augen Tränen zu sehen.

Am Tisch im Wohnzimmer wurde gerade beratschlagt, in welcher Farbe Doris das Wartezimmer und die Ordination ihrer Tierarztpraxis ausmalen lassen solle. Welche Farbe würde Tiere beruhigen, welche würde sie ängstigen? Katharina tendierte zu einem warmen Orange, Andreas schlug vor, an die Wand schwarze Spiralen zu malen, damit das Tier hypnotisiert würde. Alle waren einstimmig der Meinung, dass Andreas keine Ahnung von Tieren hatte und bewarfen ihn lachend mit Servietten.

Claudia servierte den Nachtisch, ein Tiramisu. Eine weitere Weinflasche wurde entkorkt.

»Mamas Tiramisu ist das beste, das es auf dieser Welt gibt, es zergeht einem förmlich auf der Zunge«, sagte Doris und warf Claudia eine Kusshand zu. Eine Weile unterhielt man sich über Tiramisu-Rezepte, dann wieder über die Einrichtung der Tierarztpraxis im Erdgeschoß. Früher hatte sich dort die Metzgerei von Doris’ Großvater befunden, seit fünfzehn Jahren standen die Räumlichkeiten leer. Claudia bot Doris an, sich Urlaub zu nehmen, um ihr beim Ausmalen zu helfen.

Julius nahm die Stimmen wie ein angenehmes Geplätscher um sich herum wahr, er fühlte sich wohl. Das war eine normale Mutter-Tochter-Beziehung, eine funktionierende Familie, wenn auch eine kleine, aber auch Andreas gehörte mittlerweile dazu. Eine Familie, die einander wertschätzt, die sich gegenseitig ihre Zuneigung offen zeigt, da gab es keine falsche Höflichkeit, keine angestrengte Bemühung, keine Angst vor Blöße. Das hatte ihm auch damals, vor zehn Jahren, schon so gut in diesem Haus gefallen. So eine Familie hatte er sich immer gewünscht, er beneidete Doris, Claudia und Andreas darum.

Zwischen Arthur und sich spürte er eine dicke Mauer, die er nicht überwinden konnte, diese Mauer bestand aus Scheu, Verlegenheit, Angst, dem Vater ohnehin nicht gefallen zu können, egal was er tat, und mitunter immer noch aus aufflackerndem Hass, oft ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er Arthurs Tod herbeisehnte. Dann würde ihm die Bergmühle endlich alleine gehören und auch Katharina, sie gehörte doch zu ihm, Julius, sie war doch seine Freundin! Was lief da schief? Warum baute sich eine ähnliche Mauer auch zwischen ihm und ihr auf?

Julius aß genüsslich das Tiramisu und dachte an das erste Zusammentreffen in Wien, als Arthur und er Blumen gekauft und dann Katharina abgeholt hatten, um zu dritt essen zu gehen und die Schwangerschaft zu feiern.

»Wir werden das schön zelebrieren«, hatte Arthur gesagt und sie an diesem Abend aus ihrer Verzweiflung gerissen.

Julius überreichte Katharina seinen großen Rosenstrauß, Arthur hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn zu bezahlen, sie machte spaßeshalber einen linkischen Knicks und bedankte sich. Als sein Vater ihr anschließend den wesentlich kleineren Blumenstrauß überreichte – es waren Nelken, Arthur liebte Nelken, er fand sie in der Welt der Blumen heillos unterschätzt –, errötete Katharina und es war dieses Erröten, das Julius zutiefst irritierte. Es war offensichtlich, dass sie von Arthur beeindruckt war.

Im Restaurant wünschte sich Julius, er könnte sich ebenso ungezwungen mit seinem Vater unterhalten wie es seine schwangere Freundin tat, sie erzählte ihm so vieles aus ihrem Leben. Wenn er mit seinem Vater redete, bestand das Gespräch lediglich aus leeren Floskeln, er schaffte es oft nicht einmal, ihm in die Augen zu sehen.

