Zwei Jahre lang traf Julius Claudia regelmäßig, danach fanden ihre Zusammenkünfte in der Pension Monika in immer größeren Abständen statt, bis sie im Frühling 2001 beschlossen, ihre Beziehung ganz zu beenden. Claudia war nun beinahe achtundvierzig Jahre alt und Julius sollte in einigen Wochen heiraten, sein drittes Kind war ein Jahr alt.
Seit einigen Monaten fühlte sie sich nicht mehr wohl, ihr Wechsel hatte mit voller Wucht eingesetzt, sie litt an heftigen Schweißausbrüchen und bekam dabei ein hochrotes Gesicht. Einmal hatte sie nach dem Liebesakt einen solchen Schweißausbruch gehabt und Julius merkte, dass es ihr unangenehm war. Er spielte den Fürsorglichen, obwohl er sich ekelte. An diesem Tag wusste er, er würde sie nicht mehr lange treffen können, er hatte ein Problem mit Körpern, die alterten und nicht mehr funktionierten.
Er besorgte Rosen und wollte es ihr schonend beibringen. Sie lag auf dem Bett, nicht wie sonst nackt, sondern völlig bekleidet, und als er eintrat, sah er in ihrem Gesicht, dass das nicht nötig war, sie wusste es bereits und wollte dasselbe. Claudia überreichte ihm zum Abschied eine Schachtel mit einer Zigarre und sie rauchten sie gemeinsam, bevor sie auseinandergingen.
Im Juli stand er vor dem Altar und sah seine Verlobte in einem cremeweißen Kleid aus Seidentaft an Arthurs Arm auf ihn zukommen. Vor den beiden gingen die sechsjährigen Zwillinge und streuten Rosenblätter auf den Kirchengang, zwischen ihnen die vierzehnmonatige Leonora. Katharina sah atemberaubend aus, die drei Kinder waren entzückend und Julius ging das Herz vor Stolz über. War es möglich, dass das seine Familie war?
Später erzählte er es seinem Freund Robert, den er trotz seiner Kündigung bei der Versicherung noch manchmal auf ein Bier traf.
»Vor Stolz? Nicht vor Liebe, sondern vor Stolz?«, fragte dieser und zog grinsend eine Augenbraue hoch, »das ist ja interessant.«
»Natürlich auch vor Liebe, du Blödmann«, erwiderte Julius und warf einen Bierdeckel nach ihm.
Robert war sein Trauzeuge gewesen, neben ihm war eine neue Frau gestanden, die einundzwanzigjährige Sibille, für sie hatte er nach drei Wochen seine Familie verlassen.
»Du kennst sie erst drei Wochen«, hatte Julius zu ihm gesagt, »willst du nicht nachdenken darüber?«
»Nein, will ich nicht!«, hatte Robert gelacht, »ich hab das Jammern zu Hause satt, die Verantwortung, die Forderungen! Ich will leben, ich will spüren!«
Er flog mit der jungen Geliebten für vier Wochen auf die Seychellen und kam einen Tag vor Julius’ Hochzeit zurück. Braun gebrannt und sprühend vor Energie tanzte er die ganze Nacht mit seiner Sibille durch.
Die Zeit verging, Katharina wollte unbedingt zu arbeiten beginnen. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, dass seine Frau arbeiten ging. Vermutlich hatte er Roberts zynische Schilderungen seines Familienlebens beim Feierabendbier noch zu sehr im Kopf: Die Mutter, die jeden Morgen aus dem Haus hetzte, das Make-up im Gesicht noch gar nicht richtig verteilt, die Kinder, die jeden Nachmittag alleine vor dem Fernseher hockten und sich selbst eine Fertigpizza in den Ofen schoben, der Haushalt, der im Chaos versank, und die Frau, die jeden Abend vor Müdigkeit auf dem Sofa vor dem Fernseher zu schnarchen begann. Julius konnte Katharina überreden, es noch ein Jahr zu verschieben und die Kleine erst mit vier Jahren in den Kindergarten zu schicken.
