Ich treibe im eiskalten Wasser und schreie verzweifelt Ludovicas Namen.
Bis sie schließlich einige Meter neben mir auftaucht, habe ich das Gefühl, dass eine Ewigkeit vergangen ist. Sie schwimmt zu mir. Ich bin in Panik und schreie nur noch herum, dass wir sterben werden.
»Sei still, zieh deine Jacke aus, wenn sie zu schwer ist, und schwimm!«, schreit sie mich an, »dort ist das Boot, da müssen wir hin!«
Ich entdecke weiter vorne das umgekippte Boot und mühe mich mit zittrigen Fingern ab, die Knöpfe der Jacke aufzumachen, doch es gelingt mir nicht. Ich gebe es schnell auf und schwimme Ludovica hinterher. Sie ist viel schneller als ich. Die ganze Zeit muss ich dem Drang widerstehen, mich von der Kälte einfach in die Tiefe ziehen zu lassen. Das Wasser fühlt sich wie Nadelstiche an.
»Beweg dich, immer bewegen!«, schreit sie mir zu, als sie beim Boot angelangt ist.
Mit Mühe gelingt es uns, das Boot endlich umzudrehen. Die Kräfte verlassen uns. Unsere vollgesaugte Wattekleidung macht jede Bewegung schwierig. Sie steigt zuerst ein, während ich es auf der anderen Seite festhalte, dann ziehe ich mich über die Bordwand. Vor lauter Schwäche schaffe ich es fast nicht. Im Boot ziehen wir sofort unsere Jacken aus. Durch den Zusammenstoß ist das Boot leck geworden, Wasser tritt ein, ich versuche es mit den Händen hinauszuschöpfen. Es ist zwecklos, das Wasser steigt und steigt.
Wir sitzen zitternd und bebend vor Kälte nebeneinander, die Ruder sind fort, auch unsere Rucksäcke mit dem Proviant. Der Motor lässt sich nicht mehr starten. Die nassen Kleider werden steif vor Kälte. Wir sehen Alaskas Küste vor uns.
»Ich gebe nicht auf«, schluchzt Ludovica mit blauen Lippen, »ich schwimme hinüber!«
»Warte! Wir versuchen es mit den Händen«, sage ich, »du paddelst auf der einen Seite und ich auf der anderen.«
Wir lehnen uns an beiden Seiten hinaus und paddeln wie verrückt. Nach einer Weile merken wir, dass es nichts bringt, wir bewegen uns kaum auf die Küste zu. Der Landstrich in der Ferne macht uns wahnsinnig, er erscheint uns so nah und gleichzeitig unerreichbar.
»Wir müssen schwimmen, sonst erfrieren wir hier«, weint Ludovica. Sie kriecht neben mich und küsst mich.
»Nein, nein«, wehre ich mich, »ich kann nicht so gut schwimmen wie du. Ich schaffe das nicht!«
»Du schaffst es, Thomas, dort vorne ist die Küste, du siehst sie ja, es ist wahrscheinlich nur ein Kilometer, das schaffen wir!«, sagt sie beschwörend.
»Wir warten hier, es müssen ja irgendwann Fischer kommen«, sage ich, »da leben doch Eskimos, die im Sommer fischen oder nicht?«
»Ich weiß nicht, ob genau hier jemand wohnt und fischt, Alaska ist ja riesengroß. Und außerdem sind wir bis dahin untergegangen.« Sie deutet auf das eintretende Wasser und beginnt wieder zu weinen. Plötzlich schnürt sie ihre Wattestiefel fest zu und steigt ins Wasser. Als ich sie mit Gewalt festhalten will, schlägt sie nach mir.
»Komm mit, Thomas, schwimm mir nach, bitte«, ruft sie noch, dann schwimmt sie los. Mit kräftigen Tempi entfernt sie sich und wird immer kleiner. Ich sitze fassungslos da und sehe ihr nach. Die Minuten verrinnen qualvoll. Als ich ins eiskalte Wasser steige, muss ich einen Aufschrei unterdrücken. Ich schwimme ihr nach, denn eine andere Wahl habe ich nicht. Es ist Sommer, sage ich mir, auch wenn das Wasser kalt ist, du wirst nicht erfrieren, solange du dich bewegst. Krampfhaft versuche ich, ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten und den Schmerz, den die Kälte verursacht, wegzuatmen. Meine Mutter erzählte mir einmal davon, von Geburt, Wehenschmerz und Atmen. Ich schwimme und schwimme. Bis ich meine Arme und Beine nicht mehr spüre, bis meine Lunge zerbirst. Bis ich nicht mehr kann und es dunkel wird. Wasser ist überall. Ich sinke.