Einmal hatte er Katharina am Telefon belauscht, sie schilderte ihrer Mutter ganz genau den Umzug auf das Land, in die Bergmühle. Dabei sprach sie viel von Arthur, was er sagte und was er machte, Arthur hin, Arthur her, ging es. Sie sagte zum Beispiel Sätze wie »Der Typ ist für mich ein Phänomen, er spuckt nicht viele Worte, sondern macht einfach, und das Beste daran ist, dass er immer das Richtige macht!« Zum Schluss fiel der Satz: »Das ist einfach ein richtiger Mann.«

Im Vorzimmer überlief es Julius heiß und kalt. Arthur war also ein richtiger Mann. Und was war er? Offensichtlich war er in den Augen seiner Freundin kein richtiger Mann. In diesem Moment hatte es ihn zum ersten Mal durchzuckt: der Wunsch, ein Blitz möge seinen Vater treffen. Denn, dieser Gedanke durchfuhr ihn auch, neben seinem Vater würde er nie ein Mann sein können.

Andreas erhielt einen Anruf, seine Mutter brauchte ihn dringend zu Hause, um seinen Vater ins Bett zu bringen. Julius kannte die Geschichte der Familie gut. Der alte Mann hatte Multiple Sklerose und saß seit vielen Jahren wie ein riesiger, unförmiger Fleischklumpen im Rollstuhl, unfähig, irgendetwas an seinem Körper zu bewegen. Nur an seinen Augen merkte man, dass noch Leben in diesem Körper war, und sprechen konnte er noch, wenn auch sehr undeutlich.

Andreas, der die HTL besucht und in den Fächern Physik, Chemie und Mathematik geglänzt hatte, hatte ursprünglich mit Doris nach Wien gehen und dort Physik studieren wollen. Die Krankheit seines Vaters zwang ihn, im Ort zu bleiben, die Mechanikerwerkstätte zu übernehmen (der Maturant mit Auszeichnung musste deshalb die Mechanikerlehre machen) und seiner Mutter bei der Pflege des Vaters zu helfen. Andreas war der Nachzügler von insgesamt fünf Kindern und das Leiden seines Vaters hatte ihn von allen seinen Geschwistern am meisten betroffen gemacht, er hatte enormes Mitleid und das im wahrsten Sinne des Wortes, er litt mit seinem Vater tagtäglich mit. Einmal setzte er sich einen ganzen Tag in einen Rollstuhl und versuchte darin sitzend sich so wenig wie möglich zu bewegen. Es gelang ihm nicht einmal zwei Stunden, er hatte das Gefühl, verrückt zu werden und lief schluchzend in sein Zimmer. Obwohl ihm das Verfassen von Aufsätzen nicht so leicht von der Hand ging, gelang ihm bei der schriftlichen Matura in Deutsch als Einzigem ein Sehr gut. Die Klasse musste Rilkes Gedicht »Der Panther« interpretieren und Andreas begann seinen Aufsatz mit den Worten: »Der Panther in Rilkes Gedicht erinnert mich an meinen Vater. Was für das schwarze Tier der Käfig ist, ist für meinen Vater sein kranker Körper. ›Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden.‹ Die Augen meines Vaters sehen mich jeden Morgen, wenn ich ihm aus dem Bett helfe, ebenso müde an …« Der Aufsatz wurde in der Maturazeitung abgedruckt.

Bevor er die Stiege hinunterpolterte, schüttelte Andreas Julius kräftig die Hand und klopfte ihm herzlich auf die Schulter: »Na, wir zwei werden uns ja jetzt sicherlich öfter sehen.«

Doris machte sich mit Katharina auf den Weg hinunter ins Erdgeschoß, sie wollte der neuen Freundin die Räume der zukünftigen Praxis zeigen. Claudia begann den Tisch abzuräumen und ging in die Küche.

»Ich helfe beim Aufräumen, okay? Ich kenn die Räume ja«, sagte Julius, und die beiden jungen Frauen verließen die Küche, er sah noch, dass Katharina sich kichernd bei Doris einhängte. Sie hängte sich zur Zeit gern bei den Menschen ein.