Alles lief gut, alles lief harmonisch.
Doch tat es das wirklich? Nach außen hin war es so, das wusste Julius und das war ihm wichtig. Neben sich die große Frau mit den blonden langen Haaren und den strahlenden blauen Augen und die drei süßen blonden Kinder, er merkte, die Leute drehten sich nach ihnen um, das tat gut.
Doch innerlich war er rastlos, unausgeglichen und versuchte es zu verbergen. Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass es unter anderem auch am Geld lag, am Geld, das ständig knapp war. Seine Familie musste sparen und das war ihm zuwider. Er war über dreißig Jahre alt und verdiente einen Pappenstiel! Im Grunde waren sie von Arthurs Wohlwollen abhängig, dieser finanzierte den Umbau des Hauses alleine, verlangte keine Miete von ihnen, bezahlte für die Zwillinge die Skiausrüstung. Julius hasste es, von seinem Vater abhängig zu sein.
Seit Jahren arbeitete er in Hauers Werkstätte und restaurierte alte Kästen, Betten, Truhen, Kommoden, fuhr auf Montage mit, um Böden und Wandverkleidungen zu richten, er mochte seine Arbeit und ging gerne hin. Doch was er jeden Monat auf seinem Konto sah, mochte er nicht. Er wusste, dass Hauer nicht mehr bezahlen konnte, die Werkstätte war klein und warf nicht mehr ab, am liebsten hätte sich Julius selbständig gemacht, er hatte aber den Mut nicht dazu. Er hätte einen Kredit aufnehmen müssen, um sich eine Werkstätte einrichten zu können. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Katharina begann zu arbeiten, Julius hatte keine schlagenden Argumente mehr, sie davon abzuhalten. Seine Befürchtungen, alles würde im Chaos versinken, bewahrheiteten sich nicht, weil Arthur am Nachmittag bis vier Uhr – dann kam Katharina nach Hause – bei den Kindern war. Es war Julius ein Dorn im Auge, dass es ausgerechnet sein Vater war, der so viel Zeit mit seinen Kindern verbrachte, dass es ausgerechnet sein Vater war, der ihnen immer wieder aus der Patsche half, dass es ausgerechnet sein Vater war, den seine Frau so sehr mochte.
»Dein Vater ist ein Schatz, weißt du das?«, flötete sie hin und wieder, wenn Arthur für die Kinder ein Baumhaus baute, wenn er mit ihnen rodeln ging, wenn er sie im Büro spielen ließ, weil Katharina müde war. Einmal, die Zwillinge waren noch klein, kam sie leicht beschwipst aus Arthurs Wohnung zurück, wo sie mit ihm auf einen großen Auftrag angestoßen hatte, und lachte die ganze Zeit. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Lippen glänzten feucht.
Schläft sie mit ihm?, fragte sich Julius damals. Eifersucht schoss heiß in ihm hoch und er begann die beiden zu beobachten und ihnen nachzuspionieren. Er stellte sich vor, wie er sie im Bett überraschte und mit einer Axt auf sie einschlug.
Katharina arbeitete in einer Werbeagentur, die einem Mann gehörte, den er insgeheim Gockel nannte, nicht nur weil seine James-Dean-Frisur von vorne einem Hahnenkamm ähnelte, sondern weil er in seiner Agentur nur junge, hübsche Frauen anstellte, um die er herumstolzierte und mit denen er offen flirtete. Julius konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Leiden konnte er ebenso wenig, dass Katharina sich am Morgen schminkte, das hatte sie früher nie gemacht, dass sie kurze Röcke und Kleider anzog und die gewohnten Jeans und schlabbrigen T-Shirts im Kasten liegen ließ. Zu Hause war sie oft genervt. Julius fühlte sich ungeliebt und zu wenig beachtet.