Hustend und spuckend wache ich auf. Ich bewege mich stöhnend und werde festgehalten, über mir zwei grinsende braune Gesichter, mit Falten überzogen, Zahnlücken. Sie schauen auf mich herab und lachen.
»Thomas, Thomas!«, ich höre Ludovicas Stimme weit weg und drehe den Kopf, doch ich kann sie nicht sehen. Dann ist wieder alles schwarz.
Erst Stunden später wache ich richtig auf. Ich brauche eine Weile, um meine Augen an die Dunkelheit und an den Rauch zu gewöhnen. Ich liege auf Fellen und bin mit einem zugedeckt. Um eine Feuerstelle herum sitzen Männer und Frauen, sie sind eigenartig gekleidet. Ludovica tritt aus dem Rauch hervor. Mit einer Schüssel kommt sie lächelnd auf mich zu, vorsichtig richte ich mich auf. Wir umarmen uns weinend.
Während ich die Fischsuppe schlürfe, erzählt sie mir, was passiert ist. Vom Ufer aus beobachteten uns die ganze Zeit Eskimojäger. Sie sahen, wie der Wal, übrigens ein Grauwal, unser Boot zum Kentern brachte, wie wir schrien und strampelten, das Boot umdrehten und hineinkletterten. Zusammenstöße mit Walen sind hier keine Seltenheit, vor allem wenn die Tiere in Rudeln unterwegs sind.
Sie amüsierten sich, es war für sie wie ein Schauspiel. In der Einöde gibt es nicht viel Abwechslung, wir sorgten für eine. Sie schlossen Wetten ab, wer zuerst losschwimmen würde. Erst als sie bemerkten, dass ich Schwierigkeiten hatte, stiegen sie in ihre Kanus und paddelten uns entgegen. Sie zogen Ludovica aus dem Wasser, dann mich. Bei mir wären sie fast zu spät gekommen, ein Mann musste ins Wasser springen und mich rausziehen.
»Wir haben es geschafft, Thomas«, flüstert sie, »wir sind in Alaska, wir sind gerettet!«
Wir weinen vor Freude und küssen uns. Die Leute am Feuer sehen uns zu und lachen. Später setzt sich ein junger Mann zu uns. Ludovica sagt, es sei der Mann, der ins Wasser sprang, um mich rauszuziehen. Der Mann heißt Nootaikok und spricht Englisch, über seine rechte Schläfe zieht sich eine breite Narbe.
»Seit mehr als zehn Jahren kommen jeden Sommer ein paar von drüben, nicht viele, aber so zwei bis drei sind es fast immer, die die Flucht schaffen«, sagt er, »in diesem Sommer seid ihr die Ersten. Wie viele es nicht schaffen, wissen wir nicht. Wir haben schon mehr als einmal ein leeres Boot da draußen gefunden oder Reste eines Bootes.«
Die Männer verlassen das Zelt, Kinder drängen sich herein und begaffen uns. Vorsichtig kommen sie näher und setzen sich neben mich und Ludovica, deren rotblondes Haar sie immer wieder angreifen. Ein Junge zieht blitzschnell das Fell weg, das mich zudeckt. Alle lachen hell auf. Erst jetzt sehe ich, dass ich nackt bin. Die Kinder laufen wieder aus dem Zelt, kreischend und lachend. Eine junge Frau betritt das Zelt und bringt uns Kleidungsstücke. Sie kniet sich neben uns hin und beginnt zu flüstern, dabei sieht sie ängstlich zu den anderen am Feuer hinüber. Wir verstehen nicht, was sie sagt. Sie spricht kaum Englisch, sagt zum Schluss: »Go, quick, go!« Ein älterer Mann verscheucht sie und reicht uns eine Schale mit einem dampfenden Getränk. Wir trinken ausgiebig und werden angenehm eingelullt. Dann lässt man uns allein, nur eine alte Frau bleibt am Feuer, sie nickt ein. Wir küssen uns, zuerst sanft, dann immer gieriger. Ludovica kriecht zu mir unter das Fell und wir lieben uns. Es ist für uns beide das erste Mal.