Julius trug die schmutzigen Teller vom Wohnzimmer in die Küche, wo ihn Claudia schon erwartete. Sie stand an der Abwasch und streckte ihm die Hände entgegen, um ihm den Stapel Teller abzunehmen, dabei berührten sie sich.

Die Wucht, mit der Claudia ihn umfing und küsste, haute ihn beinahe um, ein paar Sekunden später saß sie auf dem Küchentisch und sie liebten sich leidenschaftlich. Sie nahm ihn, nicht er sie. Er fühlte die feuchte Wärme ihres Inneren, ließ die Hände über ihre Schenkel gleiten und stellte glücklich fest, dass sie immer noch schlank und straff wie früher waren. Gierig saugte er ihren Geruch in sich auf. Wie hatte er sie vermisst, sie und ihren wunderbaren Körper!

»Darf ich wiederkommen?«, fragte er leise, als sie sich anzogen.

»Wenn du deine Hausaufgaben machst«, sagte sie lächelnd.

»Und die wären?«, fragte er.

»Sei nett zu deiner Freundin«, antwortete sie und knöpfte ihm die Hose zu, »hilf ihr im Haushalt, kümmere dich um die Kinder.«

Gegen Mitternacht verließen Julius und Katharina das Haus und gingen heim. Sie waren beide betrunken und glücklich.

Ein paar Tage später begleitete Julius Katharina zur ersten Yogastunde, die Doris im Turnsaal des Kindergartens abhielt. Obwohl sie zehn Minuten zu früh dran waren, war der Raum bereits überfüllt mit geschäftigen Frauen. Julius legte seine Matte in eine Ecke, setzte sich darauf und beobachtete, lauschte. Die meisten waren jung und er kannte einige aus der Schule. Sie winkten ihm kurz zu, setzten sich dann auf eine freie Matte und begannen sofort mit anderen Frauen zu reden.

»Ich jogge jeden Tag eine Stunde und stell dir vor, es tut mir so gut!« Die perfekte Sportlerin.

»Seitdem ich ihnen das Obst und Gemüse klein aufschneide, essen sie es! Sie essen jeden Tag drei Teller davon! Seitdem sind sie auch nicht mehr so oft krank. Kann ich dir nur empfehlen.« Die perfekte Mutter.

»Ich würde so was nie machen, wenn ich weiß, er mag so was nicht! Würdest du das machen, wenn du weißt, dein Mann kann das nicht leiden? Also ich kann das einfach nicht. Wenn man genau weiß, dass er das nicht mag, macht man das doch nicht!« Die perfekte Partnerin.

»Erst wenn die Masse um das Doppelte aufgegangen ist, geb ich die anderen Zutaten dazu, die müssen aber lauwarm sein, und dann schlag ich ihn so lange, bis er seidig glatt ist und Blasen aufwirft.« Die perfekte Hausfrau.

Julius lauschte amüsiert dem Redeschwall der Frauen. Waren sie wirklich gekommen, um Yoga zu machen? Oder waren sie vielmehr gekommen, um anderen lautstark kundzutun, was sie den ganzen Tag so taten, dachten und fühlten, was ihr ICH ausmachte? Und stimmte es dann überhaupt, was sie kundtaten oder musste man von vornherein annehmen, dass es übertrieben war oder gar aus der Luft gegriffen? Julius hatte da seine Zweifel und kam zu dem Schluss, dass es für eine Frau wohl wichtig war, bei Zusammenkünften das Bild von sich zu präsentieren, von dem sie sich wünschte, dass die anderen Frauen es von ihr hatten.