Eines kam zum anderen. Mit Robert passierte etwas Schreckliches und das machte Julius schwer depressiv. Sein Freund hatte im Skiurlaub in der Schweiz einen schweren Unfall auf der Piste und Sibille rief Julius weinend an, er solle sofort nach St. Moritz kommen, um ihr zu helfen, sie war mit der Situation überfordert. Julius regelte die Verlegung in ein Linzer Krankenhaus und auch alles Weitere. Er war es, der dabei war, als Robert von den Ärzten mitgeteilt wurde, dass die zwei gebrochenen Lendenwirbel schuld daran waren, dass er den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen würde. Er war es, der ihm sagte, dass Sibille ihn verlassen hatte, da sie nicht den Mut dazu hatte, es ihm persönlich zu sagen. Er suchte einen Platz in einer Rehabilitationsklinik für ihn und half ihm danach, seine Wohnung im dritten Stock ohne Lift, die er für Sibille und sich gekauft hatte, zu verkaufen. Er half Robert bei der Suche nach einer kleinen, behindertengerechten Wohnung.
Julius war der Einzige, mit dem Robert Kontakt hielt. Er wurde verbittert, blieb alleine in seiner Wohnung, soff und verwahrloste. Julius vermisste seinen Freund, er vermisste den lustigen, fröhlichen Robert, mit dem er um die Häuser gezogen war.
Jedes Mal, wenn er bei Robert gewesen war und danach zu Hause ankam, umarmte er Katharina und küsste die Kinder, er nahm ihr das Kochen ab und spielte besonders aufmerksam mit den dreien.
Dir geht es gut, dachte er, mein Gott, geht es dir gut.
Er getraute sich Robert nicht mehr zu erzählen, wenn es ihm gut ging, er schämte sich, wenn er sagte: »Ich war mit Katharina in der Stadt essen und danach im Kino.« Oder: »Ich habe endlich diesen Schreibtisch fertig bekommen, er sieht wieder wie neu aus!«
Es war eigenartig, wenn er bei Robert war, erzählte er nur, wie schlecht es ihm ging, obwohl es oft nicht stimmte, aber er fühlte sich dazu verpflichtet. Die schleichende Unzufriedenheit, die er manchmal verspürt hatte, erlangte in den Gesprächen eine Dimension, die er dann zu Hause schwer abschütteln konnte. Oft hatte er bei Robert das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und nahm sich vor, den Kontakt abzubrechen, doch immer, wenn Robert anrief, besuchte er ihn, weil er ansonsten ein schlechtes Gewissen gehabt hätte.
Einmal kam das Thema auf Katharinas Arbeit in der Werbeagentur und Julius erzählte, wie gern sie den Job hatte, wie sie sich zurechtmachte jeden Tag und wie ihm der Chef zuwider war.
Robert horchte auf und sagte: »Ach, sie wird also flügge, deine schöne Frau? Du solltest auf sie aufpassen. Ich kenn den Typen, der vögelt echt jede.«
Bei Julius schien eine Sicherung durchzubrennen.
»Warum hängst du ihr nicht noch ein Kind an?«, fragte Robert, »dann ist sie wieder da, wo sie hingehört, im sicheren Nest.«
»Du spinnst ja«, sagte Julius.
Eines kam zum anderen. Am nächsten Tag sah er Katharina und ihren Chef im einzigen chinesischen Restaurant in der Kleinstadt sitzen, sie aßen gemeinsam zu Mittag. Julius versteckte sich hinter einer Säule und beobachtete die beiden aus der Ferne. Seine Frau lächelte und redete und lachte, dabei schaute sie dem Gockel permanent in die Augen und klimperte mit den Wimpern, kurz legte der Gockel seine Hand auf die ihre.
Am Abend begann der Plan in ihm zu reifen.