Wozu so viel darüber schreiben? Über diese glücklichen Stunden im warmen, verrauchten Zelt der Eskimos, die uns retteten, aber dann verkauften? Sie waren so schnell vorbei.
Im nächsten Morgengrauen fordert man uns ziemlich barsch auf, das Zelt zu verlassen. Wir sehen uns erstaunt an und schlüpfen in unsere neue Kleidung. Ich fühle mich verkatert. Draußen stehen alle, sie bilden ein enges Spalier für uns, durch das wir uns durchkämpfen, die Kinder greifen noch einmal nach Ludovicas Haaren. Am Ende des Spaliers stehen zwei amerikanische Soldaten vor einem Jeep. Wir freuen uns, sie zu sehen, begrüßen sie überschwänglich, doch sie bleiben ernst.
Wir steigen ein und fahren los. Als ich mich umdrehe, sehe ich etwas abseits die Männer vor einer Kiste stehen. Einer nimmt gerade ein Gewehr hoch.
Mit dem Jeep fahren wir zwei Stunden lang. Ich habe Hunger und Durst, getraue mich aber nicht, das zu sagen. Ludovica versucht ein Gespräch mit den Soldaten anzufangen, sie spricht sehr gut Englisch. Sie erzählt von den furchtbaren Haftbedingen im Uranbergwerk. Die beiden jungen Soldaten sehen sich manchmal verstohlen an, bleiben aber schweigsam. Endlich kommen wir bei drei Blockhütten an, ringsum nur Einöde, unter uns das Meer. Es muss ein militärischer Stützpunkt sein, da einige Soldaten herumstehen und auch zwei weitere Jeeps.
In einer Hütte bekommen wir ein Frühstück serviert, gebratenen Speck, Spiegeleier und dazu eine Tasse Kaffee. Wir essen gierig und werden aufmerksam betrachtet. Ludovica erzählt, dass sie in New York Verwandte hat und bittet, man möge sie doch verständigen. Drei Männer sitzen uns gegenüber, einer davon scheint höherrangig zu sein, er beginnt eine Menge Fragen zu stellen. Ludovica erzählt von unserer abenteuerlichen Flucht. Ein anderer tippt ihre Antworten auf der Schreibmaschine mit, er tippt schnell und ich schaue seinen flinken Fingern zu. Meine eigene Schreibmaschine in meinem Elternhaus fällt mir ein. Die mein Vater vom Tisch fegte und auf der ich einen Zettel für meine Mutter hinterließ, bevor ich ging. Es ist schon so lange her! Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Mutter, mein Elternhaus, den Geruch in der Mühle, das Baumhaus, das mein Onkel für Rudi und mich baute, meine Bücher über dem Bett, den Gugelhupf, den es am Sonntag gab.
Alles verschwimmt plötzlich vor meinen Augen, das viele Essen macht mich träge und benebelt. Bin ich wirklich an der Küste Alaskas? Sitze ich hier neben einem wunderschönen Mädchen, das ich liebe? Ich bin es plötzlich selbst, der vor der Schreibmaschine sitzt und tippt. Ein Müller, der einen Roman schreiben will. Meine Mutter ruft mich zum Essen.
Nein, es ist ein Soldat, der in der Tür steht und etwas ruft. Nach dem Frühstück werden wir von vier Soldaten und dem Höherrangigen hinausbegleitet. Auf Ludovicas Frage, wohin es gehe, antwortet niemand. Wir gehen schweigend nebeneinander, zwischen uns geht ein Soldat. Auf einem schmalen, ausgetretenen Pfad geht es den Hang hinunter ans Meer, wir erkennen einen Pier und ein paar kleinere Schiffe.
»Du wirst sehen, sie bringen uns mit dem Schiff runter bis zum Bundesstaat Washington oder Oregon, weil es mit einem Jeep viel zu weit wäre«, sagt Ludovica.
»Shut up«, sagt der junge Soldat zwischen uns. Er wirkt nervös.
Wir betreten den Pier und bleiben stehen. Aus einem Schiff klettern vier Männer und kommen auf uns zu. Wir brauchen lange, bis wir verstehen. Und dann schreit Ludovica auf, laut und gellend.
Die Männer tragen Sowjetuniformen, einer davon ist Teljan, er hat ein spöttisches Grinsen im Gesicht. Der Höherrangige hält ihm ein Papier hin, er unterschreibt es.
»Das könnt ihr nicht machen, ihr Schweine!«, schreie ich immer wieder.