Julius sah zu Katharina hinüber, sie saß im Schneidersitz neben Doris und lachte. Er versuchte durch das Stimmengewirr zu hören, was Katharina redete, doch so sehr er sich auch vornüberbeugte und anstrengte, er konnte es beim besten Willen nicht verstehen. Es hätte ihn wirklich interessiert, welches Bild sie von sich vermitteln wollte. Katharina lehnte sich mehrmals nah zu Doris hinüber, zupfte einmal ein Haar von deren Schulter und lachte demonstrativ laut. Julius nahm an, dass Katharina allen zeigen wollte, wer hier die beste Freundin der Yogalehrerin war. Die beiden schauten zu ihm herüber und winkten ihm lächelnd zu. Er winkte zurück. Heilfroh, dass sich die beiden gefunden hatten.

Zur nächsten Yogastunde ging er nicht mehr mit. Stattdessen passte er auf die schlafenden Kinder auf und lud Robert, einen Arbeitskollegen bei der Versicherung, auf ein Bier zu sich nach Hause ein. Aus dem Bier wurden sieben, Robert war sehr trinkfest.

Seit zwei Jahren arbeitete Julius bei einer großen Versicherungsanstalt und verkaufte den Menschen in seinem Bezirk Kfz-Versicherungen, Haushaltsversicherungen und Lebensversicherungen. Von Anfang an hatte ihn der vierundvierzigjährige Robert, ein alter Hase im Geschäft, unter seine Fittiche genommen. Julius war schüchtern und nervös vor den Kunden gestanden und hatte ihnen auch noch ehrlich gesagt, wenn sie eine Versicherung nicht brauchten oder die billigere Variante ausreichend war. Deshalb war er bei den Kunden beliebt und er schloss mehr Verträge ab als andere Anfänger.

»Das ist doch eine Masche«, sagte Robert zu ihm bei einem abendlichen Bier, »mich täuschst du nicht.«

Julius sah ihn zuerst verdattert an und begann dann zu lachen, Robert hatte ihn also durchschaut. Sie spielten das Spiel gemeinsam bis zur Perfektion: Zu zweit besuchten sie Kunden, bevorzugt ältere Leute, denen Robert wortgewaltig ein Produkt verkaufen wollte, bis Julius mit ihm – alles vor dem Kunden – zu streiten begann, er solle die Leute doch nicht bescheißen, eigentlich seien die Versicherungen ja die größten Betrüger, er überlege schon lange die Kündigung, weil er es nicht länger ertrug, das einzige Produkt, das etwas tauge und Sinn mache, sei die und so weiter. Bad guy, good guy.

Bis sie einmal vor einem Kunden versehentlich dasselbe ein zweites Mal ablaufen ließen. Der Mann lehnte sich mit verschränkten Armen zurück, wurde immer stiller und stiller, was den beiden zunächst gar nicht auffiel, weil sie sich so in Rage redeten, und lauschte den Vertretern mit zusammengekniffenen Augen. Dann stand er plötzlich auf, streckte seinen Arm zur Tür und sagte: »Hinaus!« Julius und Robert waren sich beim Feierabendbier einig, dass die Szene Filmreife gehabt hätte, sie lachten sich kaputt. Kunden durften sie nicht mehr gemeinsam besuchen, der Mann hatte sie beim Chef verpetzt.

An diesem Abend sagte Julius zu Robert, dass er ernsthaft überlege, sich eine neue Arbeit zu suchen, er sei, trotz des Spaßes, den er mit ihm beim Feierabendbier hatte, als Versicherungsvertreter definitiv nicht glücklich.

»Ja ja, ich weiß schon, du willst ein Handwerk ausüben«, sagte Robert seufzend, denn Julius hatte schon ein paar Mal mit ihm darüber gesprochen, »mit deinen Händen etwas schaffen und nicht etwas verkaufen, das nur auf dem Papier existiert.«

»Du solltest das auch versuchen«, sagte Julius, »ist sehr viel befriedigender.«

»Ich bin für einen Berufswechsel zu alt«, sagte Robert, »mit meinen Händen bearbeite ich nur meine Frau und mit etwas anderem natürlich. Was rede ich da? Ich bin auch zu alt für solche derben Späße.«

Julius musste lachen. Er konnte sich Robert ohne seine derben Späße nicht vorstellen, das machte für ihn den Freund aus. Er wusste, Katharina mochte ihn nicht, doch es war ihm gleichgültig, so hatte er jemanden, den er ab und zu alleine treffen konnte. Andreas zum Beispiel traf er nie alleine, er hatte einfach nicht das Bedürfnis dazu, obwohl er ihn wirklich schätzte. Wenn er ihn traf, waren sie immer zu viert, sozusagen im Doppelpack.