Er war erstaunt, wie leicht alles ging. Sie war so naiv, so beeinflussbar, wie Wachs in seinen Händen! Er redete ihr zu, endlich eine Pillenpause zu machen und sie tat es. Als sie bei seiner Geburtstagsfeier stark betrunken war, verführte er sie und ließ das Kondom einfach weg (was ihr in ihrer Trunkenheit nicht auffiel – und was er ihr gegenüber nie zugeben würde). Nachdem sie schwanger geworden war, bearbeitete er sie mit allen Mitteln, damit sie selbst den Wunsch verspürte, das Kind zu behalten. Er spielte den liebevollen Familienvater, der sich wie wahnsinnig auf einen vierten Sprössling freute. Er tat es nicht, alleine der Gedanke an den brüllenden Säugling, der ihn um seinen Schlaf brachte, drehte ihm den Magen um.
Robert war der Einzige, der davon wusste, und Julius erzählte es ihm erst, als sein Plan aufgegangen war: »Katharina ist im vierten Monat schwanger.«
»Was? Ihr bekommt noch eins? Wie viele habt ihr denn schon? Vier oder fünf?«, fragte Robert.
»Wir haben drei und bald kommt Nummer vier. Ich hab deinen Rat befolgt«, sagte Julius.
»Meinen Rat?«, fragte Robert ungläubig.
Plötzlich verstand er, sein Gesicht verzerrte sich und er begann kreischend zu lachen.
»Du bist ein Idiot, nein, genial bist du!«, brüllte er, »wie hast du es geschafft?«
»Es war eine Menge Alkohol im Spiel«, grinste Julius.
»Du bist ein perverses Schwein, Julius Bergmüller«, lachte Robert, »und trotzdem gratulier ich dir!«
Das Kind kam zur Welt, wieder ein Mädchen, Julius war es egal, er verstand sich ohnehin mit seinen Töchtern besser als mit seinem Sohn, besonders mit Victoria, sie war sein Liebling. Katharina ging es nach der Geburt sehr schlecht und Julius hatte einerseits Mitleid mit ihr, andererseits stieß ihn ihr Verhalten ab. In den ersten Wochen lag sie mit fettigen Haaren und ungeduscht im Bett und weinte nur, sie schaffte es gerade, das Baby zu stillen, für mehr brachte sie die Kraft nicht auf.
»Reiß dich doch zusammen!«, schrie er sie an und sie tat es.
Als das Kind vier Monate alt war, traf Katharina in der Kleinstadt auf Robert. Normalerweise kaufte sie immer im kleinen Supermarkt des Ortes ein, an diesem Tag hatte sie spontan beschlossen einen Großeinkauf zu machen. Robert, wie immer stockbesoffen, plauderte natürlich Julius’ Geheimnis aus und dann war die Hölle los.
Er gab es nicht zu, doch Katharina glaubte ihm nicht. Sie war außer sich vor Wut, er hatte sie noch nie so erlebt und noch nie hatte sie so mit ihm geschrien.
»Mach dich nicht lächerlich, du siehst aus wie eine Furie!«, versuchte er das Ganze herunterzuspielen.
»Dann seh ich eben aus wie eine Furie!«, schrie sie, »es ist mir egal! Ich kenne dich gut, Julius, du bist extrem blass im Gesicht und deine Hände zittern, und alleine das sagt mir, dass es die Wahrheit ist!«
Als er am nächsten Tag vor dem Haus Arthur über den Weg lief, sah ihn dieser mit einer derartigen Verachtung an, dass Julius glaubte, ihn auf der Stelle zusammenschlagen zu müssen.
»Hast du wieder mal bei Arthur gepetzt?«, fragte er Katharina in der Küche, sie saß am Tisch und stillte gerade.