Ludovica spuckt den Amerikanern ins Gesicht. Sie zeigen keine Regung und gehen weg.
»Ist das nicht rührend?«, sagt Teljan. »Unser Liebespaar wird heimkehren.«
Wie sie beschreiben, die Stunden, die Wochen des Elends und der völligen Verzweiflung? Wie ausdrücken, dass daraus Monate und Jahre wurden?
Es gibt kaum Worte dafür. Alles klingt banal, was ich hier darüber schreibe.
Das U geht fast nicht mehr. Oft hämmere ich drei oder vier Mal darauf, bis es anschlägt. Es muss noch halten, bis ich alles fertig aufgeschrieben habe.
Auf dem Schiff prügelt man mich systematisch zusammen. Was mit Lu passiert, weiß ich nicht, wir werden sofort getrennt. Einmal höre ich sie verzweifelt schreien. Dabei klingt ihre Stimme ganz nah, denn die Wände sind dünn auf dem kleinen Schiff. Ihre Schreie sind furchtbarer für mich als die Schläge und Fußtritte der Soldaten. Ich habe das Gefühl, dass ich sterbe.
Im Lager sperrt man mich einen Monat lang in den Karzer. Der Karzer ist ein kleiner Raum ohne Fenster, ungefähr eineinhalb Meter in der Länge und Breite und auch in der Höhe, sodass man nicht aufrecht stehen kann. Es gibt keine Möbel im Karzer, auch keine Toilette. Erst am dritten Tag erhalte ich eine Schüssel mit schmutzigem Wasser zu trinken und nach einer Woche etwas zu essen. Einen Monat lang wasche ich mich nicht. Einen Monat lang sehe ich niemanden, spreche niemanden. Das Essen wird mir durch eine Luke in der Tür gereicht. Ich werde zum Tier, zum Wahnsinnigen.
Als ich nicht mehr esse und mich hinlege, um zu sterben, wird die Tür aufgerissen. Zwei Soldaten zerren mich ins Freie, dabei halten sie sich die Nase zu. Ich bin kein Mensch mehr, nur noch ein stinkendes Stück Fleisch, starr vor Dreck. Man wirft mich vor dem Badehaus auf die Erde. Der Friseur kommt mit zwei Eimern Wasser und schüttet es über mich. Das Wasser ist eiskalt. Dann schneidet er mir die Kleidung vom Leib. Im Badehaus duscht und schrubbt er mich immer wieder ab, bevor er alle Körperhaare entfernt. Zwei Soldaten schauen zu, sie lassen uns keinen Augenblick allein. Teilnahmslos lasse ich alles über mich ergehen.
Jemand aus der Küche bringt Tee und Kascha, das ist Buchweizengrütze. Als ich mich weigere zu essen, sagt ein Soldat zu mir: »Wir haben den Auftrag dafür zu sorgen, dass du alles aufisst.«
Der andere Soldat fügt grinsend hinzu: »Sonst muss sie es büßen.«
Ich zwinge mich Löffel für Löffel zu essen. Danach werde ich von den beiden zum Uranbergwerk begleitet. Verzweifelt schaue ich zurück zu den Blockhütten und hoffe noch einmal Lu irgendwo zu sehen. Sie treiben mich weiter.
Lu sehe ich nicht mehr.
Am Stolleneingang übergeben sie mich dem wachhabenden Offizier. Er bringt mich in die Schlafkaverne und sagt: »Du hast die nächsten zwei Tage frei. Ruh dich aus«, bevor er mich alleine lässt. Einige Stunden später kommt die Brigade von der Arbeit zurück. Ich werde vor allem von Fritz und Kristjan überschwänglich empfangen. Die anderen drängen sich ebenfalls heran und wollen jede Einzelheit hören. Schwerfällig setze ich mich auf den Boden und versuche die zahlreichen Fragen so kurz wie möglich zu beantworten.
»Die haben euch wirklich an die Sowjets ausgeliefert anstatt euch zu helfen?«, fragt Fritz fassungslos.
Kristjan fängt zu lachen an: »Hast du nicht gewusst, dass die Russen und die Amerikaner Verbündete sind? Die halten zusammen.«
Nein, ich wusste es nicht. Und Lu wusste es vermutlich auch nicht. Ansonsten war ihr Plan nämlich perfekt, ihr Mut großartig.