Andreas war brav, Robert war genau das Gegenteil, nämlich anarchistisch.

Eines Abends holten Katharina und er Andreas in seinem Elternhaus ab. Andreas’ Mutter kam ihnen entgegen und bat Julius aufgewühlt, dem Andi und ihr im Badezimmer zu helfen, beim Heben aus der Wanne in den Rollstuhl war ihnen ein Missgeschick passiert. Er folgte ihr ins Bad. Andreas’ Vater Rudi lag nackt auf dem nassen Boden, während sein Sohn sich abmühte ihn hochzubekommen. Julius traute seinen Augen nicht: Das war für ihn kein Mensch mehr, sondern nur noch ein riesiger Fleischklumpen. Sofort schämte er sich für seinen Gedanken und gehorchte umso eifriger Andreas’ Anweisungen, er ging in die Hocke und fasste unter die rechte Achsel. Er ekelte sich vor dem schwammigen, bleichen, nassen Fleisch und bemühte sich, sich das nicht anmerken zu lassen. Die Mutter hob die Beine hoch und schließlich schafften sie es zu dritt, den Mann in seinen Rollstuhl zu setzen. Dabei redete Andreas die ganze Zeit liebevoll mit seinem Vater und streichelte dann mit seiner freien Hand über Arme oder Wange, während er ihn abtrocknete. Julius konnte so viel Liebe kaum ertragen, er musste sich abwenden.

Mein Gott, ist das schrecklich. Was würde ich tun, wenn Arthur diese Krankheit hätte?, dachte Julius, er wäre mir wehrlos ausgeliefert.

Ein paar Tage später lag Julius entspannt auf dem Doppelbett in einem Zimmer der Pension Monika und wartete auf Claudia. Die Pension befand sich fünfzehn Kilometer von P. entfernt und eignete sich daher hervorragend für ihre geheimen Treffen, die ein bis zwei Mal in der Woche stattfanden. Claudia verließ um ein Uhr die Praxis des Arztes, bei dem sie als Ordinationsgehilfin arbeitete, und fuhr sofort weiter zur Pension, Julius nützte seine Mittagspause dafür. Die Zimmer der Pension dienten weitgehend zur Vermietung an Arbeiter, Tourismus gab es kaum in der Gegend. Monika, die Besitzerin, war eine ältere alleinstehende Dame, untersetzt und hässlich, aber offensichtlich kein bisschen neugierig. Sie grinste die beiden von unten herauf an, als sie beim ersten Mal verlegen fragten, ob sie für zwei Stunden ein Zimmer mieten könnten, und bejahte dann sofort. Weder verlangte sie einen Ausweis, noch mussten die beiden ein Formular ausfüllen, und auch der Preis war lächerlich gering. Der Mansardenraum war mit einem roten Plüschteppich ausgestattet, von dem man aber nicht viel sah, da das Zimmer nur aus Bett zu bestehen schien. Julius und Claudia war es völlig egal. Sie liebten sich, redeten und lachten.

Beim ersten Mal brachte er einen Rekorder mit und eine Kassette: »The Best of Simon and Garfunkel«.

Vor zehn Jahren hatte Doris Julius zum ersten Mal mit zu sich nach Hause genommen, er sollte ihr Englischnachhilfe geben. Claudia hatte ihnen belegte Brote auf den Schreibtisch gestellt und dabei wie unabsichtlich über seine Wange gestreift.