»Nein, hat sie nicht«, sagte Arthur scharf, er stand im Türrahmen, »aber eure Schreiduelle waren nicht zu überhören.«
Später, als sie alleine im Stiegenhaus waren, sagte Arthur zu ihm: »Ich trau es dir ohne zu zögern zu, Julius, weißt du das?«
»Natürlich weiß ich das«, höhnte Julius, »du traust mir alles Schlechte auf der Welt zu!«
Arthur betrachtete ihn eine Weile und sagte dann ruhig: »Nein, ich traue dir nicht alles Schlechte auf der Welt zu, aber jetzt hast du einfach Mist gebaut. Deine Beweggründe kann ich mir denken. Geschehen ist geschehen, du kannst es nicht rückgängig machen. Kämpf um sie! Katharina wird sich wieder beruhigen.«
Das Schlimme war, ihre Wut verrauchte nicht, sie blieb. Und sie schaute ihn an mit Augen voller Verachtung. Sie veränderte sich, ignorierte ihn vollkommen und ließ sich nichts mehr sagen, ihre ansonsten weiche Nachgiebigkeit ihm gegenüber war verschwunden. Er hatte ihr früher alles einreden können.
»Ich bin fertig mit dir«, sagte sie zu ihm.
Er spürte, dass er zu weit gegangen war und ihre Liebe verloren hatte, alles kam ihm aussichtslos vor.
Seine Wut projizierte er auf Robert.
Er stellte ihn zur Rede, schrie ihn an, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn heftig: »Was fällt dir ein, du Scheißkerl? Ich hab dir das im Vertrauen erzählt! Du bist mein Freund gewesen, mich siehst du nie mehr!«
Auch Claudia sprach ihn darauf an, als er einmal Leonora bei Doris abholte, wo sie den Nachmittag bei ihrer Freundin Mara verbracht hatte. Sie kam zu ihm ans Auto, er schnallte gerade das Kind an, und schlug dann die Autotür zu. Claudia, in eine Strickjacke gehüllt und die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, stand vor ihm. Sie sah gealtert aus.
»Sag mir, dass das nicht stimmt, was Katharina Doris erzählt hat«, sagte sie.
Er sah sie perplex an.
»Ohhh«, machte er sarkastisch, »hat es die Runde gemacht? Weiß es schon das ganze Dorf? Ihr Frauen seid einfach nur blöde Klatschweiber!«
»Doris ist ihre beste Freundin! Sie muss sich mit jemandem ausreden, soll sie es in sich hineinfressen? Nur sie und ich wissen es, niemand sonst! Es stimmt doch nicht, oder?«, fragte sie ihn und legte ihm die Hand auf seinen Oberarm. Er schüttelte sie gereizt ab.
»Glaubst du es denn?«, fragte er, plötzlich neugierig.
»Ich weiß es nicht. Manchmal ist etwas in dir drin, das du selber nicht verstehst, das glaube ich«, antwortete Claudia.
Julius lachte auf, stieg ins Auto und fuhr davon.
Einen Monat später brachte sich Robert um, er erhängte sich in seinem Schlafzimmer. Ein paar Wochen danach begann Julius seine Arbeit als Pharmareferent. Er machte in Wien eine kurze Einschulung und begann dann seinen Vertreterjob in Vorarlberg und Tirol.
Die meiste Zeit schlief er in Hotels, in Innsbruck, in Bregenz, in Dornbirn oder sonst wo, er fühlte sich wohl, die Berge hatten ihm immer schon gefallen. Er spürte den Rausch der Freiheit, er fühlte sich in den kleinen Zimmern pudelwohl, je unpersönlicher, desto lieber war es ihm.
Stundenlang lag er am Abend vor dem Fernseher und zappte sich durch die sinnlosesten Serien, während er ein Bier nach dem anderen trank. Oder er spazierte durch die Altstadt, setzte sich in eine Bar und beobachtete andere Leute. Am Morgen wurde er nicht durch Babygebrüll oder laute Kinderstimmen geweckt, er konnte sich ausschlafen. Er vermisste nichts.
Er fühlte sich ein bisschen wie Tomas, die Figur in Milan Kunderas »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«, eines der wenigen Bücher, das er in seinem Leben gelesen hatte, und eines von Katharinas Lieblingsbüchern, sie hatte ihm immer wieder ans Herz gelegt, es zu lesen, bis er sich dazu durchgerungen hatte. Das Buch hatte ihm gar nicht so schlecht gefallen.