Ich lebe weiter und habe jeden Tag ihr Gesicht vor mir. In den ersten Wochen weine ich mich in den Schlaf. Ich versuche, leise zu sein, doch manchmal ist mein Schluchzen so laut, dass die anderen mich anschreien, weil sie nicht schlafen können. Doch man hat auch Mitleid mit mir. Nicht wenige klopfen mir während der Arbeit aufmunternd auf die Schulter und sagen ein paar freundliche Worte.
Wie ein Roboter fühle ich mich, ohne Empfindung, ohne Kraft, ohne Hoffnung. Allen geht es so, wir sind menschliche Arbeitsmaschinen. Warum überlebt man hier? Wir bekommen genug zu essen und haben es im Bergwerk warm. Offensichtlich ist das genug, um zu überleben. Dass wir unmenschliche Arbeit verrichten, in der Dunkelheit leben, keine Freude oder Liebe um uns haben, nicht frei sind, ist zu wenig, um zu sterben. Man überlebt vieles, auch in Sibirien. Oft denke ich an Lus Worte in diesem Lager, bevor wir auf das Schiff nach Magadan getrieben wurden: »Überleben ist das Wichtigste!«
Ich bezweifle jetzt, ob das stimmt. Doch manchmal spüre ich Wärme in meinem Bauch und dann weiß ich, dass es Lu ist, die fest an mich denkt. Dann regt sich der Überlebenswille in mir. Irgendetwas wird doch passieren, denke ich, irgendjemand wird sich doch darum kümmern, dass wir wieder nach Hause kommen!
Als Träger werde ich nie eingesetzt, ich sehe also das Tageslicht nur alle vierzehn Tage, wenn wir uns eine Stunde im Freien die Beine vertreten dürfen. Zum Badehaus werden wir nicht mehr gebracht, alle paar Wochen kommt der Friseur zu uns in die Kaverne. Vorher stellt man uns zwei Eimer Wasser hin, damit wir uns notdürftig waschen können. Man gibt mir die Schuld, wegen meiner Flucht wurde der Ausflug in das Badehaus gestrichen. Man beschimpft und bespuckt mich, nur Fritz und Kristjan nehmen mich in Schutz.
Ich lebe, ich überlebe, in der Hölle. Einen Tag nach dem anderen.
Ein Jahr später ändern sich plötzlich die Bedingungen. Anstatt wie früher eine Mahlzeit am Tag erhalten wir zwei Mahlzeiten. Plötzlich ist jeder zehnte Tag frei und wir werden wieder in das Badehaus geführt. Dort steht ein anderer Offizier da, Teljan ist nicht zu sehen. Die Gerüchteküche brodelt, während wir duschen. Ein junger Wachsoldat erzählt im Tausch gegen fünf Machorkas, dass Teljan in einem Goldschürflager auf Kolyma als Lagerleiter eingesetzt wurde. Das Klavier und die Pianistin nahm er mit. Vor zwei Wochen reiste er ab, glücklich über die Versetzung. Über den neuen Lagerkommandanten sagt der junge, stotternde Soldat: »Er ist gütiger.«
Gütiger! Alle lachen über seine Wortwahl.
»Gütiger Gott!«, sagen Fritz und Kristjan lachend.
Ich lache nicht und denke an Lu. Die Tränen steigen mir hoch. Sie ist weit weg, wahrscheinlich sehe ich sie nie wieder. In der Nacht weine ich wieder, so wie vor einem Jahr, als man mich zurück ins Bergwerk brachte.
Die Monate vergehen. Wir wissen meistens nicht, welches Datum wir haben, nur wenn ein Wachsoldat gnädig ist und unsere Frage danach beantwortet. Von den Jahreszeiten bekommen wir nicht viel mit, nur bei unseren Ausgängen ins Freie. Die ewigen Schneestürme im Winter, das Schmelzwasser im Frühling, der kurze Sommer, der die Landschaft zu einer Einöde macht, der Herbst, der keiner ist, weil keine Bäume in rotgoldenen Farben erstrahlen, sondern nur wirbelnden Schnee bringt.
Manchmal, wenn die Sicht gut ist, können wir hinunter bis zur Küste sehen. Wir sehen die Frachtschiffe der Sowjets, die Baidaren und Walboote der Tschuktschen, auch ihre Jarangas aus Rentierfellen, und fragen uns, wie man in dieser Kälte sein ganzes Leben verbringen kann. Eines Tages treffen wir beim Ausgang nicht auf Helmut, wie wir es sonst tun. Wir sprechen einen Mann aus seiner Brigade an, von dem wir wissen, dass er viel mit Helmut zusammen war. Der Mann schüttelt traurig den Kopf.