Eine Stunde später musste Doris weg, um rechtzeitig zu ihrer Reitstunde zu kommen und Julius räumte in ihrem Zimmer seine Sachen auf. Als er mit seinem Rucksack an Claudias Schlafzimmertür vorbeikam, bemerkte er, dass sie offen stand, und als er beim Vorbeigehen einen verstohlenen Blick hineinwarf, sah er Claudia nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet seitlich auf ihrem Bett liegen. Schnell ging er vorbei, doch Claudia rief seinen Namen. Er blieb stehen, heftig atmend. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Sich einfach aus dem Haus schleichen? Oder rennen, was das Zeug hielt? Oder doch zurückgehen? Seine Neugier siegte, er entschied sich für das Letztere, drehte sich wie in Zeitlupe um und betrat das Schlafzimmer. Auf dem Nachtkästchen lief der Kassettenrekorder, die Beatles sangen gerade »Here Comes the Sun«.

»Mach die Tür zu«, sagte sie und er tat es.

»Und jetzt setz dich zu mir«, sagte sie und klopfte mit ihrer linken Hand leicht auf das Bett. Julius tat es, dabei sah er nur auf den Boden, er wagte nicht, sie anzusehen.

»Sieh mich an«, sagte sie und er hob langsam seinen Blick. Er war knallrot im Gesicht.

»Gefalle ich dir?«, fragte sie.

»Ja, sehr«, flüsterte er.

Sie begann ihn langsam auszuziehen und als er nackt neben ihr lag und sie sein Geschlecht umfasste, kam er. Seine Ohren brannten vor Scham.

»Es tut mir leid«, stammelte er.

»Das macht nichts«, beruhigte sie ihn, »entspann dich einfach.«

Sie zog ihre Unterwäsche aus, nahm seine Hand und führte sie. Dann liebten sie sich. Julius war die ganze Zeit rot im Gesicht und stellte sich ungeschickt an. Das alles sollte sich sehr schnell ändern.

Von da an kam er fast jede Woche am Samstagnachmittag. An diesem Tag hatte Doris Reitstunde. Julius lernte also mit Doris Englischvokabel, und anschließend, wenn sie weggeeilt war, um in den Reitstall zu radeln (»Meine Tochter darf es auf keinen Fall erfahren«, schärfte Claudia ihm ein), bekam er von ihrer Mutter Sexualkunde und nicht nur das. Er nannte sie insgeheim seine gute Fee. Sein Leben veränderte sich völlig durch sie.

Claudia liebte Musik aus den sechziger und siebziger Jahren. Jedes Mal lief in dem alten Rekorder eine Kassette von den Beatles, von Elvis Presley, von Janis Joplin, von den Bee Gees, von Jimi Hendrix. Und einmal lief »The Best of Simon and Garfunkel« und bei einem Song, Julius kannte ihn nicht, fing sie zu lachen an. Es war »Mrs. Robinson« und Claudia erklärte Julius, was es mit dem Lied auf sich hatte. Sie erzählte ihm vom Film »Die Reifeprüfung«, in dem Dustin Hoffman einen Abiturienten verkörpert hatte, der mit der Mutter seiner Freundin eine Affäre hat. Sie hörten sich das Lied wieder und wieder an und sangen mit:

And here’s to you Mrs. Robinson

Jesus loves you more than you will know oh oh oh

God bless you please Mrs. Robinson

Heaven holds a place for those who pray hey hey hey

Sie gab ihm Hausaufgaben, die er erfüllen musste. Bei seinem zweiten Besuch schrieb sie auf einem Zettel den Namen von Kosmetika auf, die er sich in der Apotheke holen sollte, um damit seine picklige Haut zu behandeln. Einmal trug sie ihm auf, sich ein paar Jeans und lässige T-Shirts zu kaufen, seine Cordhosen und Hemden seien viel zu altmodisch, meinte sie.

»Du gehst zu einer jungen, netten Verkäuferin und lässt dich von ihr beraten, hörst du? Du machst das nicht im Alleingang! Du sagst zu ihr, du möchtest nur Sachen kaufen, in denen du ihr gefallen würdest«, sagte Claudia.