Der Chirurg Tomas spürt in Zürich, nachdem seine Teresa samt Hund nach Prag zurückgekehrt ist, die süße Leichtigkeit des Seins. Julius fühlte sie in den Bergen. Für Tomas war sie unerträglich geworden, für ihn, Julius, war sie mehr als erträglich, er empfand sie als genial. Er spazierte durch die Stadt und atmete den Duft seiner Freiheit, die Zukunft war wieder ein Geheimnis und er genoss in vollen Zügen das Junggesellenleben. Wegen einer Unachtsamkeit war er zwölf Jahre an Katharina gekettet gewesen, eine Schwangerschaft hatte sie damals aneinander gebunden und eine Schwangerschaft hatte diesen gemeinsamen Weg wieder beendet.
In der Arbeit lief es gut, er hatte von Robert in seiner Zeit als Vertreter genug fachmännische Tipps bekommen, außerdem war er vierunddreißig Jahre alt und kein schüchterner, junger Mann mehr, er wusste, was er wollte. Was seine Ausstrahlung betraf, arbeitete er daran, gleichzeitig solide und charmant auf die Leute zu wirken. Mit einem Kompliment oder einem kleinen Geschenk schmierte er sich den Weg vorbei an wartenden Patienten ins Arztzimmer.
Er lernte Leute kennen und unternahm nach der Arbeit vieles, er war so aktiv wie schon lange nicht mehr. Er begann sich anders zu kleiden, moderner, jugendlicher. Sein neues Leben passte zu ihm.
An den Wochenenden fuhr er heim und das auch nicht immer. Das Familienleben funktionierte blendend ohne ihn, den Familienvater, und das kränkte ihn. In seiner Familie nahm er sich nur noch als Fremdkörper wahr, die Kinder hatten zwar nicht gewusst, worum es in den Streitereien der Eltern ging, sich jedoch automatisch auf die Seite der Mutter geschlagen. Sie redeten kaum mit ihm und schlugen die Augen nieder, wenn er ins Zimmer kam.
Am wenigsten verstand er sich mit Vincent und er hätte nicht sagen können, woran es lag. Daran, dass der Junge ein gottverdammtes Muttersöhnchen war? Sollte sie sich wiederholen, die schwierige Beziehung, die er mit seinem Vater hatte? Der Junge saß nur vor seinem Computer und schaute ihn von unten herauf an, wenn er mit ihm redete, und antwortete kaum auf seine Fragen. Die teigige Gesichtsfarbe, die Geistesabwesenheit, die schlechten Noten, und keine Minute an der frischen Luft!
Ganz anders die älteste Tochter, sie war sein ganzer Stolz, willensstark, ehrgeizig und obendrein noch hübsch. Er war überzeugt davon, dass man im Grunde nur ein Kind richtig lieben konnte. Gerne brachte er ihr Geschenke mit und überreichte sie ihr heimlich im Zimmer, damit die anderen nicht neidisch wurden. Am Abend liebte er es, wenn sie sich neben ihn auf das Sofa setzte, um mit ihm die Nachrichten zu schauen, und ihren Kopf dabei auf seine Schulter legte. Im Laufe der Jahre wuchs sie zu einer Schönheit heran und ihm fiel auf, dass es ihm wichtiger war, ihr zu gefallen als seiner Frau. Ihre bewundernden Blicke bewiesen ihm, dass er immer noch ein attraktiver Mann war, der sich seine Jugendlichkeit und Coolness bewahrt hatte.
Im Frühling 2008 lernte Julius die fünfundzwanzigjährige Margaret kennen, sie arbeitete als Ordinationshilfe bei einem Allgemeinmediziner. Sie war das genaue Gegenteil von seiner Frau, klein, zart und dunkelhaarig, und das gefiel ihm. Ein Jahr lang waren sie – während der Woche – ein Paar, bis er sich von ihr trennte, weil er Simone kennenlernte.