»Helmut ist tot«, sagt er.
Wir können es nicht fassen.
»Was ist passiert?«, fragt Fritz.
»Ein riesiger Gesteinsbrocken ist ausgebrochen und hat ihn erschlagen. Alle sprangen zur Seite, nur er nicht. Wir glauben, dass er nicht mehr leben wollte. Wir mussten den Stein in einzelne kleine Stücke schlagen und stückweise abtransportieren, erst dann konnten wir seine Leiche bergen. Es war furchtbar. Während wir schlugen und schlugen, haben wir die ganze Zeit unter uns Helmuts Gesicht gesehen«, antwortet er.
Fritz und ich sind tagelang geschockt. Der fröhliche Student, den wir in Sopron kennenlernten, der sich auf ein Abenteuer freute, geistert lange in unserem Kopf herum. Wo Karl, sein Bruder, sein mag? Ob er noch lebt?
Einmal fragt Fritz einen jungen Soldaten, welches Datum wir haben, und bietet ihm eine Machorka an.
»Wir haben heute den 26. April«, antwortet der junge Mann, dessen Gesicht voller Pickel ist.
Ich zucke zusammen. Es ist mein Geburtstag!
»Welches Jahr?«, fragt Kristjan.
Der Soldat sieht ihn überrascht an.
»Das ist nicht dein Ernst«, antwortet er.
»Doch, ich weiß es wirklich nicht«, sagt Kristjan.
»1949«, antwortet der Soldat und geht weg.
Es ist mein vierundzwanzigster Geburtstag, der vierte, den ich ohne meine Familie verbringe. Meine Flucht mit Lu ist beinahe zwei Jahre her. Und beinahe vier Jahre lang bin ich bereits in sowjetischer Gefangenschaft.
»Alles Gute zum Geburtstag!«, sagen meine Kameraden zu mir und überreichen mir jeweils eine Machorka.
»Mein Leben verrinnt in diesem schrecklichen Land«, sage ich traurig, während ich rauche.
»Unser Leben zerrinnt in diesem Schmelzwasser«, grinst Kristjan, »meine Schuhe sind schon wieder patschnass!«
Fritz und die Umstehenden lachen. Viele versuchen krampfhaft, ihren Humor zu behalten. Manche haben sich Karten organisiert und spielen immer wieder. Manche erzählen ständig Witze oder Anekdoten aus ihrem früheren Leben. Andere versuchen eisern, von den Wachsoldaten Dinge zu erbetteln, die etwas Abwechslung in unseren trostlosen Alltag bringen sollen. Einer, er heißt Stepan, ist besonders erfolgreich darin. Wir erhielten in den letzten Monaten drei Bücher (»Robinson Crusoe«, »Der brave Soldat Schwejk« und »Anna Karenina«), Dominosteine und einen Tisch samt vier Stühlen. Die Bücher bereiten allen am meisten Freude. Bevor wir schlafen, liest einer ein paar Seiten daraus vor.
»Ach sei nicht immer so ernst«, sagt Fritz und schlägt mir kameradschaftlich auf die Schulter, »du bist jung, im Gegensatz zu uns! Du kommst wieder nach Hause, ganz sicher!«
Kurz darauf bin ich schwer krank und werde ins Lazarett gebracht. Ein Russe traf mit seiner Spitzhacke versehentlich meinen Fuß und die zuerst harmlose Wunde entzündete sich schwer. Ohne jede Narkose schneidet man das kaputte Fleisch weg und desinfiziert mit Wodka. Drei Wochen liege ich im Lazarett und werde mit Salben behandelt. Die Erinnerungen an Lu sind hier beinahe unerträglich. Ein Sanitäter erkennt mich und flüstert mir einmal zu: »Sie ist nicht mehr hier, sie ist jetzt im Goldlager Kalinka, fünfhundert Kilometer westlich von hier. Er hat sie mitgenommen. Nur damit du Bescheid weißt.«
Einmal kommt der Lagerkommandant zu mir ans Bett und fragt: »Du bist also der, dem die Flucht nach Alaska gelungen ist?«
Ich nicke nur. Er betrachtet mich eingehend und geht dann schmunzelnd weg. Dann bringt man mich zurück in das Bergwerk, wo wieder jeder Tag dem anderen gleicht.
Jeder Tag ist ein Fest der Freudlosigkeit.