Einmal nannte sie ihm den Namen einer Friseurin im Nachbarort, von der er sich eine neue Frisur verpassen lassen sollte.

Sein Aussehen veränderte sich derart, dass ihn nicht nur seine Klassenkameraden anders wahrnahmen, sondern auch sein Vater.

»Hast du eine Freundin?«, fragte ihn Arthur grinsend, er tippte auf das freche Mädchen mit dem pfiffigen Kurzhaarschnitt, dem sein Sohn seit einiger Zeit Nachhilfe in Englisch gab, doch Julius schüttelte errötend den Kopf.

Auch was Arthur betraf, versuchte seine Geliebte ihm manchmal Hausaufgaben zu geben. Sie tat es mit großer Vorsicht, das wurde Julius ein paar Jahre später bewusst. Sie wusste von dem schwierigen Verhältnis der beiden, er hatte ihr nach einigem Bohren davon erzählt und Claudia merkte, dass es ihm nicht guttat, es sich von der Seele zu reden, er steigerte sich hinein und je mehr er erzählte, umso erregter und hasserfüllter schien er zu werden.

Er erzählte, dass sein Vater ihn direkt aus dem Krankenhaus, in dem seine Großmutter im Sterben gelegen war, mit nach Europa genommen hatte. Er hatte weder Tod und Begräbnis abgewartet, noch hatte er mit dem Kind je darüber gesprochen. Die Themen »Grandma« und »Tod« existierten für Arthur nicht; er, der Sechsjährige, hätte es jedoch dringend gebraucht, dass ihm jemand wieder und wieder erklärte, was da um ihn herum vorging. Er war in dieser Zeit extrem traurig und verstört gewesen, doch Arthur hatte ihn nie umarmt, geküsst oder gestreichelt. Nie waren sie nach Florida geflogen, um das Grab seiner Grandma zu besuchen.

»Das ist eigenartig«, sagte Claudia, »ich kenne Arthur nicht gut, aber ich habe von so vielen gehört, wie aufopfernd er sich um dich gekümmert hat.«

»Von außen hat das vielleicht so ausgesehen!«, erwiderte Julius aufgebracht, »aber die haben nicht durch die Wände der Bergmühle gesehen. Die wissen gar nichts.«

Claudia lenkte ihn ab, indem sie ihn verführte.

Beim nächsten Treffen sagte sie zu ihm: »Sieh ihm in die Augen, Julius. Immer wenn du mit ihm zusammen bist, vor allem, wenn ihr miteinander sprecht, siehst du ihm in die Augen, ist das klar? Du hast diese eigenartige Gewohnheit, den Leuten nicht in die Augen zu schauen, das macht den Eindruck, du hättest etwas zu verbergen und das hast du nicht! Du bist ein ehrlicher, offener junger Mann. Sag mir das nach«, sagte Claudia, während er an ihrer Brust knabberte.

»Ich bin ein ehrlicher, offener junger Mann und sehr geil auf deine Brüste«, sagte Julius.

»Du hast schon viel gelernt«, lachte Claudia und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Gut, dann stell dir eben in Arthurs Gesicht meine Brüste vor! Seine Augen sind meine Brüste. Spaß beiseite. Du straffst deine Schultern, streckst deinen Hals und richtest deinen Blick in das Gesicht deines Vaters, verstanden? Du wirst sehen, das wirkt Wunder.«

Es wirkte tatsächlich Wunder. Obwohl es für ihn anfangs eine große Überwindung darstellte, begann er seinem Vater in die Augen zu sehen. Beim ersten Mal ging seine Vorstellungskraft mit ihm durch und er sah wirklich Claudias kleine, feste Brüste oberhalb Arthurs Nase und er musste lachen. Arthur sah ihn erstaunt an und lachte dann mit. An diesem Abend gingen sie gemeinsam Billard spielen.