Und dann, eines Tages im März 2012, lernte Julius seine Traumfrau kennen, Stephanie Mangold. Sie kam zur Bergmühle, weil sie Katharina engagieren wollte, irgendeine Biografie über einen entfernten Onkel von ihr zu schreiben, dabei hatte er sich zu den beiden Frauen gesetzt und anschließend die Hausführung gemacht. Die Frau hatte ihm sofort gefallen. Im Flur hatte sie ihm plötzlich eine Visitenkarte in die Hand gedrückt und gesagt: »Rufen Sie mich an.«
Auf der Toilette hatte er die Karte angeschaut und war überrascht zu lesen, dass sie in Innsbruck wohnte. Perfekt, hatte er gedacht und gegrinst, na, wenn das kein Wink des Schicksals ist.
Er rief sie an und sie verabredeten sich für den Abend in einem Restaurant. An der Tür des Restaurants stießen sie versehentlich zusammen.
Sie war zwei Jahre älter als er und sah umwerfend aus, sie haute ihn buchstäblich um. Am nächsten Tag gingen sie gemeinsam Mittag essen, drei Tage später gingen sie gemeinsam ins Bett. Sie war ganz anders als Katharina, flippig, unkonventionell und temperamentvoll, ihr enormes Selbstvertrauen, ihr Auftreten, ihr Stil und ihr Erfolg zogen ihn an. Stephanie besaß eine große moderne Wohnung in Innsbruck, die sie kunstvoll eingerichtet hatte, eine Ferienwohnung am Gardasee und fuhr einen Mercedes. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Einen Geliebten nach dem anderen hatte sie gehabt, oft waren es verheiratete Männer, sie nahm sich einfach, was sie wollte, Julius imponierte das. Er konnte kaum glauben, dass sie sich für ihn, den kleinen Pharmareferenten, interessierte. Aber es war so: Stephanie war verrückt nach ihm.
Und er nach ihr. Noch nie war er in eine Frau so verliebt gewesen. Er fühlte sich bei ihr einfach nur wohl. Stephanie war offen und direkt und wünschte sich dasselbe von ihm, er musste keine Angst haben, dass sie ihn verstummt und mit waidwunden Augen ansah, so wie Katharina es tat, wenn sie eine Auseinandersetzung hatten; wenn ihr etwas nicht passte, konterte sie. Wie er las sie wenig und wenn, dann waren es Fachbücher, sie liebte dieselbe Musik und war wie er ein Nachtmensch. Er begann immer öfter bei ihr zu übernachten.
Von Anfang an fragte sie ihn viel über seine Herkunft aus, sie wollte alles über seine Kindheit, sein Elternhaus, seinen Vater wissen und er erzählte ihr Details, die nicht einmal Katharina wusste. (Diese hatte auch nie so penetrant gebohrt.)
Was sie betraf, fragte er nicht viel, ganz einfach, weil ihn die Vergangenheit eines Menschen (ganz anders als Katharina) nie sonderlich interessiert hatte, ihn interessierte die Gegenwart. Er wusste nur, dass sie in der Nähe von Kitzbühel aufgewachsen war, auf einem großen Landgut, ihr Vater war früh gestorben, ihr Bruder Philipp lebte in Wien und war Neurochirurg. Das reichte ihm.
»Mein Bruder würde übrigens gut zu deiner Frau passen«, sagte sie einmal, »er ist genauso eine Leseratte und trinkt genauso gern süße Weißweine.«
»Oh mein Gott, ist er schwul?«, fragte Julius und sie bekamen beide einen Lachkrampf.
Am Wochenende bei seiner Familie hatte er ein schlechtes Gewissen, was er früher nie gehabt hatte. Es war nämlich das erste Mal, dass er auch am Wochenende intensiv an die Geliebte dachte und dass, wenn Katharina mit ihm schlafen wollte, er sich Stephanies Körper vorstellen musste, um sich überwinden zu können.