Claudia gab ihm auch Hausaufgaben, was seine Mitschüler und Lehrer betraf, oft war es nur eine Kleinigkeit: »Grüß ihn einfach mal freundlich.«

Oder was sein Phlegma betraf: »Du musst rausfinden, was dir Spaß macht!«

In der Zeit entdeckte Julius seine Liebe zu Holz und zu alten Möbeln.

»Eigentlich würde ich am liebsten eine Tischlerlehre machen, aber Arthur besteht darauf, dass ich das Gymnasium abschließe.«

»Du kannst ja in den Ferien bei einem Tischler oder Restaurator jobben«, schlug Claudia vor.

So kam es, dass Julius eines Nachmittags nach der Schule die Werkstätte von Ferdinand Hauer betrat und sagte: »Ich würde gerne in den Ferien bei Ihnen arbeiten.«

Er konnte nicht verhindern, dass er dabei ein bisschen rot wurde und verfluchte insgeheim seine Neigung zum Erröten.

Der neunundvierzigjährige Hauer war Restaurator mit Leib und Seele, er hatte seine Werkstätte als junger Mann eröffnet und sein Leben lang hart, aber mit Freude gearbeitet. Er restaurierte alte Möbel aus Holz, ebenso Holzböden und Wandverkleidungen, und nicht selten bekam er einen öffentlichen Auftrag, dann restaurierte er zusammen mit anderen ein denkmalgeschütztes Gebäude. Manchmal kaufte er einem Kunden eine Antiquität ab, restaurierte sie liebevoll und verkaufte sie weiter. Seine absoluten Steckenpferde waren Spiegelkommoden und Sekretäre.

Hauer lachte: »Ehrlich gesagt ist mir das noch nie passiert, dass ein Gymnasiast zur Tür reinspaziert und sagt, er will im Sommer bei mir arbeiten. Sag mir, warum ich dich einstellen soll.«

Julius wurde verlegen.

»Nur keine Panik, erzähl mir ein bisschen was von dir«, forderte Hauer ihn freundlich auf.

Julius dachte an Claudia und zwang sich, dem Mann offen in die Augen zu schauen. Es gelang ihm. Nicht rot werden, nicht rot werden, dachte er, ruhig bleiben und reden.

»Ich bin als Einzelkind in einem alten Haus aufgewachsen und die Möbel darin waren auch alle alt. Es klingt vielleicht blöd, aber sie waren meine Freunde, ich habe mit ihnen geredet. Ich habe sie gefragt, was sie alles schon erlebt und gesehen haben. Natürlich haben sie mir nicht geantwortet, deshalb habe ich es mir eben vorgestellt. Ich habe mir ihre Geschichte vorgestellt.«

Hauer stellte Julius in den Sommerferien für sechs Wochen ein und bereute es nicht. Der Junge war im Umgang mit Holz sehr geschickt und die beiden kamen gut miteinander aus. Er stellte ihn in den folgenden Sommerferien wieder ein.

Julius gewann Selbstvertrauen.

Er wusste, er hatte es nur Claudia zu verdanken.

Einmal fragte er sie: »Warum tust du das?«

»Einfach so. Du sollst mein gutes Werk sein«, lachte sie.

Und jetzt sahen sie sich wieder in einer kleinen heruntergekommenen Pension mit dem Namen Monika und die gleichnamige Besitzerin lächelte ihnen jedes Mal verschwörerisch zu, wenn sie ihnen ohne Worte den Schlüssel überreichte. Hand in Hand liefen sie die mit einem roten Teppich ausgelegte Treppe hoch in den zweiten Stock. Manchmal fragte Julius beim Abschied: »Meine Hausaufgaben?«, und sie lachten. Nur einmal sagte sie: »Du jammerst zu viel über deine Arbeit, such dir endlich einen neuen Job!«

Zwei Wochen später betrat Julius die Werkstätte des alten Hauer und führte mit ihm ein längeres Gespräch. Sie verabschiedeten sich mit einem Handschlag und pfeifend verließ er die Werkstätte. In einem Monat sollte er beginnen. Seinen Chef in der Versicherung suchte er sofort auf und teilte ihm seine Kündigung mit.